Wird der normale Ablauf einer Instinkthandlung durch Mängel der auslösenden Situation oder Auftreten eines Konflikts zwischen unvereinbaren Trieben gestört, kann die aufgestaute Triebenergie über ein in der Situation irrelevantes, zu einem anderen Instinkt gehörendes Verhalten abreagiert werden (Lexikon der Psychologie, 1972, S. 623).
Ein weiteres Zwischenglied verschiedener Hauptinstinkte sind die Übersprunghandlungen. Zwar spielen sie als solche im Gesamtverhalten keine Hauptrolle, seien aber doch etwas eingehender behandelt, weil sie lange unbeachtet blieben und doch viel zum Verständnis des neurophysiologischen Hintergrundes der Instinkte beitragen.
Es ist vielen Beobachtern aufgefallen, dass Tiere unter bestimmten Umständen Bewegungen zeigen, die dem gerade ausgelösten Instinktverhalten offensichtlich nicht angehören. So können kämpfende Haushähne plötzlich am Boden picken, als ob sie hungrig wären. Kämpfende Stare putzen zwischendurch in übertreibenden Bewegungen das Gefieder. Balzende Paradiesvögel wischen ihre Schnäbel. Silbermöwen können mitten im ernstesten Kampf plötzlich Nistmaterial abrupfen. In allen solchen Fällen macht das Tier einen übererregten, „nervösen“ Eindruck (vgl. Tinbergen, 1996, S. 108).
Eine Verhaltensweise, die zur gegenwärtigen Stimmungslage nicht paßt; sie gehört einem anderen Funktionskreis an und tritt besonders im Triebkonflikt auf. Beispiel: das Grasrupfen der revierverteidigenden Silbermöve, das In-den-Boden-Picken kämpfender Hähne, das Drohen des Stichlingsmännchens durch angedeutetes Nestgraben in senkrechter Abwärtsstellung und die menschl. Verlegenheitsgeste „sich hinter dem Ohr kratzen“ obwohl kein Juckreiz besteht. Übrigens: Untersuchungen bei Mäusen (Yu et al., 2017) haben gezeigt, dass nicht nur Gähnen sondern auch Kratzen ansteckend sein kann, denn als man den Tieren ein Video zeigte, in dem sich eine Maus kratzt, kratzten diese sich daraufhin ebenfalls. Dabei war in ihren Gehirnen eine Region besonders aktiv, die auch eine Rolle bei der inneren Uhr spielt, sodass diese offenbar einen Botenstoff ausschüttet, der eine Kratzreaktion initiiert. Offenbar ist bei Mäusen die Kratzreaktion im Gehirn fest verankert und Empathie spielt dabei keine Rolle.
Gelegentlich auch: substitute activity oder behaviour out of context) ist ein Fachbegriff der vor allem von Konrad Lorenz ausgearbeiteten Instinkttheorie. Er wurde von Nikolaas Tinbergen in die Ethologie eingeführt und bezeichnet bestimmte Verhaltensmuster, die vom Beobachter als „unerwartet“ empfunden werden, da sie innerhalb einer Verhaltensabfolge auftreten, in der sie keinem unmittelbaren Zweck zu dienen scheinen. Nikolaas Tinbergen beschrieb sie wie folgt: „Diese Bewegungen scheinen irrelevant in dem Sinne zu sein, dass sie unabhängig vom Kontext der unmittelbar vorhergehenden oder folgenden Verhaltensweisen auftreten.“ Gedeutet wurde solches, dem Beobachter „unpassend“, ohne nachvollziehbaren Bezug zur gegebenen Situation erscheinendes Verhalten als Ausdruck „eines Konfliktes zwischen zwei Instinkten“, weswegen die Fortführung des zuvor beobachtbaren Instinktverhaltens – zumindest zeitweise – nicht möglich ist und stattdessen eine Verhaltensweise gezeigt wird, die (der Instinkttheorie zufolge) aus einem völlig anderen – dritten – Funktionskreis des Verhaltensrepertoires stammt (vgl. Wikipedia).
Das Herausstrecken der Zunge beim Nachdenken
Aus der Sicht der Psychologie handelt es sich auch bei der Angewohnheit, die Zunge beim Nachdenken bzw. bei einer eine hohe Konzentration erforderlichen Tätigkeit herauszustrecken, um eine Übersprungshandlung, die damit vergleichbar ist, dass jemand sich am Kopf kratzt, wenn er verlegen ist, oder die Hände faltet, wenn er unter großem inneren Druck steht. Typisch für solche Übersprungshandlungen ist, dass diese Handlungen in dem Moment, in dem sie ausgeführt werden, keinem unmittelbaren Zweck dienen und somit nicht erwartet werden. Oft sind sie ein Ventil für eine innere Anspannung, wobei Betroffenen ihr Handeln erst dann bemerken, wenn man sie darauf anspricht. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass sich die Zunge normalerweise im Mundraum frei bewegen kann, wobei bei jeder Bewegung und Berührung der Zunge mit Teilen des Mundraumes Signale an das Gehirn geschickt werden, die es erst einmal verarbeiten muss, d. h., das Gehirn ist während einer Tätigkeiten wie dem Sprechen damit beschäftigt, die Bewegungen der Zunge zu verarbeiten. Wenn man sich aber sehr konzentrieren muss, etwa beim Lösen einer schwierigen Aufgabe, benötigt das Gehirn alle Kapazitäten, und hat daher weniger Kontrolle über die Aktivität der Zunge. Manche erklären die Zungenaktivitäten auch mit der Sprachentwicklung, denn bevor es die Sprache gab, gab es schon Gesten, von denen das Herausstreckens der Zunge möglicherweise übrig geblieben ist bzw. einen Hinweis auf die revolutionäre Basis der Sprache darstellt. Da diese Motorik in der linken Gehirnhälfte verankert ist, wird diese bei Kindern bei bestimmten Aktivitäten, die Konzentration verlangen, wieder unbewusst abgerufen. Manche stellen auch einen Zusammenhang zu den Saugbewegungen von Säuglingen her, bei denen die Zunge eine wichtige Rolle spielt. Bekanntlich sind es vor allem Kinder, die die Zunge beim Denken herausstrecken, denn in einer Untersuchung mussten Kinder Aufgaben lösen, die entweder ihre Feinmotorik oder ihre Grobmotorik ansprachen. Es zeigte sich dabei, dass Kinder in allen Situationen ihre Zunge herausstreckten, gleichgültig, ob es feinmotorische oder grobmotorische Aufgaben waren, doch gerade grobmotorische Aufgaben, die strengen Regeln folgten, zogen besonders viel Zungenspiel nach sich. Kinder haben offenbar generell auch weniger Kontrolle über ihre Mimik und Gestik, d. h., sie haben noch nicht gelernt, sich zu regulieren und den Normen der Gesellschaft anzupassen, die ein Herausstrecken der Zunge als wenig ziemlich betrachten. In den meisten Fällen hören Kinder etwa mit dem sechsten Lebensjahr damit auf, da sie lernen, dass es die kulturelle Konvention gibt, die Zunge im Mund zu behalten. Bei den meisten Menschen ist daher diese Gewohnheit im Erwachsenenalter kaum mehr zu beobachten, nur bei eher wenigen bleibt diese Gewohnheit bestehen. Allerdings hat sich auch gezeigt, dass Menschen dazu tendieren, andere, die gerade bei einer Arbeit sind und dabei die Zunge herausstrecken, nicht zu unterbrechen. Offenbar wirken Menschen mit herausgestreckter Zunge besonders konzentriert.
Das Horten von Toilettenpapier als Übersprunghandlung in der Corona-Krise 2020
Übrigens war das Horten von Toilettenpapier in der Corona-Krise, das ja weder Menschenleben retten noch Arbeitsplätze sichern kann, auch eine Form einer Übersprungshandlung, um sich zu beruhigen, d. h., es vermittelte wohl eher ein subjektives Gefühl der Sicherheit.
Praktisches: Übersprunghandlung bei Prüfungen
Bewusst herbeigeführte Übersprunghandlungen helfen oft bei Prüfungen, wenn es zu einem Blackout kommt. Eine solche Ablenkung – diese dient dem Abbau der sich im Blackout manifestierenden Energie – ist dabei die kurzzeitige Beschäftigung mit etwas ganz anderem und bringt mehr als ein stetiges Wiederholen einer Aufgabenstellung. In schriftlichen Prüfungen kann diese Übersprungshandlung etwa das Spitzen des Bleistifts, ein Schluck Wasser, der Biss in einen Apfel oder der Blick aus dem Fenster sein. Weiters helfen auch einfach das Abschreiben der Aufgabe, das Sortieren und Nummerieren der Blätter, Ränder auf noch unbenutztem P ziehen, oder schlicht auf einem Notizzettel aufzuschreiben, was man am Abend zuvor gegessen hat. Bei mündlichen Prüfungen ist es oft notwendig, ein wenig Denkzeit zu gewinnen, etwa indem man einen Schluck Wasser trinkt, den Prüfer um die Wiederholung der Frage bittet oder sagt, dass man etwas Zeit braucht um über die Fragestellung nachzudenken. Oft hilft auch die Frage: „Habe ich Sie richtig verstanden …?“
Literatur
Lexikon der Psychologie, S. 623, I.Lindner, 1972, Band 3, Propaganda bis ZZ, Verlag: Herder, Freiburg im Breisgau.
Stangl, W. (2023, 1. Juli). Bei hoher Konzentration und beim Nachdenken die Zunge herausstrecken. arbeitsblätter news.
https://arbeitsblaetter-news.stangl-taller.at/bei-hoher-konzentration-und-beim-nachdenken-die-zunge-herausstrecken/.
Tinbergen N. (1996). Tiere und ihr Verhalten. Frankfurt/Main: Rowohlt TB-V.
Tinbergen, N. (1972). Brockhaus Enzyklopädie, Band 19. (S. 174) Mannheim: Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG.
Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Uebersprungshandlung. Online im Internet: WWW:http://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cbersprungshandlung (16.11.2011)
Yu, Yao-Qing, Barry, Devin M., Hao, Yan, Liu, Xue-Ting & Chen, Zhou-Feng (2017). Molecular and neural basis of contagious itch behavior in mice. Science, 355, 1072-1076.