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Tagtraum

    They who dream by day are cognizant of many things which escape those who dream only by night.
    Edgar Allan Poe zugeschrieben

    Tagträume sind wichtig.
    Was man sich nicht vorstellen kann,
    kann man nicht tun.
    George Lucas

    Psychologen sprechen bei Tagträumen (mind wandering) eher von aufgabenunabhängigem Denken (task-unrelated thought), denn man denkt dabei ohne Zweck in einem Zustand der Ruhe, d. h., man will nichts, strebt nach nichts, freut sich auf nichts, fürchtet nichts, ist von keinem Bedürfnis getrieben. Dabei klingen Stressreaktionen, die oft mit zielgerichtetem Denken verbunden sind, ab. Erforscht wurde dieses Phänomen mit einer Technik des Gedankensammelns (thought sampling), wobei Probanden mit Funkempfängern ausgestattet wurden, die zu verschiedenen Zeiten angepiepst und gefragt wurden, was ihnen gerade durch den Kopf geht. Dabei zeigte sich, dass Menschen sich in so gut wie allen erdenklichen Situationen mentale Auszeiten nehmen und ins Tagträumen abgleiten. Man hat dabei auch festgestellt, dass Menschen zehn bis zwanzig Prozent ihrer Zeit mit diesem aufgabenunabhängigem Denken verbringen, wobei meist die Aufmerksamkeit von irgendeiner Beschäftigung wie etwa Zeitunglesen, Briefschreiben oder einem anderen Menschen zuzuhören, in die Ferne schweift.

    Tagträume sind meist bildhafte, mit Träumen vergleichbare Phantasievorstellungen und Imaginationen, die von Menschen im wachen Bewusstseinszustand erlebt werden. Solche Szenen können im Gegensatz zum gewöhnlichen Traumgeschehen entweder willentlich gesteuert und bewusst herbeigeführt werden oder sich durch Unaufmerksamkeit und Nachlassen der Konzentration von selbst einstellen. In einem solchen Fall entfernt sich die Aufmerksamkeit von den äußeren Reizen der Umwelt, von Einflüssen und Aufgaben und wendet sich der inneren Welt zu. Zum Beispiel schweift beim Lesen der Blick von der Buchseite ab und man schaut zum Fenster hinaus, die Gedanken sind bei einer abendlichen Verabredung oder bei einer bevorstehenden Prüfung. Besonders Kinder neigen dazu, sich in  imaginäre Welten zu begeben, um manchmal vor Problemen zu fliehen.

    TagtraumBei Untersuchungen an Menschen, die im Versuch einfach dazuliegen und nichts zu tun hatten, zeigte sich, dass das Gehirn in solchen Ruhephasen keineswegs abschaltet, vielmehr wird ein weitverzweigtes Basisnetzwerk (default network) aktiv, in welchem das Gehirn die freie Zeit benutzt, um über Vergangenes und Zukünftiges nachzudenken, um zu planen oder Bilanz zu ziehen. Offensichtlich hat das selbstreferenzielle Basisnetzwerk des Gehirns, das sich in Ruhepausen immer wieder einschaltet und Menschen zum Grübeln veranlasst, eine wichtige Funktion. Es ist übrigens bekannt, dass Menschen in ihren nächtlichen Träumen aber auch in Tagträumen manchmal äußerst skurrile Dinge beschwören, und man weiß auch, dass Menschen in ihrer Freizeit gerne Fantasien nachhängen, die einen durchaus irrealen Charakter besitzen, woraus sich bei manchen Menschen auch eine Vorliebe für phantastische Filminhalte wie Horrotfilme oder Science Fiction ergibt. Man kann sich daher die Frage stellen, welche Bedeutung bzw. welchen evolutionären Zweck solche skurrilen Trauminhalte haben könnten. Und das alles auf dem Hintergrund, dass solches Träumen den Organismus viel Zeit und Energie kostet. Man kann daher vermuten, dass eine Funktion solcher Träume darin liegt, das Denken im Wachzustand auf potentielle Abweichungen vom Normalen vorzubereiten und so zu verhindern, dass das menschliche Gehirn zu sehr in Routinen und dem Erwartbaren erstarrt.

    Farrell et al. (2024) haben am Mausmodell untersucht, wie das Gehirn Menschen beim Tagträumen in die Realität zurückholt. Ähnlich wie beim Träumen werden dabei vergangene Ereignisse noch einmal durchlebt, indem das Gehirn die Szenen vor dem inneren Auge abspielt. Dabei erzeugen Neuronen im Hippocampus Sharp-Wave-Ripples, bis zu 200 Millisekunden dauernde synchrone Nervensignale, die die Gedanken mit den Erinnerungen verknüpfen. Bei diesem Phänomen feuern Nervenzellen in einem Teil des Hippocampus, dem Gyrus dentatus, synchrone Signale ab, die etwa 50 Millisekunden dauern. Aus früheren Studien ist bekannt, dass der Gyrus dentatus als Eingang zum Gedächtniszentrum und als Türsteher für eingehende Informationen fungiert. Offensichtlich wirken die Signale des Gyrus dentatus auch beim Tagträumen wie eine Art Wecker, der das Tagträumen unterbricht und dem Menschen hilft, die Welt um sich herum wieder aufmerksam wahrzunehmen.

    Das Thema verführte übrigens die Neue Zürcher Zeitung zu der Schlagzeile

    «Tagträumen im Büro ist wichtig»


    Tagträumen müssen daher nicht zwangsläufig etwas Störendes sein, denn Studien haben gezeigt, dass absichtliche Tagträume manchen Menschen dabei helfen können, ihre Gedanken zu ordnen. Golchert et al. (2017) haben dabei herausgefunden, dass sich dieser Effekt gedanklicher Auszeiten im Gehirn nachweisen lässt. Man befragte Probanden zu ihrem tagträumerischen Verhalten, wobei diese selbst einschätzen sollten, wie stark und wie häufig sie Tagträumen nachhängen. Die Magnetresonanztomographie zeigte dann, dass bei Menschen, die häufig bewusst mit ihren Gedanken abschweifen, der Cortex in bestimmten Aralen im Stirnbereich des Gehirns stärker ausgebildet ist. Auch war bei diesen Probanden die Verbindung zwischen dem Default-Mode Netzwerk, das aktiv ist, wenn sich die Aufmerksamkeit nach innen bzw. auf Informationen aus dem Gedächtnis richten, und dem fronto-parietale Kontrollnetzwerk, das als Teil des kognitiven Kontrollsystems den Fokus stabilisiert und irrelevante Reize hemmt, besonders stark ausgeprägt. Offensichtlich macht diese stärkere Verknüpfung das Tagträumen zu einem sinnvollen Prozess, denn durch die starke Vernetzung kann das Kontrollnetzwerk stärker auf frei flottierende Gedanken einwirken und diesen so eine stabile Richtung geben. Das zeigt auch, dass die kognitive Kontrolle im Fall von gezieltem Tagträumens keineswegs aussetzt. Das menschliche Gehirn scheint dabei auch keinen wesentlichen Unterschied dabei zu machen, ob die Aufmerksamkeit nach außen auf unsere Umgebung oder nach innen auf die eigenen Gedanken gerichtet ist, denn in beiden Fällen ist das Kontrollnetzwerk eingebunden. Menschen können daher beim Tagträumen konzentriert über zukünftige Ereignisse nachdenken oder sogar wichtige Probleme lösen.

    Menschen unterschätzen die Bedeutung des Tagträumens

    Das Umherschweifen der Gedanken und das Tagträumen ist mehr als nur eine Ablenkung und kann Menschen helfen, sich auf die Zukunft vorzubereiten. Als der Psychologe Jonathan Smallwood (2015) begann, das Umherschweifen der Gedanken zu erforschen, erntete er bei Fachkollegen viele Zweifel, denn wie sollte man diese spontanen und unvorhersehbaren Gedanken erforschen, die auftauchen, wenn man aufhört, auf seine Umgebung und die anstehende Aufgabe zu achten? Vor allem aber Gedanken, die nicht mit einem messbaren äußeren Verhalten in Verbindung gebracht werden konnten? Als Hilfsmittel zur Untersuchung diente ihm eine geradezu langweilige Computeraufgabe, die die Art von Aufmerksamkeitsschwäche reproduzieren sollte, die Menschen dazu veranlasst, jemandem Milch in die Tasse zu schütten, wenn er um schwarzen Kaffee gebeten hat. Zunächst stellte er den Studienteilnehmern ein paar grundlegende Fragen, um herauszufinden, wann und warum die Gedanken abschweifen und zu welchen Themen sie tendieren. Nach einer Weile begann er, auch die Gehirne der Teilnehmer zu scannen, um einen Eindruck davon zu bekommen, was während des Umherschweifens der Gedanken in ihnen vor sich ging. Er fand dabei heraus, dass vor allem unglückliche Gemüter dazu neigen, in der Vergangenheit zu wandern, während glückliche Gemüter oft über die Zukunft nachdenken. Er ist auch davon überzeugt, dass das Umherschweifen in seinen Erinnerungen entscheidend dazu beiträgt, sich auf das vorzubereiten, was noch kommen wird. Obwohl einige Arten des Umherschweifens der Gedanken wie etwa das Grübeln über Probleme, die nicht gelöst werden können, mit Depressionen in Verbindung gebracht werden, ist das Umherschweifen der Gedanken selten Zeitverschwendung, denn es ist lediglich der Versuch der Gehirns, etwas zu erledigen, wenn es den Eindruck hat, dass sonst nicht viel los ist. Literatur

    Hatano et al. (2022) haben jüngst in sechs Experimenten die Hypothese überprüft, dass Menschen ihre Fähigkeit, diesen Prozess des Nur-Denkens zu genießen, metakognitiv unterschätzen. Die Probanden wurden dabei gebeten, in einem ruhigen Raum zu sitzen und zu warten, ohne etwas zu tun. Es zeigte sich, dass die vorhergesagte Freude und das Engagement der Teilnehmer an der Warteaufgabe deutlich geringer waren als das, was sie dann tatsächlich erlebten. Diese Unterschätzung des reinen Denkens führte auch dazu, dass die Teilnehmer die Warteaufgabe zugunsten einer alternativen Aufgabe – etwa das Abrufen von Internetnachrichten – proaktiv vermieden, obwohl sich ihre Erfahrungen statistisch nicht unterschieden. Diese Ergebnisse deuten auf eine inhärente Schwierigkeit hin, den Wert des Nachdenkens richtig einzuschätzen, was erklären könnte, warum die Menschen es vorziehen, sich zu beschäftigen, anstatt sich im Alltag einen Moment der Reflexion und Fantasie zu nehmen. Man weiß aber auch anderen Untersuchungen, dass Tagträumen und sich mit dem eigenen Denken zu beschäftigen, dabei etwa helfen kann, Probleme zu lösen und die Kreativität zu fördern. Allerdings neigen manche Menschen zu negativen Gedankenschleifen, für die ein solches Schweifen lassen der Gedanken eine Belastung wäre.


    Übrigens werden manche Absence-Epilepsien bei Kindern zwischen vier und zwölf Jahren oft mit Tagträumen verwechselt. Diese Anfälle gehen mit einer veränderten Gehirnaktivität einher, sogenannten Spike-and-Wave-Discharges. Dieses charakteristische Aktivitätsmuster hat seinen Ursprung in der rhythmischen und synchronisierten Aktivität der Nervenzellen in der Großhirnrinde und im Thalamus. Da die tief im Kleinhirn liegenden Kerne weitreichende Verbindungen zu verschiedensten Hirnregionen haben, gibt es übrigens die Idee, Anfälle mit einer Stimulation der Kleinhirnkerne behandeln zu können (Schwitalla et al., 2022).


    Für Sigmund Freud waren Tagträume Vorstufen hysterischer Symptome und warnte vor Neurosen, die durch zu viel Träumerei entstehen können. Psychologisch betrachtet handelt es sich bei Tagträumen oft um eine Flucht des Gehirns vor der Realität, d.h., wenn die äußere Welt bei einer meist monotonen Tätigkeit dem Gehirn nicht allzu viel abverlangt, werden Kapazitäten frei. Studien haben gezeigt, dass Menschen mit einem leistungsfähigen Arbeitsgedächtnis oft Kapazitäten für andere Dinge frei haben. Offensichtlich sind Tagträumen und Aufmerksamkeit nicht notwendigerweise zwei strikt voneinander getrennte Zustände des Gehirns, sondern können durchaus parallel auftreten. Tagträume kreisen inhaltlich häufig um praktische Angelegenheiten, die zukünftig zu erledigen sind, und zwischenmenschliche Fragestellungen. Zwar sind Tagträume weniger intensiv als Träume der Nacht, aber Menschen unterscheiden sich in Ausmaß und der Intensität des Tagträumens.


    Praktisches: Aus der Sicht der Psychologie ist Tagträumen eine gute Möglichkeit, neue Perspektiven und Ausblicke auf sein eigenes Leben zu gewinnen. Allerdings ist es nicht so einfach, sich auf Knopfdruck in Tagträumen zu verlieren. In Experimenten fand man heraus, dass viele Menschen auf die Aufforderung, an Ereignisse zu denken, die ihnen Freude machen, meist sehr oberflächliche Aktivitäten wählen, und auf die Aufforderung, an etwas Bedeutsames zu denken, kommen ihnen meist Problem in den Sinn. Für das Tagträumen sollte man aber Themen wählen, die positiv und bedeutsam sind. Daher versuchen Erwachsene zu vermeiden, sich in den eigenen Gedanken zu verlieren, und lenken sich mit Nebensächlichem ab. Die eigenen Gedanken zu genießen, müssen Menschen daher erst üben, und zwar am besten dann, wenn ihr Gehirn gerade mit wenig anderem beschäftigt ist, etwa bei einem Spaziergang.


    Kurioses: Tagträum-Wettbewerb in Südkorea

    Relax your brain! Entspann Dein Gehirn und denk einfach einmal an nichts! So lautete das Motto eines Wettbewerbs in Südkorea,, bei dem mehr als 1500 Teilnehmer sich online beworben hatten,  von denen etwa 60 schließlich in Seoul noch antreten. Sie verbringen in einem Park anderthalb Stunden damit, nicht zu sprechen, zu schlafen, zu essen oder irgendein elektronisches Gerät zu benutzen oder zu viel herumlaufen. Wer dabei die stabilste Herzfrequenz aufweist, gewinnt. Das war in diesem Jahr der Rapper Shin Hyo Seob alias Crush, der das für einen wirklich guten Wettbewerb hält. „Ich möchte das Leuten empfehlen, die Migräne haben und immerzu grübeln. Ich verbringe normalerweise viel Zeit mit Tagträumen.“ Künstler hatten den Wettkampf 2014 als Satire auf das von Facebook, Handy, soziale Medien und Stress geprägte Leben initiiert.

    Siehe dazu Wachtraum und Stand-by für das Gehirn: Tagträume

    Literatur

    Farrell, Jordan S., Hwaun, Ernie, Dudok, Barna & Soltesz, Ivan (2024). Neural and behavioural state switching during hippocampal dentate spikes. Nature, doi:10.1038/s41586-024-07192-8.
    Golchert, J., Smallwood, J., Jefferies, E.,  Seli, P., Huntenburg, J. M., Liem, F., Lauckner, M. E. , Oligschläger, S., Bernhardt, B. C.  &  Villringer, A. (2017). Individual variation in intentionality in the mind-wandering state is reflected in the integration of the default-mode, fronto-parietal, and limbic networks. NeuroImage, 146, 226–235.
    Hatano, A., Ogulmus, C., Shigemasu, H. & Murayama, K. (2022). Thinking about thinking: People underestimate how enjoyable and engaging just waiting is. Journal of Experimental Psychology: General, doi:10.1037/xge0001255.
    Schwitalla, Jan Claudius, Pakusch, Johanna, Mücher, Brix, Brückner, Alexander, Depke, Dominic Alexej, Fenzl, Thomas, De Zeeuw, Chris I., Kros, Lieke, Hoebeek, Freek E. & Mark, Melanie D. (2022). Controlling absence seizures from the cerebellar nuclei via activation of the Gq signaling pathway. Cellular and Molecular Life Sciences, 79, doi:10.1007/s00018-022-04221-5.
    Smallwood, Jonathan & Schooler, Jonathan W. (2015). The Science of Mind Wandering: Empirically Navigating the Stream of Consciousness. Annual Review of Psychology, 66, 487-518.
    Stangl, W. (2011, 26. Februar). Die Wissenschaft vom wandernden Geist. Psychologie-News.
    https:// psychologie-news.stangl.eu/4424/die-wissenschaft-vom-wandernden-geist.
    Stangl, W. (2017). Stand-by für das Gehirn: Tagträume. Werner Stangls Psychologie News.
    WWW: http://psychologie-news.stangl.eu/142/stand-by-fuer-das-gehirn-tagtraeume (17-02-02)
    Stangl, W. (2022, 29. Juli). Der Wert des Tagträumens wird unterschätzt. Psychologie-News.
    https:// psychologie-news.stangl.eu/4271/der-wert-des-tagtraeumens-wird-unterschaetzt.
    Stangl, W. (2024, 25. März). Wie man aus dem Tagträumen wieder in die Realität zurückfindet. Psychologie-News.
    https:// psychologie-news.stangl.eu/5138/wie-man-aus-dem-tagtraeumen-wieder-in-die-realitaet-zurueckfindet.
    http://de.wikipedia.org/wiki/Tagtraum (12-01-21)
    http://video.tagesspiegel.de/tagtraum-wettbewerb-in-sudkora.html (16-05-22)


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