Unter Tutoreffekt versteht man den Umstand, dass Erstgeborene mit Geschwistern in ihrer kognitiven Entwicklung davon profitieren, diese etwas zu lehren. Weil Einzelkinder keine jüngeren Geschwister haben, denen sie etwas beibringen können, fehlt ihnen dieser Lerneffekt, den das Lehren der Erstgeborenen ausübt. Einzelkindes sind also niemandes Lehrer, wodurch sie intellektuell weniger vorankommen als Erstgeborene. Auf den Punkt gebracht besagt der Tutoreffekt: Der Lehrer lernt mehr als seine Schüler.
In Bezug auf die Intelligenz zeigen tatsächlich einige Untersuchungen in den letzten hundert Jahren, dass die Geburtenfolge umgekehrt proportional mit dem IQ von jungen Erwachsenen verbunden ist, d. h., je niedriger der Geburtenrang (also Platz 1, dann 2 etc. in der Geschwisterfolge), desto höher ist die Intelligenz. Allerdings ist dieser Effekt relativ gering, denn nur um etwa 1,5 Punkte pro Kind nimmt der IQ ab., und das auch nur im Durchschnitt, d. h., nur in sechs von zehn Fällen ist das erste Kind das intelligenteste bzw. dass in vier von zehn Fällen eines der anderen Kinder einen höheren IQ zeigt.
Jedes ältere Kind wirkt sich aber auch mit seinem Wissen und Können bereichernd und stimulierend auf die Umwelt seiner jüngeren Geschwister aus. Bei Kindern unter zwölf Jahren sind es deshalb häufig auch die Jüngeren, die gegenüber den Älteren einen leichten höheren Intelligenzquotienten aufweisen. Doch wenn Ältere ihren Wissensvorsprung an Jüngere weitergeben, müssen sie dieses Wissen für sich selbst repetieren und strukturieren, und schärfen dadurch über die Jahre hinweg ihr eigenes Denken und Verstehen. Ein großer Altersunterschied zwischen Geschwistern bringt diesen kleinen IQ-Unterschied jedoch zum Verschwinden, denn hier findet keine Rivalität und auch kein Tutoring mehr statt.
Schon Francis Galton hatte entdeckt, dass die meisten englischen Wissenschaftler Erstgeborene waren, und glaubte die Ursache darin zu erkennen, dass das erste Kind von den Eltern besonders gefördert wird und es sich deswegen intellektuell besser entwickelt. Alfred Adler war der Ansicht, dass der Einfluss der eigenen Position innerhalb der Familie auf die Persönlichkeit noch viel weiter reicht, denn der Erstgeborene ist für eine gewisse Zeit Einzelkind und wird entsprechend mehr gefördert, als wenn Eltern ihren Einfluss auf mehrere Kinder ausweiten müssen. Nach Frank Sulloway sind Erstgeborene dominanter und weniger verträglich, dafür aber gewissenhafter, denn sie müssen oft Verantwortung für ihre jüngeren Geschwister übernehmen, wodurch ihr Verstand geschärft wird. 2019 haben Lejarraga et al. in einer Untersuchung festgestellt, dass aber die Geburtsreihenfolge keinen Einfluss auf die Risikobereitschaft im Erwachsenenalter hat. Das widerlegt das familiendynamische Modell von Sulloway, der davon ausging, dass Erstgeborene von Natur aus stärker und intellektuell besser entwickelt sind, auch da sie die volle Aufmerksamkeit der Eltern erfahren haben. Sie entwickeln seiner Theorie nach eher ein Verhalten, das darauf ausgelegt ist, diesen Status zu erhalten, und müssten alles dafür tun, um die Aufmerksamkeit der Eltern zu erhaschen, wodurch sie eine größere Neigung zum Risiko entwickeln. Allerdings sind Unfälle in Haushalten mit mehreren Geschwistern auch deshalb wahrscheinlicher, weil jüngeren Kinder ihre älteren Brüder und Schwestern nachnahmen, und zwar noch bevor sie die dafür nötigen Fähigkeiten besitzen. In einer umfangreiche Untersuchung wurden Daten aus drei verschiedenen Ansätzen kombiniert: Selbsteinschätzungen, Verhaltensmesswerte sowie riskante Lebensentscheidungen. Weder in den Selbsteinschätzungen noch in den Messungen zur Risikobereitschaft fanden die Forscher einen Effekt der Geburtsreihenfolge darauf, wie risikofreudig sie als Erwachsene sind.
Manche halten den Tutoreffekt schlicht für ein Kunstprodukt der Statistik, da sozioökonomisch schwache, bildungsferne Familien mehr Kinder haben, wodurch sich deren Werte nicht mit den Zweikind-Familien von Akademikern vergleichen lassen. Auch könnten vorgeburtliche Einflüsse im Mutterleib wie die Produktion von Antikörpern, die sich bei jeder Schwangerschaft verstärken, ausschlaggebend sein.
Literatur
Alekseeva, O., E. Kozlova, I., Baskaeva, O. & Pyankova, S. (2014). Intelligence and Sibling Relationship. Procedia – Social and Behavioral Sciences, 146, 187–191.
Lejarraga, T., Frey, R., Schnitzlein, D. D. & Hertwig, R. (2019). No Effect of Birth Order on Adult Risk Taking.In: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America.
Rohrer, J. M., Egloff, B., & Schmukle, S. C. (2018). Probing birth-order effects on narrow traits using specification curve analysis. Psychological Science, 28, 1821–1832.
Rohrer, J. M., Egloff, B., & Schmukle, S. C. (2015). Examining the effects of birth order on personality. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, 112, 14224–14229.
Sulloway, F. (1996). Born to Rebel: Birth Order, Family Dynamics, and Creative Lives. Pantheon.