Engramme sind durch physiologische Reize verursachte, dauerhafte strukturelle Veränderungen im Gehirn, also vereinfacht gesagt Gedächtnisspuren. Sie bilden eine Grundlage zur Erklärung von Gedächtnisprozessen. Gehen, Lesen, Sehen, also alle alltäglichen Leistungen, die der Mensch nach der Geburt erlernt, sind in Engrammen gespeichert, d.h., alle Reizeinwirkungen hinterlassen eine physiologische Spur im Gehirn. Milliarden von Engrammen bilden in ihrer Gesamtheit schließlich das individuelle Gedächtnis eines Menschen. Im Laufe des Lebens wird eine Vielzahl von Erinnerungen gespeichert, wobei jede Erinnerung eine individuelle Repräsentation im Gehirn aufweist, vergleichbar einem Puzzle, das sich aus vielen Teilen zusammensetzt, in diesem Fall aus dem Muster der Nervenzellen, die Informationen codieren. Um später eine Erinnerung abrufen zu können, müssen ausreichend viele der für ein bestimmtes Muster entscheidenden Neuronen im Gehirn wieder aktiviert werden, damit sich die einzelnen Teile dieses Musters zu einem Ganzen einer Erinnerung zusammenfügen. In der Neurowissenschaft wurde früher vermutet, dass Erinnerungen innerhalb der Engrammzellen gespeichert werden, doch neue Studien zeigen, dass dies eher im Raum zwischen den Zellen als innerhalb der Zellen selbst stattfindet. Diese neuen Erkenntnisse verschieben den Fokus von der isolierten Betrachtung einzelner Zellen hin zum komplexen Zusammenspiel innerhalb des neuronalen Netzwerks, wodurch die Rolle der Engrammzellen neu definiert wird, d. h., es ist nicht das Engramm, das in der Zelle liegt, sondern vielmehr die Zelle, die Teil des Engramms ist.
Richard Semon, ein Schüler Haeckels, führte um 1900 die Idee des „Engramms“ ein – übrigens stammt auch der Begriff „Mneme“ von ihm -, einer physischen Spur eines Gedächtnisses. Während ein Lebewesen lernt, werden Informationen in einem solchen Engramm im Gehirn gespeichert, die später wieder abgerufen werden können. Vandael et al. (2020) fanden jüngst heraus, dass das Kurzzeitgedächtnis durch das Speichern von Neurotransmitter-Vesikel (Abbildung rechts) gebildet werden könnte, sodass diese Vesikel-Pools also jenes postulierte Engramm sein könnten. Man untersuchte dabei einzelne Synapsen im Hippocampus und unter den vielen Synapsen, die sich im Hippocampus mit einer Pyramidenzelle verbinden, wählte man eine aus und zeichnete auf, was passiert, wenn eine Körnerzelle ein Signal an diese Pyramidenzelle sendet. Dabei hatte man gleichzeitig elektrische Signale von einem kleinen präsynaptischen Terminal und seinem postsynaptischen Zielneuron aufgezeichnet. Es zeigte sich, dass das Feuern einer Granularzelle eine Form synaptischer Plastizität induziert, die post-tetanische Potenzierung, die die Kommunikation zwischen Körnerzelle und Pyramidenzelle für mehrere Minuten verstärkt. Der Mechanismus hinter dieser Plastizität war also dabei, dass nach der Aktivität einer Körnerzelle mehr Vesikel mit Neurotransmittern am präsynaptischen Terminal gespeichert sind, d. h., das Feuern induziert Plastizität, indem die Zahl an Vesikel in dieser aktiven Zone zunimmt, und diese Vesikel werden einige Minuten lang gespeichert. Während des Lernens, wenn also die Körnerzelle aktiv ist, werden Vesikel in diesen Pool in der aktiven Zone gedrängt. Wenn die Aktivität nachlässt, bleiben die Vesikel im Pool. Wird die Aktivität wieder aufgenommen, sind bereits mehr Vesikel in der aktiven Zone gespeichert, sodass mehr Neurotransmitter in die Synapse freigesetzt werden kann.
Übrigens ist der Hippocampus die Region im Gehirn, die vor allem jene Nervenzellen enthält, die Menschen bei der Orientierung bzw. Navigation im Raum helfen. Dies führte auch zu dem Spitznamen dieses Bereichs als das GPS des Gehirns. Wenn die höheren Areale der Hirnrinde Informationen an den Hippocampus senden, um Ortungssignale zu erzeugen, enthalten allerdings nicht alle Pakete relevante Informationen, sodass der Hippocampus über einen Mechanismus verfügt, um eingehende Signale zu selektieren. Solcher Türsteher könnten die Körnerzellen sein, ein Typ von Neuronen, die am Eingang des Hippocampusschaltkreises liegen.
Dieses Forschungsergebnis wird übrigens in der Boulevardpresse unter folgendem Titel verbreitet:
Wird das Gedächtnis in Mikro-Bläschen gespeichert?
Bisher sind die molekularen Mechanismen, die diese Stabilisierung der Engramme in den Neuronen während der Konsolidierung vorantreiben und damit die Möglichkeit ihrer Reaktivierung durch Gedächtnisabruf sicherstellen, aber noch nicht vollständig erforscht. Gulmez et al. (2020) haben bei Mäusen in einer Studie während der Gedächtniskonsolidierung den Level der De-novo-DNA-Methyltransferase 3a2 (Dnmt3a2) selektiv innerhalb der Gyrus dentatus-Neuronen manipuliert, die während einer Angstkonditionierung aktiviert werden. Sie fanden heraus, dass eine künstliche Dnmt3a2-Hochregulierung die Gedächtnisleistung von Mäusen steigert und die Qualität der Rekonstitution des ursprünglichen neuronalen Ensembles bei der Gedächtnisabfrage deutlich verbessert. Dabei ist das dafür verantwortliche Protein Dnmt3a2 ein epigenetischer Faktor, der das Erbgut chemisch modifiziert und damit auf Erinnerungsprozesse Einfluss nimmt. Schon eine geringe Steigerung führte bei den Tieren zu einer verbesserten Gedächtnisleistung, indem die für die Erinnerung entscheidenden Neuronen stärker reaktiviert wurden, sodass man experimentell diese Reaktivierung der Angst sogar präzise modulieren konnte.
Es gibt seit kurzem eindeutige Hinweise darauf, dass zumindest einige Formen des Gedächtnisses in Engrammen gespeichert werden, d. h., in langanhaltende Veränderungen der neuronalen Struktur und der Konnektivität zwischen Nervenzellen in bestimmten Hirnregionen. Nun konnte man am Mausmodell zeigen, dass Zellen, die durch Erfahrungen wie beispielsweise Angst deutlich aktiviert werden, diese Informationen in Engrammen abspeichern und stabile Erinnerungen bilden. Die experimentelle Inaktivierung solcher Neuronen, die Teil des Engramms sind, veränderte das Angstgedächtnis von Mäusen und lieferte damit den Beweis, dass die Kodierung von Erinnerungen in Engrammen bei bestimmten Formen des Lernens und des Gedächtnisses eine entscheidende Rolle spielt (Stangl, 2023).
Da diese Engramme ständigen Veränderungsprozessen unterworfen sind, kommt es in jedem Augen des Lebens zu einer Umprogrammierung bzw. Neubildung von Engrammen. Eine Veränderung des Gedächtnisses ist demnach eine Verinnerlichung von Lernprozessen, wobei ein Reiz und der entsprechende Sinn, der ihn aus der Peripherie aufnimmt und in einen biophysikalischen Reiz umwandelt, für die Verarbeitung im Hirn sorgt. Wenn die Engrammierung stabil und die alten Strukturen ersetzt bzw. ergänzt hat, spricht man von einem Lernerfolg. Donald Hebb etwa geht davon aus, dass sich vor allem die Synapsen durch häufige Verwendung bzw. Nichtverwendung verändern, wobei sie verschwinden, sich vermehren oder komplett neu gebildet werden. Auf diese Art entstehen Gedächtnisspuren und Reiz- bzw. Erlebniseindrücke, die zu einem späteren Zeitpunkt wieder abgerufen werden können.
Logischerweise tritt Vergessen auf, wenn eine Engram-Zelle nicht reaktiviert werden kann, doch es wird auf Grund jüngster Forschungen am Mausmodell jedoch immer deutlicher, dass solche Erinnerungen noch vorhanden sind, aber die spezifischen Ensembles nicht aktiviert werden können und somit die Erinnerung nicht mehr abgerufen werden kann. Es ist, als wären die Erinnerungen in einem Tresor gespeichert, aber man erinnert sich nicht mehr an den Code zum Öffnen. Mit Hilfe der Optogenetik konnte man bei Mäusen feststellen, dass eine Stimulation der kontextspezifischen Gehirnzellen mit Licht scheinbar verlorene Erinnerungen wiederherstellen kann; zudem konnten bei den Tieren die verlorenen Engramme, wenn ihnen neue Erfahrungen präsentiert wurden und die mit den vergessenen Erinnerungen in Zusammenhang standen, natürlich wiederbelebt werden. Offenbar besteht im Gehirn zwischen einzelnen Erinnerungen auch eine Art von Konkurrenz, die dazu führt, dass manche Daten aus dem Gedächtnis gelöscht werden. Dieser Wettbewerb zwischen Engrammen beeinflusst zusätzlich das Abrufen und die vergessene Erinnerungsspur können sowohl durch natürliche als auch künstliche Hinweise reaktiviert und mit neuen Informationen aktualisiert werden. Offenbar führt der ständige Fluss von Umweltveränderungen immer zur Kodierung mehrerer Engramme, die um ihre Konsolidierung und Expression konkurrieren (Autore et al., 2023).
Engramme als raum-zeitliche Aktivierungsmuster
Seit einiger Zeit versucht man neurologische Modelle in digitalen Speichersystemen abzubilden, um so deren Funktionsweise zu verstehen. Klampfl & Maass (2013) ist es gelungen, in Computermodellen von neuronalen Schaltkreisen Erinnerungsspuren, wie sie auch im Gehirn durch raum-zeitliche Aktivierungsmuster entstehen, zu erzeugen. Bekanntlich hinterlassen Erlebnisse eine Art Spur in Form von raum-zeitlichen Aktivierungsmustern in den neuronalen Netzwerken, wobei raum-zeitlich bedeutet, dass man sich die Erinnerungsspur als Prozess mit zeitlichem Verlauf vorstellen muss, denn bisher hat man meist angenommen, eine Gedächtnisspur wäre ähnlich einem Foto als ein statischer Eintrag im Gehirn abgebildet. So haben bisher Forschungen im Bereich der Neuropsychologie vorwiegend mit statischen Modellen neuronaler Netzwerke gearbeitet. Klampfe & Maass (2013) konnten erstmals unter der Annahme der Erinnerungsspuren als zeitliche Prozesse auch in Computermodellen ein derartiges Aktivierungsmuster in simulierten neuronalen Schaltkreisen erzeugen. Erinnerungsspuren sind dabei eine Abfolge von neuronalem Feuern, die in den Synapsen als Muster gespeichert und bei ähnlichen Aktivierungen der Neuronen wieder hervorgerufen werden. Unter den einzelnen Nervenzellen im Gehirn herrscht dabei eine Art Wettbewerb, denn das jeweils aktivierte Neuron unterdrückt die Aktivität anderer Neuronen in der unmittelbaren Umgebung, um ungesteuerte neuronale Feuerwerke zu verhindern, die das Gehirn nicht mehr verarbeiten könnte. Diese Erinnerungsspuren kommen ebenfalls dank des Verdrängungswettbewerbes unter den Neuronen zustande, der dazu führt, dass nur die beste zum Erlebnis passende Aktivierungsmuster der Neuronen in den Synapsen eingraviert wird.
Bei der Meeresschnecke Aplysia californica initiierte man durch Elektroschocks wiederholt eine Kontraktionsstarre in den Tieren, die sie auch noch am Folgetag lediglich auf reine Berührung hin einnahmen. Nochmals einen Tag später isolierten man die RNA aus dem Nervensystem dieser Schnecken und injizierten diese in anderen Tieren, die niemals Elektroschocks erhalten hatten. Doch auch bei diesen löste Berührung die Kontraktionsstarre aus, was bedeuten könnte, dass mit der RNA Erinnerung und Sensibilisierung mit übertragen wurden.
Möglicherweise ist diese Verdrängung bzw. Unterdrückung der benachbarten Neuronen eine der Ursachen für das Phänomen des „Wortes auf der Zunge„, denn hier finden sich Blockaden ähnlicher Muster wie das gesuchte, die vermutlich in unmittelbarer Nähe im Gehirn abgespeichert sind. Vermutlich baut die Gedächtnisbildung auf räumlicher Verarbeitung auf, sodass Erinnerungen so etwas wie einen internalisierter Raum darstellen, bei denen der Hippocampus seine Raumrepräsentation dem Gehirn auch für alle möglichen anderen Denkprozesse zur Verfügung stellt, um etwa die soziale Umwelt räumlich zu konstruieren. Schon Kant glaubte übrigens, dass der Raum eine notwendige a priori Vorstellung der Wahrnehmung und des Denkens sei, die allen Anschauungen zugrunde liegt, wobei die Raumvorstellung vermutlich auch kulturabhängig ist und sich auch auf andere Lebensbereiche überträgt, die nicht unmittelbar räumlich sind. So bestimmen räumliche Metaphern einen großen Teil des menschlichen Wahrnehmens und Denkens, denn Töne sind entweder höher oder tiefer, im Farbraum liegen Farben näher oder weiter auseinander, aber auch zu Gefühlen suchen Menschen Abstand zu gewinnen oder versuchen, über ihnen zu stehen.
Einige Definitionen
Von grch. En „hinein“ und gramma „Inschrift“, ist eine allgemeine Bezeichnung für deine physiologische Spur, die eine Reizeinwirkung als dauernde strukturelle Änderung im Gehirn hinterlässt. Die Gesamtheit aller Engramme ergibt das Gedächtnis. Es sind Milliarden von Engrammen, welche das Gedächtnis bilden (vgl. Köck & Ott 1994, S. 598).
„[gr. Gedächtnisspur, Neurogramm], die von einem Spezifischen Gedächtnisinhalt (Information) hervorgerufene, dauernde, strukturelle bzw. elektrochemische, physiologische Änderung im Gehirn. Engramm gilt heute als allgemeiner Begriff für die Kodierung und Speicherung der im Laufe des Lebens erworbenen Erfahrungen in den Neuronen des Gehirns. Die Summe der gespeicherten Engramme einer Person gilt als das biologische Substrat des menschlichen Gedächtnisses und ist die Basis der spezifischen menschlichen Einzigartigkeit. Ein Engramm bezeichnet zugleich auch alle einem spezifischen Gedächtnisinhalt (die Erinnerung an eine Situation) zugrundeliegenden elektrochemischen Vorgänge (Kurzzeitgedächtnis) oder biochemischen Veränderungen im ZNS“ (Häcker & Stapf 1998, S. 223).
Engramm (Gedächtnisspur): Bezeichnung für einen unbewussten, durch Reize in einen Organismus eingeschriebenen Gedächtnisinhalt. Die Gesamtheit der Engramme bezeichnet man als Mneme (vgl. Hillig 1996, S. 93).
„Zusätzlich zur Kodierung genetischer Information in der dann eines jeden Zellkernes hat die Natur eine zweite Art der Kodierung von Informationen entwickelt. Im Laufe eines Lebens erworbene Erfahrung ist in den Neuronen des Gehirns enkodiert. Der allgemeine Begriff für diese Kodierung erworbener Information im Gehirn lautet Engramm oder Gedächtnisspur. Die Summe der gespeicherten Engramme einer Person ist das biologische Substrat des menschlichen Gedächtnisses und die Basis der spezifischen menschlichen Einzigartigkeit“ (Hoppe-Graf & Keller 1992, S. 298).
„Die Vertreter der sog. Spurenzerfallstheorie sind der Ansicht, dass das Erlernte im Gedächtnis eine „Spur“ oder einen „Eindruck“ – Engramm – hinterlässt. Wenn wir das Gelernte nicht benutzen, dann zerfällt diese Spur im Verlauf der Zeit. Wie sicher der Kondensstreifen eines Flugzeuges am Himmel nach einiger Zeit auflöst, zerfällt auch das Wissen, das wir uns erworben haben, oder es bleicht aus, wie ein aufgemalter Reklamespruch an einer Hausfassade. Analog kann man einen derartigen Zerfall unseres Wissens durch eine wiederholte Auffrischung verhindert und damit die Gedächtnisspur erhalten“ (Angermeier, Brengelmann & Thiekötter 1983, S. 261).
Literatur
Angermeier, W.F., Brengelmann, J. C. & Thiekötter Th. J. (1983). Psychologie, 4. Auflage, Berlin: Springer-Verlag.
Autore, L., O’Leary, J. D., Ortega-de San, Luis C. & Ryan, T. J. (2023). Adaptive expression of engrams by retroactive interference. Cell Report, doi:j.celrep.2023.112999.
Gulmez Karaca, Kubra, Kupke, Janina, Brito, David V. C., Zeuch, Benjamin, Thome, Christian, Weichenhan, Dieter, Lutsik, Pavlo, Plass, Christoph & Oliveira, Ana M. M. (2020). Neuronal ensemble-specific DNA methylation strengthens engram stability. Nature Communications, 11, doi:10.1038/s41467-020-14498-4.
Häcker, H. & Stampf, K. (1998). Dorsch Psychologisches Wörterbuch. Bern: Verlag Hans-Huber.
Hillig, A. (1996). Die Psychologie. Ein Sachlexikon für die Schule. Mannheim; Leipzig; Wien; Zürich: Dudenverlag.
Hoppe-Graff, S. & Keller, B (1992). Psychologie, 5. Auflage, Berlin: Springer-Verlag.
Klampfl, S. & Maass, W. (2013). Emergence of dynamic memory traces in cortical microcircuit models through STDP. The Journal of Neuroscience, 33, 11515-11529.
Köck, P. & Ott, H. (1994). Wörterbuch für Erziehung und Unterricht. Donauwörth: Verlag Ludwig Auer.
Stangl, W. (2023, 19. September). Engramme als Basis des Gedächtnisses.
https:// psychologie-news.stangl.eu/4711/engramme-als-basis-des-gedaechtnisses.
http://www.biologische-psychologie.de/entries/935 (11-12-12)
Vandael, David, Borges-Merjane, Carolina, Zhang, Xiaomin & Jonas, Peter (2020). Short-Term Plasticity at Hippocampal Mossy Fiber Synapses Is Induced by Natural Activity Patterns and Associated with Vesicle Pool Engram Formation. Neuron, 107, 1–13.
Bildquelle: Jonas Group vom IST Austria