Zum Inhalt springen

retrospektive Verklärung

    Jede unserer Erinnerungen ist falsch. Die Frage ist nur: wie falsch?
    Julia Shaw

    Als retrospektive Verklärung bezeichnet man das Phänomen, dass Menschen im Rückblick ihre eigenen Erlebnisse in einem besseren Licht darstellen bzw. schildern, als diese tatsächlich abgelaufen sind. Diese manchmal auch als rosarote Brille bezeichnete Tendenz lässt sich auch experimentell nachweisen, da Menschen generell dazu neigen, persönliche Vorhaben übertrieben positiv zu betrachten. So untersuchten Devitt & Schacter (2018) dieses Phänomen der retrospektiven Verklärung in einigen Experimenten, in denen Probanden aufgefordert worden waren, sich künftige Ereignisse auszumalen, etwa eine Reise oder den Besuch eines Theaterstücks. Danach legte man den Versuchspersonen ausformulierte Narrative vor, wie die imaginierten Erlebnisse dann tatsächlich ausgefallen waren und überprüften danach die Erinnerungen an diese Geschichten. Es zeigte sich dabei, dass eine hohe Erwartung und Vorfreude spätere Erinnerungen positiv verzerrte, während negative Erwartungen keine Auswirkungen auf die emotionale Färbung der Rückschau hatten. Die Erwartungen prägten jedoch nicht nur die Erinnerung, sondern die Vorfreude steigert ganz allgemein den Genuss an einem Erlebnis, d. h., positive Erwartungen hinterlassen demnach bereits Spuren im Gedächtnis, die bei der realen Erfahrung aktiviert werden und wie ein Filter die Wahrnehmung und somit auch die spätere Erinnerung prägen.

    Hinzu kommt, dass gedächtnisbasierte Ansätze nahelegen, dass retrospektive Urteile über den Ablauf der Lebenszeit auf verfügbaren bedeutsamen Erfahrungen beruhen, und auch offen ist, ob die Urteile über das Vergehen von Lebenszeit die objektive Menge an wichtigen Erfahrungen widerspiegeln oder eher die Menge an Erinnerungen, die im Moment des Urteils aktiviert sind. Um diese Frage zu untersuchen, baten Kosak, Kuhbandner & Hilbert (2019) an die fünfhundert Teilnehmer einer Studie, das Vergehen der letzten fünf Jahre entweder vor oder nach dem Abrufen möglichst vieler wichtiger autobiographischer Ereignisse aus den letzten fünf Jahren zu beurteilen. Die Aktivierung von Erinnerungen vor der Beurteilung verlangsamte den erlebten Zeitablauf, aber nur, wenn die Teilnehmer mindestens vier Erinnerungen abrufen konnten. Bei Teilnehmern, die sich an weniger als vier Erinnerungen erinnerten, wurde der gegenteilige Effekt gefunden, d. h., nur wenige aktivierte Erinnerungen hatten überhaupt einen beschleunigenden Effekt. Interessanterweise nahm die erlebte Geschwindigkeit der Zeit mit steigender Anzahl aktivierter Erinnerungen nicht kontinuierlich ab, denn unterhalb und oberhalb der Schwelle von vier Erinnerungen waren Zeitverlaufsurteile unabhängig von der Anzahl der aktivierten Erinnerungen. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Zeitverlaufsurteile auf aktuell aktivierten Erinnerungen beruhen, was darauf hindeutet, dass das weit verbreitete Phänomen des Verfliegens der Zeit den Effekt einer Erinnerungsheuristik widerspiegelt.

    Man hat übrigens auch herausgefunden, dass für Menschen freudige Ereignisse, auf die sie sich besonders freuen, weiter entfernt zu sein scheinen, gleichzeitig aber auch kürzer kommt ihnen die Zeit vor, die diese dauern werden. Ganz anders ist es bei jenen Menschen, für die solche freudigen Ereignisse viele Arbeit oder einen drohenden Familienstreit bedeuten.

    Literatur

    Devitt, A. & Schacter, D. (2018). An Optimistic Outlook Creates a Rosy Past: The Impact of Episodic Simulation on Subsequent Memory. Psychological Science, doi:10.1177/0956797617753936.
    Kosak, F., Kuhbandner, C. & Hilbert, S. (2019). Time passes too fast? Then recall the past! Evidence for a reminiscence heuristic in passage of time judgments. Acta Psychologica, doi:10.1016/j.actpsy.2019.01.003.


    Impressum ::: Datenschutzerklärung ::: Nachricht ::: © Werner Stangl :::

    Schreibe einen Kommentar

    Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert