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Reziprozität

    Reziprozität bezeichnet die Gegenseitigkeit im sozialen Austausch und ist Teilaspekt einiger psychologischer Theorien, die sich mit der Einflussnahme auf menschliche Entscheidungen beschäftigen. Die Reziprozitätsregel besagt ganz allgemein, dass Menschen, wenn sie etwas erhalten, motiviert sind, dafür eine Gegenleistung zu erbringen. Ein Beschenkter fühlt sich z.B. aufgefordert bzw. genötigt, ein Gegengeschenk zu erbringen. Sich reziprok zu verhalten bedeutet, auf einen Gefallen hin mit einer Handlung zu reagieren, die den Gefallen danach irgendwie ausgleicht. Dadurch wird das Gefühl der Verpflichtung, der anderen Person etwas zurückgeben zu müssen oder ihr etwas schuldig zu sein, reduziert. Die Erwartung der Person, die sich zunächst großzügig, hilfsbereit etc. zeigt, ist, dass in der Folge der Hilfe oder des Gefallens die Wahrscheinlichkeit erhöht ist, dass sich das Gegenüber in Zukunft ebenso verhalten wird. Dabei kann man sich auf normative Vorstellungen verlassen, die Reziprozitätsnorm.
    Die Reziprozitätsregel wird im Marketing beziehungsweise Vertrieb eingesetzt, da sie teilweise die Sympathieregel ausschaltet, also eine Person zu einer Gegenleistung verpflichtet, obwohl der Empfänger unsympatisch ist, also etwa eine Kostprobe gegen späteren Kauf, Freikarten usw. Hierzu gibt es zwei Verkaufstechniken:

    • Door-in-the-face-Taktik: übertrieben hohe Anfangsforderungen lassen später eine auf ein normales Maß reduzierte Forderungen als Schnäppchen erscheinen
    • That´s-not-all-Taktik: Hinzufügen von Geschenken (Zugaben)

    Weitere Beispiele sind die Bonbons, die ein Kellner zur Rechnung dazulegt, oder der Reisschnaps beim Chinesen, die das Trinkgeld nachweislich höher ausfallen lassen. Wer auf dem Wochenmarkt ein Stück Kuchen oder Käse als Kostprobe angenommen hat, sieht sich schnell dazu verpflichtet, der Händlerin oder dem Händler etwas abzukaufen. Selbst die aufmerksame Beratung in einem Geschäft kann Menschen innerlich dazu bringen, sich bei der Verkäuferin oder dem Verkäufer dann mit einem Kauf zu revanchieren. Zwar gibt es einige Menschen, die dagegen weitgehend immun sind, doch meist ist das Reziprozitätsprinzip sogar so stark, dass es selbst dann funktioniert, wenn man etwas ungebeten geschenkt bekommen hat bzw. etwas aufgedrängt bekommen hat. Oft will man sich dann von einem schlechten Gewissen befreien.

    Das Reziprozitätsprinzip lässt sich natürlich auch für das Selbstmarketing einsetzen, indem man etwa für seinen Vorgesetzten unaufgefordert kleinere Leistungen erbringt, denn dadurch zeigt man seine Kompetenzen und dieser fühlt sich einem zusätzlich verpflichtet. Aber auch wenn man seinen KollegInnen am Arbeitsplatz einen Gefallen tut, werden sie diesen Gefallen irgendwie erwidern wollen. Oder wenn man in einem kritischen Gespräch dem Kontrahenten ein Zugeständnis macht, und er dabei seine Interessen durchsetzen kann – bevorzugt macht man das dann wohl in einem Punkt, der einem selber nicht so wichtig ist -, signalisiert man seine Kompromissbereitschaft und sie oder er sieht sich gleichzeitig in der Verpflichtung, ebenfalls etwas zuzugestehen, das einem dann hoffentlich wirklich wichtig ist. Durch das Reziprozitätsprinzip baut man letztlich Vertrauen auf, und durch dieses Vorschussvertrauen fördert man Vertrauen durch Vertrauen. Vertrauen lebt übrigens von der Selbstverständlichkeit, mit der es geschenkt und vorausgesetzt wird, denn ohne diese Selbstverständlichkeit wird es zu etwas, das man beweisen muss, was den Kern von Vertrauen zunichte macht. Daher sollte man nie über Vertrauen explizit sprechen, etwa indem man sagt, dass man jemandem vertraut, denn ab diesem Augenblick wird der Angesprochene beginnen, sich bei jeder Nachfrage zu fragen, ob ihm denn nun vertraut würde oder nicht. Vertrauen ist daher eine riskante Vorleistung, und Vertrauen zu schenken bedeutet, in Kauf zu nehmen, dass man enttäuscht werden könnte. Wer dieses Risiko nicht tragen will und stattdessen Gewissheit sucht, untergräbt damit jedes Vertrauen. Daher gilt: Vertrauen ist entweder selbstverständlich oder es existiert nicht.

    Das Reziprozitätsprinzip ist in allen Kulturen und Gesellschaften verbreitet und bildet eine normative Vorstellungen – Reziprozitätsnorm. Dennis Regan konnte die Reziprozitätsregel mit einem Experiment empirisch belegen, bei dem die Versuchspersonen vor einer Besprechung unaufgefordert eine Coladose vom Versuchsleiter bekamen und am Ende des Gesprächs Lose zum Kaufen angeboten bekamen, die den Wert der Cola deutlich überstiegen. Es zeigte sich, dass die Versuchspersonen, die zuvor eine Coladose erhalten hatten, deutlich mehr Lose kauften als die Kontrollgruppe, die keine Coladose bekommen hatte. Dieses Prinzip kann auch biopsychologisch erklärt werden, denn in der Natur hat sich durch Selektionsfaktoren die Tit-for-tat-Technik herauskristallisiert, die besagt, dass es nur zur Intervention als Hilfeleistung kommen kann, wenn von dem anderen Organismus dieses Verhalten zurückerwartet werden kann. Damit gewährt die Reziprozität den Fortbestand der eigenen Gene.

    Generalisierte negative Reziprozität

    Die generalisierte negative Reziprozität bezeichnet das Verhalten in zwischenmenschlichen Konflikten, bei denen die beteiligten Parteien unfaires Verhalten mit gleicher Münze heimzahlen, wobei generalisiert bedeutet, dass sich der Konflikt auch auf zunächst Unbeteiligte überträgt. Experimente bestätigen, dass sich Ungleichbehandlung auf die Stimmung auswirkt, wobei diese emotionale Aufgeladenheit dazu führt, dass sich unfair Behandelte ebenfalls unfair gegenüber Dritten verhalten, vermutlich um ein Ventil für negative Emotionen zu haben. Sind die heftigsten Emotionen abgeklungen, setzt bei den Betroffenen meist eine vernunftorientierte Neubewertung der Situation ein, was ermöglicht, die Wut über Ungerechtigkeiten nicht direkt an unbeteiligte Dritte weiterzugeben.

    In Experimenten wurde übrigens gezeigt, dass man sich im Fall einer ungerechten Behandlung möglichst unmittelbar beschweren sollte, und zwar direkt bei demjenigen, der das unfaire Verhalten an den Tag gelegt hatte, denn das lässt die aufkeimende Wut am schnellsten verschwinden. Mit einem solchen unmittelbaren Abbau der Wut verfliegt auch das Bedürfnis, sich anderen gegenüber unfair zu verhalten, also die Wut über eine Ungerechtigkeit direkt an unbeteiligte Dritte weiterzugeben.

    Unbewusste Reziprozität beim Vertrauen mit Fremdem

    Ob Menschen einer Fremden oder einem Fremden vertrauen, hängt auch davon ab, ob dieser fremde Mensch Ähnlichkeit mit jemandem hat, den man bereits kennt und von dem man weiß, ob er vertrauenswürdig ist oder nicht. Das liegt daran, dass bestimmte Areale des menschlichen Gehirns darauf ausgerichtet sind, einen Abgleich mit anderen Bildern im Kopf vorzunehmen und jenen, die eine Ähnlichkeit mit schon bekannten, freundlichen Gesichtern aufweisen, zu vertrauen. Menschen treffen also vorab Entscheidungen über einen fremden Menschen alleine aufgrund dessen Ähnlichkeit mit anderen, denen man irgendwann in seinem Leben begegnet ist, wobei man sich dieser Ähnlichkeit in der Regel nicht bewusst ist (FeldmanHall et al., 2018).

    Reziprozität beim Tinkgeld

    In manchen Restaurants erhält man nicht nur die Rechnung, sondern auch noch ein Gratisgetränk. Hilkenmeier & Hoffmann (2021) haben dazu Experimente in einem griechischen und einem deutschen Restaurant gemacht. In einem griechischen Restaurant bekamen Gastgruppen entweder während des Essens, gleichzeitig mit der Rechnung oder erst nach dem Bezahlen einen kostenlosen Ouzo.

    • Kein Ouzo bzw. erst nach dem Bezahlen: durchschnittlich 7,1 Prozent Trinkgeld
    • Gratis Ouzo während des Essens: durchschnittlich 7,8 Prozent Trinkgeld
    • Gratis Ouzo mit der Rechnung: durchschnittlich 8,6 Prozent Trinkgeld

    Ein Gratisschnaps erhöhte das Trinkgeld also mindestens um zehn Prozent, wobei KellnerInnen, die den Ouzo mit der Rechnung brachten, sogar fast 20 Prozent mehr Trinkgeld bekamen als wenn sie keinen Schnaps verteilten. Im zweiten Experiment im deutschen Restaurant verglichen man das Trinkgeld, wenn die Gäste ein Gratisgetränk während des Essens beziehungsweise mit der Rechnung erhielten.

    • Gratis Ouzo während des Essens: durchschnittlich 7,2 Prozent Trinkgeld
    • Gratis Ouzo mit der Rechnung: durchschnittlich 8,8 Prozent Trinkgeld

    Ein Getränk, das mit der Rechnung gebracht wird, sorgt also dafür, dass die Bedienung 25 Prozent mehr Trinkgeld erhielt, d. h., vermutlich fühlen sich Gäste besonders stark verpflichtet, sich mit einem großzügigen Trinkgeld für das Gratisgetränk zu bedanken. Das Servicepersonal kann also durch einen geschickten Einsatz eines Gratisgetränks seine Trinkgelder erheblich und mühelos erhöhen, indem es die Norm der Reziprozität ausnutzt. Vermutlich können KellnerInnen in griechischen Restaurants ihr Trinkgeld um 200 Euro monatlich erhöhen, wenn sie ihren Gästen einen Ouzo während des Essens schenken, weitere 200 Euro können sie verdienen, wenn sie das Getränk gemeinsam mit der Rechnung bringen. In deutschen Restaurants wirkt die Methode ebenfalls, denn ein Gratisgetränk, das mit der Quittung kommt, könnte bis zu 225 Euro mehr Trinkgeld bedeuten.

    Literatur

    FeldmanHall, Oriel, Dunsmoor, Joseph E., Tompary, Alexa, Hunter, Lindsay E., Todorov, Alexander & Phelps, Elizabeth A. (2018). Stimulus generalization as a mechanism for learning to trust. Proceedings of the National Academy of Sciences, doi:10.1073/pnas.1715227115.
    Hilkenmeier, Frederic & Hoffmann, Sascha (2021). In Focus: Effects of an Opportune Gift on Tipping. Journal of Hospitality & Tourism Research, doi: 10.1177/10963480211019841.
    http://de.wikipedia.org/wiki/Reziprozit%C3%A4tsregel_(Psychologie) (09-11-11)

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