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Verdrängung

    Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis.
    Das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich.
    Endlich gibt das Gedächtnis nach.
    Friedrich Nietzsche

    Nur weil jemand eine schlimme Kindheit und Jugend hatte, muss es ihm nicht noch ein zweites Mal schlecht gehen. Wenn man das gut verdrängt hat, kann es da auch bleiben.
    Jan Kalbitzer, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie

    In der psychoanalytischen Theorie gilt Verdrängung als wichtigster Abwehrmechanismus, mit dessen Hilfe Gedanken, Gefühle und Erinnerungen, die Angst auslösen, aus dem Bewusstsein gedrängt werden, wobei alle anderen Formen der Abwehr  mehr oder minder auf diesem Mechanismus beruhen. In Freuds Verständnis ermöglicht die Verdrängung, unangenehme oder schmerzliche Erfahrungen ins Unbewusste zu verschieben, so dass man sich nicht mehr mit ihnen beschäftigen muss. Somit ist die Verdrängung ein grundlegender psychischer Schutzmechanismus, der Menschen das seelische Überleben ermöglicht, indem er bedrohliche oder tabuisierte Vorstellungen aus dem Bewusstsein fernhält.

    Bei einer Verdrängung handelt es sich also um die unbewusste Unterdrückung eines Triebbedürfnisses (z. B. Sexualtrieb, Aggressionstrieb) oder eines irgendwie belastenden Impulses aus dem Es (z. B. Minderwertigkeits-, Schuld-, Scham- oder Angstgefühle). Eine Verdrängung steht folglich im Gegensatz zu einem entschlossenen, bewussten Triebverzicht und ermöglicht dadurch das Ausweichen vor einer bewussten Entscheidung.

    Beispiel: Ein junger Mann, der kurz vor der Heirat steht, befreundet sich mit einem andern Burschen, der in ihm homoerotische Impulse auslöst. In der Regel wird ein solcher Impuls schon im Ansatz wieder zurückgewiesen, kommt also dem betroffenen Menschen gar nicht zum Bewusstsein. Würde er nämlich den homoerotischen Impuls in voller Stärke bewusst erleben, so löste er in dieser Situation große Ängste aus. Der Mann in unserem Beispiel geht folglich ruhig seines Weges und heiratet, unbehelligt von Ängsten und Zweifeln. So sehr man es ihm gönnen mag, kann man sich doch der Erkenntnis nicht entziehen, dass seine von keinerlei Zweifeln begleiteten Handlungen auf einer Selbsttäuschung beruhen.

    Das Konzept der Verdrängung ist übrigens eines der wenigen Theorien Freuds, die Wissenschaftler später auf empirischer Basis überprüft haben und bestätigen konnten.


    1. Definition
    „Abschiebung seel. Inhalte (nach S. Freud bes. von Triebwünschen) ins Unbewußte (sic!), um deren Forderungen auszuweichen. Als unbewältigte Kräfte wirken sie unkontrolliert weiter und beeinflussen störend den Gesamtablauf seel. Geschehens; […]“ (o.A., 1968, S. 372).

    2. Definition

    „Verdrängung […], in der Psychoanalyse Bezeichnung für eine als neurotisch gewertete Form der psychischen Abwehr. Sie besteht darin, einen als […] Konflikt zwischen den Ansprüchen antagonistischer Triebe (z. B. Libido und Aggression) oder zwischen Es und Über-Ich ins Unterbewußtsein (sic!) zu verschieben bzw. ihn in Fällen, in denen der Konflikt selbst unbewußt (sic!) ist, am Eintritt in das Bewußtsein (sic!) zu hindern. V. ist somit ein motiviertes Vergessen. Motiviert wird es unter anderem durch Angst, die jene Konflikte hervorrufen. V. läßt (sic!) sich als der […] Versuch der Angst- und Konfliktabwehr zum Zwecke der Erhaltung […] psychischen Gleichgewichts […]verstehen. […]“ (Wimmer, 1996, S. 504).

    3. Definition
    „ein zentraler Begriff aus der PSYCHOANALYSE, der eng mit dem Begriff des UNBEWUSSTEN zusammenhängt. Nach Freud werden Triebrepräsentationen während der kindlichen Entwicklung ins Unbewußte (sic!) verdrängt. Das Verdrängte wirkt jedoch weiter auf das Verhalten, ohne dabei als Verhaltensmotiv erkannt zu werden. […]“ (Ulfig, 1993, S. 454).

    4. Definition
    „Im eigentlichen Sinne: Operation, wodurch das Subjekt versucht, mit einem Trieb zusammenhängende Vorstellungen […] in das Unbewußte (sic!) zurückzustoßen oder dort festzuhalten. Die Verdrängung geschieht in den Fällen, in denen die Befriedigung eines Triebes […] im Hinblick auf andere Forderungen Gefahr läuft, Unlust hervorzurufen“ (Laplanche & Pontalis, 1972, S. 582).

    5. Definition
    „Die Verdrängungslehre: […]: Die Neurosen sind der Ausdruck von Konflikten zwischen dem Ich und solchen Sexualstrebungen, die dem Ich als unverträglich mit seiner Integrität oder seinen ethischen Ansprüchen erscheinen. Das Ich hat diese nicht ichgerechten Strebungen verdrängt […]. Wenn man […] versucht, diese verdrängenden Regungen bewußt (sic!) zu machen, bekommt man die […] Kräfte als Widerstand zu spüren“ (Freud, 1920, S. 222).


    Ist Verdrängung doch besser als ihr Ruf?

    Menschen unter Stress oder mit traumatischen Erlebnissen haben oft beunruhigende aufdringliche Gedanken, doch konventionelle Therapien drängen sie dazu, ihre Gedanken nicht zu unterdrücken, da die aufdringlichen Gedanken in ihrer Intensität und Häufigkeit wieder zunehmen und die Störungen verschlimmern könnten. Mamat & Anderson (2023) konnten hingegen die Hypothese bestätigen, dass ein Training der Gedankenunterdrückung, also der Verdrängung, die psychische Gesundheit verbessern würde. Einhundertzwanzig Erwachsene aus 16 Ländern absolvierten ein dreitägiges Online-Training zur Unterdrückung entweder ängstlicher oder neutraler Gedanken. Die Freiwilligen wurden gebeten, jeden Gedanken zu bewerten, unter anderem den empfundenen Grad der Angst oder die Intensität des Imaginierten, und füllten auch Fragebogen aus, um ihre psychische Gesundheit zu beurteilen. Einige von ihnen hatten Symptome schwerer Depressionen, Angstzustände und pandemiebedingten posttraumatischen Stress. Es kam zu keiner paradoxen Zunahme von Ängsten, vielmehr verringerte die Unterdrückung die Erinnerung an unterdrückte Ängste und machte sie weniger lebendig und angstauslösend. Nach dem Training berichteten die Teilnehmer über weniger Ängste, negative Gefühle und Depressionen, wobei der letztgenannte Vorteil auch nach drei Monaten noch anhielt. Teilnehmer mit hohem Angstniveau und pandemiebedingtem posttraumatischem Stress profitierten am stärksten und dauerhaftesten von der psychischen Gesundheit. Diese Ergebnisse stellen die bisher vertretene Annahme in Frage, dass die Unterdrückung von Gedanken maladaptiv ist, und bieten einen zugänglichen Ansatz zur Verbesserung der psychischen Gesundheit. Das Training zur Unterdrückung ängstlicher Gedanken verbesserte die psychische Gesundheit, insbesondere bei Menschen mit Angstzuständen und posttraumatischem Stress.

    Literatur

    Fellner, Richard L. (2004). Die Psychoanalyse Sigmund Freuds.
    WWW: http://www.psychotherapiepraxis.at/artikel/psychoanalyse/psychoanalyse.phtml (09-05-21)
    Freud, Sigmund (1920). „Psychoanalyse“ und „Libidotheorie“. In Freud, A., Bibiring, E., Hoffer, E., Kris, E. & Isakower, O. (Hrsg.), Sigm. Freud. Gesammelte Werke XIII. (S. 222). Frankfurt/Main: Fischer Verlag.
    Laplanche, J. & Pontalis, J.-B. (1972). Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfur/Maint: Suhrkamp.
    Lexikonredaktion des Bibliographischen Instituts (1968). Das Große DUDEN-LEXIKON in acht Bänden. Achter Band T – Z Ergänzungen und Nachträge. Speyer: Klambt-Druck GmbH.
    Mamat, Zulkayda & Anderson, Michael C. (2023). Improving mental health by training the suppression of unwanted thoughts. Science Advances, 9, doi:10.1126/sciadv.adh5292.
    Mittelstraß, Jürgen u. a. (1996). Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Band 4: SP – Z. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler.
    Stangl, W. (2023, 28. September). Ist Verdrängung doch besser als ihr Ruf?  Psychologie-News.
    https:// psychologie-news.stangl.eu/4722/ist-verdraengung-doch-besser-als-ihr-ruf.
    Ulfig, Alexander (1993). Lexikon der philosophischen Begriffe. Eltville: Bechtermünz.

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