Der Mensch, das Augenwesen, braucht das Bild.
Leonardo da Vinci
Was man heutzutage als mnemotechnisches Lernangebot bei diversen Anbietern findet, ist in aller Regel trivial, oberflächlich, langweilig und nutzlos. Welcher Mensch braucht Wortlisten, alle Präsidenten Amerikas, irgendwelche Phantasietatsachen, fiktive Einkaufslisten, Zufallszahlen usw. Es ist eine Illusion, anzunehmen, die meist im Labor entwickelten Methoden passten ohne weiteres auf das ernsthafte Lernen. Mnemotechnik ermöglicht es letztlich, Inhalte zu lernen ohne sie zu verstehen, was sogar ein zentrales Element mnemotechnischen Lernens darstellt. Wenn man sich nur hierauf stützt – wie das praktisch alle Mnemotechnik-Gurus tun, und verlässt, „dann liegt man am Ende flach“, wie es ein Experte einmal formulierte. Im Hintergrund aller Mnemotechnik muss nämlich das Verstehen vorhanden sein, denn wenn es auch nicht stimmt, dass Verstehen zum Lernen allein genügt, so ist es doch dort, wo es überhaupt möglich ist, niemals nebensächlich. Selbsternannte Mnemotechniker – die sich manchmal auch Memotechniker nennen 😉 – beschränken sich in ihren Vorträgen meist auf solche Inhalte, bei denen das Verstehen keine oder keine wesentliche Rolle spielt. Wenn jemand etwa versucht, Spanisch oder Italienisch auf die Art und Weise zu lernen, indem er die Deklinationen, die Konjugationen und alle anderen grammatischen Inhalte perfekt mnemotechnisch kodiert, dann kann ihm das vielleicht bei einer speziellen Prüfung in der Schule helfen, doch sollte man dabei nie vergessen, dass Vokabelpauken eine eher unwichtige Teilkomponente des Sprachenlernens darstellt und für das Beherrschen ein Sprache kaum hilfreich ist. Vielmehr führt es zu den bekannten Effekten, dass man sich ziemlich sicher ist, das passende Wort irgendwo in seinem mnemotechnischen System abgelegt zu haben, bloß auf die Schnelle beim Kauf einer Glühbirne in Barcelona in einem völlig anderen Kontext dieses Vokabel hervorzukramen …
Historisches: Erfinder der Mnemotechnik soll der Grieche Simonides von Keos gewesen sein, der bei einem Festmahl den Auftrag hatte, ein Loblied zu Ehren des Gastgebers vorzutragen. Sein Gedicht enthielt jedoch, wie üblich, auch einige Zeilen zum Ruhm der Zwillingsgötter Castor und Pollux, sodass sich der Gastgeber weigerte, Simonides die volle vereinbarte Summe auszuzahlen. Wenig später erhielt Simonides die Nachricht, dass zwei junge Männer nach ihm verlangten. Er verließ das Festmahl, fand aber draußen niemanden vor. Während er noch wartete, stürzte das Dach des Festsaals ein. Der Gastgeber und sämtliche Gäste wurden unter den Trümmern begraben. Ihre Leichen waren so entstellt, dass sie von ihren Verwandten nicht identifiziert und folglich auch nicht begraben werden konnten. Simonides aber erinnerte sich an die Sitzordnung bei Tisch und konnte die Angehörigen zu ihren Toten führen. Die Mnemotechnik hatte schon in der Antike begeisterte Anhänger unter Griechen und Römern, wobei viele ihre visuellen Vorstellungen sogar mit in den Schlaf nahmen. Aristoteles berichtet, dass einige Menschen in ihren Träumen die vor ihnen befindlichen Objekte entsprechend ihrem mnemonischen System anzuordnen scheinen. Die Römer benutzten die Mnemotechnik allerdings nicht nur als Gedächtnisstütze für freie Reden. Von Seneca wird folgendes Kunststück berichtet: Nachdem 200 Schüler einer Klasse je eine Zeile eines Gedichts aufgesagt hatten, konnte Seneca alle Zeilen in umgekehrter Reihenfolge wiederholen. Er begann mit der zuletzt gesprochenen und ging so zurück bis zur ersten. Doch auch solche Triumphe wollten gelernt sein. Ein Leitfaden zur Rhetorik warnte vor Nachlässigkeit: „Wie bei allem Lernen sind die Kunstregeln ohne anhaltende Übung wirkungslos, aber gerade in der Mnemonik sind die Regeln nahezu wertlos, wenn sie nicht durch Fleiß, Eifer, Mühe und Sorgfalt unterstützt werden. Du musst sorgen, recht viele und zu den Vorschriften passende Orte zu erhalten. Im Anbringen von Bildern musst du dich täglich üben.“ Mancher Zeitgenosse verspürte jedoch wenig Lust dazu. Cicero berichtet von einem Mann namens Themistokles, der sich weigerte, die Kunst des Gedächtnisses einzustudieren, denn er behauptete, eine Wissenschaft des Vergessens der des Erinnerns vorzuziehen. Ebenfalls kritisch setzte sich Quintilian mit der Mnemotechnik auseinander, denn er glaubte, dass die Bilder und erdachten Orte das beeinträchtigten, was das Gedächtnis aus eigener Kraft behalten könne.
Der Franziskanermönch John Ridevall zeigt dies anhand folgenden Szenarios: Ein Priester solle in seiner Predigt auf die Idolatrie, also die Götzenanbetung, eingehen. Dazu schafft er sich in seinen Gedanken ein Bild von einer Prostituierten, die krank und blind ist, und auch ihre Ohren sind verstümmelt. Sie wird durch Trompeten angekündigt. Als Person wird eine Prostituierte gewählt, weil Bildverehrer den wahren Gott verlassen haben, um mit Götzenbildern Unzucht zu treiben. Blind- und Taubheit sollen daran erinnern, dass sie aus Schmeichelei entstand, deren Folgen dies ist. Da die Idolatrie eine Art ungeregelte Liebe ist, ist sie krank. Sie wird als Verbrecherin angekündigt (mit der Trompete), da Übeltäter versuchen, in der Götzenverehrung Vergebung zu finden.In der Renaissance entwickelte Giulio Camillo Delminio die Idee eines Gedächtnistheaters, das mittels der Sterne und Sternbilder jedem Betrachter helfen sollte, das ganze Wissen der Welt zu erinnern. Die Idee war, dass man von der Bühne aus auf die verschiedenen Ränge und Reihen sehen konnte, welche nach den sieben damals bekannten Planeten benannt waren und sich weiter unterteilten in deren sieben Zustände. Stand der Betrachter nun auf der Bühne dieses Theaters, so konnte er neben den Rängen von Apollo, Venus usw. auch in Richtung des Ranges von Jupiter sehen. In der dritten Reihe dieses Abschnittes des Theaters fand er dann Bilder, die durch ihre Positionierung bzw. ihren Kontext eine besondere Bedeutung hatten und an etwas Bestimmtes erinnern sollten.
1. Definition
Eine Kunst des Gedächtnisses, viele Informationsfolgen mit Hilfe von Eselsbrücken zu merken (vgl. Cohen, 1995, S.196).
2. Definition
„Anwendung von Lernhilfen zur Verbesserung der Gedächtnisleistungen, zur Erhöhung der Reproduktionsfähigkeit. Man versucht, das Behalten eines Gedächtnismaterials zu erleichtern, in dem man bewußt Assoziationen herstellt, das Material nach Strukturen gliedert, zum Beispiel nach Gruppen wie etwa eine Telefonnummer nach Jahreszahlen, indem man nach Rhythmen oder Reimen ordnet, zum Beispiel gibt es Verse zum Behalten von geographischen Begriffen oder orthographischen Regeln“ (Clauß, 1995, S. 307).
3. Definition
Die Leistung des Gedächtnisses wird durch Hilfsstellungen von einem System, durch Wiederholungen, usw. gesteigert (vgl. Meumann, 1998, S. 374f).
4. Definition
„Systeme zum Stützen des Gedächtnisses, Einprägen von Wissensstoff durch Lern – oder Merkhilfen“ (o. A., 1995, S. 300).
5. Definition
Das Merken und Behalten von einer großen Menge an Fakten mit Hilfe von ausgedachten und/oder erarbeiteten Systemen oder Symbolen (vgl. Kondakow, 1978, S. 350).
Kurioses
Ein hier nicht namentlich genannter Mnemotechnikguru verspricht: „Dank Mnemotechnik kann man binnen weniger Wochen die »linke und rechte Gehirnhälfte zu einem Team« verknüpfen und »spielend 100 Milliarden Neuronen« aktivieren.“
Siehe zu diesem Thema auch
Mnemotechnik, Gedächtnistraining, Gedächtnishilfen, Gedächtnistricks
Literatur
Clauß, G. (1995). Fachlexikon ABC Psychologie. Frankfurt/Main: Verlag Harri Deutsch.
Cohen, D. (1995). Lexikon der Psychologie. Namen – Daten – Begriffe. München: Verlag Wilhelm Heyne.
Kondakow, N. I. (1978). Logik – Wörterbuch der Logik. Westberlin: Verlag Das europäische Buch.
Meumann. (1998). Dorsch Psychologisches Wörterbuch. Bern: Verlag Hans-Huber.
Ohne Autor. (1994). Bertelsmann Lexikon der Psychologie. Bielefeld: Verlag Bertelsmann Lexikon Institut.
Schönherr-Mann, H.-M. (2014). Ist das digitale Archiv bedenklich? Oder gibt es nicht zu denken? (S. 15-30). In Missomelius, P. Sützl, W. Hug, T., Grell, P. & Kammerl, R. (Hrsg.), Medien – Wissen – Bildung: Freie Bildungsmedien und Digitale Archive. Innsbruck: iup.
Stangl, W. (2006). Mnemotechnik (S. 89-100). In Mandl, H. & Friedrich, F. ( Hrsg.), Handbuch Lernstrategien. Göttingen: Hogrefe.
https://www.planet-wissen.de/natur/forschung/gedaechtnis/pwiemnemotechnik100.html (05-11-11)