Kathrin Passig
sondern mit Terminkalendern angetrieben.
Telly Savalas
Als Vorzieheritis oder Präkrastination bezeichnet man die Tendenz von Menschen, ständig das Gefühl zu haben, dass sie etwas erledigen müssten. Das geht dann so weit, dass sie versuchen, Dinge zu erledigen, die eigentlich erst nach vorherigen Erledigungen möglich sind. Dazu zählt etwas das Bedürfnis, das Essgeschirr abzuwaschen, bevor es überhaupt zum Essen verwendet wurde. Da diese naturgemäß nicht funktioniert, erleben die davon Betroffenen ein permanentes Gefühl, zu wenig getan zu haben. Die Vorzieheritis ist dabei als Gegenpol zur Aufschieberitis zu betrachten, also zur Tendenz, Aufgaben immer wieder vor sich herzuschieben.
Im Extremfall für dies dazu, dass Menschen in ihrer Vorzieheritis die Aufgaben ihrer Todo-Liste, die sie für den ganzen Tag geplant haben, schon am Vormittag erledigen, und dann ein Gefühl der Leere erleben. Das geschieht besonders dann, wenn sie versuchen, die Erledigungen des nächsten Tages vorzuziehen, was dann dazu führt, dass am nächsten Tag dieses Gefühl der Leere umso intensiver wird.
Auslöser für diese Erkrankung ist das in der frühen Sozialisation vermittelte Lebensmotto „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen“. In der Zeit der neuen Medien wurde die Selbstverständlichkeit dieses Spruchs allerdings beschädigt, denn seit alle mit allen vernetzt sind, sind heute und morgen nur noch relative Begriffe. Früher gab es etwa im Beruf noch die täglichen Routinen, die abgearbeitet werden mussten, und am nächsten Tag bei Sonnenaufgang ging alles wieder von vorne los. Unter solchen Umständen lag das Sprichwort noch goldrichtig, denn die Gegenposition in den Worten fauler Leute: „Morgen, morgen, nur nicht heute“ – bedeutete ja eine Art Kreditaufnahme: Die heutige Zeitnot wird in die Zukunft geschaufelt und macht dadurch alles immer schlimmer.
Heute geht es im Workflow vieler eher um die Unterscheidung zwischen „jetzt erledigen“, „nachher erledigen“ und „Papierkorb“, sodass es heute fast unendlich viele Dinge gibt, die man täglich besorgen sollte, sodass die Aufforderung der Todo-Liste, sie alle heute noch zu erledigen, wie eine Anleitung zum schnellstmöglichen Burn-out klingt.
Menschen, die präkrastinieren haben den unaufhörlichen Drang, alles sofort zu erledigen, denn sie hassen es, wenn Dinge liegen bleiben. Typisch sind dafür Menschen, die E-Mails oder WhatsApp-Nachrichten instantan beantworten, Rechnungen sofort bezahlen, ständig auf der Lauer sind, alle Fährnisse des Tages abzuarbeiten. Es ist verständlich, dass das schnelle Erledigen von Aufgaben für viele Menschen verlockend ist, denn ein Häkchen auf der To-do-Liste verschafft ihnen große Befriedigung. Auch wird dabei ihr Gedächtnis erleichtert, da sie dann an diese Aufgabe ja nicht mehr denken müssen. Außerdem haben sie das oft auch trügerische Gefühl, dass sie sich einem Ziel dadurch schneller nähern, auch wenn sie mit der Zeit gar nicht mehr wissen, was eigentlich ihr Ziel war. Ach ja: das Abarbeiten der Todo-Liste.
Manche Menschen scheint eine To-do-Liste regelrecht anzuspornen, wenn sie diese innerhalb eines kurzen Zeitfensters abarbeiten sollen, und können es dann kaum erwarten, bis sie endlich damit beginnen können. Was auf den ersten Blick aber nach großer Motivation und hoher Produktivität klingt, hat bei näherem Hinsehen oft eine Kehrseite, denn viele Betroffene stürzen sich auf die erste Aufgabe und denken in ihrer Euphorie nicht darüber nach, welche Aufgabe auf ihrer Liste Priorität hat, welche vielleicht vor einer anderen erledigt werden müsste. Wer sich immer nur auf das schnelle Abarbeiten der Aufgabenliste konzentriert, setzt meist keine Prioritäten und kommt möglicherweise gar nicht zu der wirklich wichtigen, aber vielleicht äußerst arbeitsintensiven Aufgabe am Ende einer solchen Liste. Durch Präkrastionation entstehen daher häufig mehr Fehler, denn der Fokus liegt ja vor allem darauf, möglichst viel in kurzer Zeit zu erledigen, sodass Aufgaben oder Projekte nicht richtig durchdacht werden. Menschen, die unter diesem Drang leiden, alles sofort zu erledigen, nehmen ihre Aufgaben zwar manchmal in Rekordtempo in Angriff, erzielen dabei aber nicht zwingend die besten Ergebnisse. Aktionismus um der Aktivität willen.
Übrigens neigen Menschen mit beruflicher Präkrastination zu privater Prokrastination, denn wer stets zwanghaft versucht, im Beruf so viel wie möglich zu erledigen, schiebt seine privaten Wünsche und Träume oft nach hinten, entweder, weil sie bzw. er auch nach Feierabend noch schnell etwas Berufliches erledigen möchte, oder auch einfach nur zu erschöpft ist, ihre bzw. seine private Aufgabenliste abzuarbeiten, also etwa Zeit für Familie und Freunde zu haben. Die Folge eines solchen Verhaltens ist permanenter Stress, denn wer sich immer im Abarbeitsmodus befindet, findet keine Ruhe mehr für tiefergehende Überlegungen oder das Entwickeln von Plänen. Und in der Regel auch zu wenig Zeit für sich selber, die man ja eigentlich durch das schnelle Abarbeiten erzielen möchte.
Menschen sind daher gefordert, jeden Tag eine möglichst kluge Auswahl treffen. Das Effizienzkonzept „Getting Things Done“ (GTD) basiert auf einfachen Prinzipien wie „keep it simple“ , die allerdings sehr weit interpretierbar sind, sodass sich Menschen heute permanent über Möglichkeiten austauschen, sich noch effizienter zu organisieren, was paradoxerweise dazu führt, dass während sie sich organisieren, sie reihenweise Aufgaben auf morgen verschieben, die sie heute noch erledigen könnten und müssten. Daher gibt es seit einiger Zeit die Tendenz zur Prokrastination, d. h., erledige bloß nicht heute, was du morgen kannst besorgen – siehe dazu das Buch „Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin“ von Passig & Lobo (2008).
Literatur
Passig, Kathrin & Lobo, Sascha (2008). Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin. Berlin: Rowohlt Verlag.
https://www.dunja-schenk.de/praekrastination/ (20-05-12)