Zum Inhalt springen

tabula-rasa-Modell

    Das tabula-rasa-Modell beschreibt die Vorstellung, dass ein Mensch ohne jegliche genetisch determinierte oder prädisponierte Verhaltensweisen bzw. Verhaltensprogramme zur Welt kommt und seine Verhaltensentwicklung ausschließlich durch individuelle Lernprozesse bestimmt wird. Diese einseitige Annahme wurde besonders durch die Vertreter des Behaviorismus vertreten, ist heute überwunden und wird durch eine Betrachtung ersetzt, die genetisch vorgegebene und individuell erworbene Komponenten in ihrer gegenseitigen Vernetzung und Bedeutung für aktuelles Verhalten sowie für die individuelle Verhaltensentwicklung zu analysieren.

    Auch in den Neurowissenschaften dominierte lange die ­Ansicht, dass das Gehirn bei der Geburt einer Tabula rasa gleicht, die erst im Lauf des Lebens mit Sinneseindrücken und Erfahrungen gefüllt wird, doch hat dieses einfache Modell einige Schwachstellen, da sich viele Prozesse des Gehirns damit schwer oder gar nicht erklären lassen. Schon bei der Geburt ist ein junges Gehirn voller Informa­tionen, die nur noch sinnvoll mit Erfahrungen verknüpft werden müssen. Diese Ansicht ist überholt bzw. schlicht falsch! Bei der Geburt ist das menschliche Gehirn bereits mit grundlegenden neuronalen Netzwerken und Strukturen ausgestattet, die für die zahlreiche Funktionen des Körpers notwendig sind. Von da an ist die Entwicklung des Gehirns ein fortlaufender Prozess, der durch Erfahrungen, Umweltreize und Interaktionen mit der Welt geprägt wird. Neugeborene sind mit angeborenen Reflexen und grundlegenden Fähigkeiten wie dem Saugen und Greifen ausgestattet, aber ihre weiteren kognitiven Fähigkeiten, Sprache, Wissen und Verständnis entwickeln sich im Laufe der Zeit durch Lernen und Interaktionen mit ihrer Umgebung. Während der frühen Kindheit entwickelt sich das Gehirn jedoch sehr schnell und bildet zahlreiche Verbindungen zwischen den Neuronen, die durch immer mehr Erfahrungen und kontinuierliches Lernen geformt werden, was zu einem rasanten Aufbau von Wissen und Verständnis der Welt führt. Es gibt darüber hinaus angeborene Faktoren, die die Entwicklung des Gehirns beeinflussen, wobei auch die genetische Veranlagung eine Rolle bei der Prädisposition für bestimmte Fähigkeiten oder Verhaltensweisen spielen kann.

    Neuere Forschungen belegen sogar, dass soziale Ungleichheiten, soziale Mobilität und soziale Integration ebenso substantiell genetisch beeinflusst sind wie Persönlichkeitseigenschaften und Fähigkeiten. Zwar folgt die sozialwissenschaftliche Forschung derzeit noch weitgehend der tabula rasa-Metapher, doch es zeigt sich, dass die Wissenschaft auf diese Metapher eher verzichten sollte und die genetischen Einflüsse etwa bei der Erklärung von Lebenschancen von Menschen zu berücksichtigen.


    Historisches

    Schon John Locke sah den Menschen als tabula rasa, der der Erziehung unausweichlich bedarf, um Mensch zu werden, wobei die freie Entwicklung und Ausbildung der Persönlichkeit gefördert werden sollte. Auch in John B. Watsons Vorstellung war der Mensch eine Art tabula rasa, der im Verlauf seines Lebens durch Konditionierungsprozesse und durch die Bildung von Gewohnheiten eine Persönlichkeit ausbildet. Er verstand die menschliche Persönlichkeit also als das Endprodukt von Gewohnheitssystemen bzw. Lernerfahrungen und hielt etwa die psychoanalytische Deutung von Ängsten als unbewusste Konflikte für falsch.

    Lange war man auch der Meinung, dass sich Keimzellen im Stadium der Befruchtung wie eine epigenetische tabula rasa verhalten, doch heute wird spekuliert, dass z.B. Veränderungen der Lebensweise (Ernährung, Bewegung, Ortswechsel) ein epigenetisches Muster bewirken könnten, das an die nächste Generation weitergegeben werden kann. Biologen haben in den letzten Jahren zahlreiche molekulare Mechanismen entdeckt, die zu einem stärkeren oder schwächeren Ablesen der Information in den Genen führen, ohne dass dabei die dort gespeicherte Information verändert wird.

    Literatur

    Stangl, W. (2014). Pädagogik Erziehungswissenschaft – Die Wissenschaft. [werner stangl]s arbeitsblätter.
    WWW: https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/WISSENSCHAFTPAEDAGOGIK/ (2014-08-03).
    Stangl, W. (2014). Stichwort: ‚Epigenetik‘. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.
    WWW: https://lexikon.stangl.eu/1245/epigenetik/ (2014-08-03)
    https://www.spektrum.de/lexikon/neurowissenschaft/tabula-rasa-konzept/12706 (12-11-21)


    Impressum ::: Datenschutzerklärung ::: Nachricht ::: © Werner Stangl :::