Nosologie

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Nosologie bezeichnet die systematische Lehre von der Klassifikation psychischer Störungen und Erkrankungen, wobei Ziel der nosologischen Arbeit ist, psychische Phänomene so zu ordnen, zu benennen und voneinander abzugrenzen, dass sie wissenschaftlich beschreibbar, diagnostisch erfassbar und therapeutisch behandelbar werden. Nosologie ist dabei nicht auf die bloße Auflistung von Krankheitsbildern beschränkt, sondern umfasst auch die theoretischen Annahmen darüber, was überhaupt als Krankheit gilt, wie Störungen voneinander unterschieden werden können und welche Kriterien zur Diagnose herangezogen werden sollen. Historisch entwickelte sich die psychologische und psychiatrische Nosologie in enger Anlehnung an medizinische Klassifikationssysteme. Bereits im 19. Jahrhundert versuchten Psychiater wie Emil Kraepelin psychische Erkrankungen anhand von Symptommustern, Verlauf und Prognose zu ordnen. Kraepelins Unterscheidung zwischen manisch-depressiver Erkrankung und Dementia praecox gilt als frühes Beispiel nosologischer Differenzierung und prägt diagnostische Systeme bis heute. In der modernen Psychologie ist Nosologie eng mit operationalisierten Klassifikationsmanualen verbunden, insbesondere mit der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) der Weltgesundheitsorganisation und dem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM) der American Psychiatric Association. Diese Systeme definieren psychische Störungen anhand festgelegter Kriterien, etwa der Anzahl, Dauer und Ausprägung von Symptomen sowie des damit verbundenen Leidensdrucks oder der Beeinträchtigung im Alltag.

Ein zentrales Merkmal psychologischer Nosologie ist ihre deskriptive Ausrichtung, denn anstatt Ursachen oder innere Mechanismen vorauszusetzen, werden Störungen primär über beobachtbare und berichtete Merkmale beschrieben. So wird beispielsweise eine Major Depression nosologisch durch Symptome wie gedrückte Stimmung, Interessenverlust, Antriebsminderung oder Schlafstörungen definiert, die über einen bestimmten Zeitraum hinweg auftreten müssen. Diese Vorgehensweise soll die diagnostische Reliabilität erhöhen, führt jedoch zugleich zu theoretischen Spannungen, da unterschiedliche Störungsbilder sich symptomatisch überschneiden können. Ein Beispiel hierfür ist die hohe Komorbidität zwischen Angststörungen und depressiven Störungen, die nosologische Grenzen unscharf erscheinen lässt.

Nosologische Systeme haben oft weitreichende praktische Konsequenzen, denn  sie beeinflussen klinische Diagnosen, Therapieentscheidungen, Forschungsdesigns, epidemiologische Studien sowie sozialrechtliche Fragen wie Leistungsansprüche oder Versicherungsdiagnosen. Gleichzeitig sind sie Gegenstand intensiver Kritik. Kritische Positionen weisen darauf hin, dass nosologische Kategorien soziale Konstruktionen darstellen, die kulturell, historisch und normativ geprägt sind. So wurde etwa die Streichung der Homosexualität aus den Diagnosesystemen als psychische Störung als Ergebnis gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Neubewertung verstanden. Auch aktuelle Debatten um dimensionalere Modelle psychischer Störungen, wie sie etwa im Forschungsrahmen des RDoC-Ansatzes vertreten werden, stellen die traditionelle kategoriale Nosologie infrage.

In der psychologischen Forschung fungiert Nosologie als Ordnungsrahmen, der Vergleichbarkeit und Kommunikation ermöglicht, zugleich aber methodische und theoretische Grenzen setzt. Sie bildet damit ein Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Systematisierung und der Komplexität individueller psychischer Erfahrungen. Nosologie ist folglich kein statisches Wissensgebiet, sondern ein dynamischer Prozess, der sich mit neuen empirischen Befunden, gesellschaftlichen Veränderungen und theoretischen Paradigmen kontinuierlich weiterentwickelt.

Der Begriff geht auf das griechische nósos (Krankheit) und lógos (Lehre) zurück und verweist auf den Anspruch, psychische Störungen in einem kohärenten Ordnungssystem abzubilden.

Literatur

American Psychiatric Association. (2022). Diagnostic and statistical manual of mental disorders (5th ed., text rev.; DSM-5-TR). APA Publishing.
Kendell, R., & Jablensky, A. (2003). Distinguishing between the validity and utility of psychiatric diagnoses. American Journal of Psychiatry, 160(1), 4–12.
Kraepelin, E. (1913). Psychiatrie: Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte (8. Aufl.). Barth.
World Health Organization. (2019). International classification of diseases for mortality and morbidity statistics (11th rev.; ICD-11). WHO.


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