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subjektive Wahrnehmung

    Die menschliche Wahrnehmung ist durch ihre Sinnesorgane beschränkt, wobei durch die Verarbeitung der Informationen im Gehirn der Objektivitätsanspruch menschlicher Wahrnehmung immer fraglich ist. Um das Ziel zu erreichen, Informationen über die Umwelt zu gewinnen, sich in seiner Umwelt erfolgreich zu verhalten und von der Vielzahl der Informationen nicht überfordert zu werden, greift das Gehirn zum Mittel der Selektion bzw. Filterung, d. h., Wahrnehmung ist ein Selektions- und Organisationsprozess bzw. letztlich ein aktiver Konstruktionsvorgang. Zwar besitzen alle Menschen die selben Sinnesorgane und auch die Reizaufnahme ist bei allen Menschen annähernd gleich, doch ist die Wahrnehmung subjektiven Interpretationen ausgesetzt, die auch entscheiden, was diese wahrnehmen, wie sie es interpretieren, welche Bedeutung sie dem Wahrgenommenen beimessen und welche Reaktion sie darauf zeigen. Was Menschen wahrnehmen, ist in hohem Maße auch kontextabhängig, denn das menschliche Gehirn versucht sich stets der Umgebung und ihren Herausforderungen anzupassen.

    Die Verarbeitung und Bewertung von Reizen ist von zahlreichen äußeren und inneren Faktoren abhängig und somit subjektiv, d.h., jeder Mensch nimmt seine Umwelt in seiner ganz spezifischen, individuellen Art und Weise wahr. In besonderer Weise gilt das etwa für den Bereich der sozialen Wahrnehmung, wobei Wahrnehmungsverzerrungen, unterschiedliche Interpretationen und persönliche Bewertungen zu erheblichen Missverständnissen führen können. Wie Menschen die Lebensumstände, die Mitmenschen und ihre Umwelt wahrnehmen, hat entscheidenden Einfluss auf ihr Selbstbild, ihr Wohlbefinden, ihr Kommunikationsverhalten, ihre zwischenmenschliche Beziehungen und ihren Erfolg, wobei diese Faktoren ihrerseits auch wiederum die aktuellen und zukünftigen Wahrnehmungsmuster beeinflussen.

    Kritischer Zustand der Netzwerke als möglicher Selektionsmechanimus der subjektiven Wahrnehmung

    Raschelnde Blätter, leichter Regen am Fenster, eine leise tickende Uhr, dumpfe Geräusche, knapp oberhalb der Hörschwelle werden in einem Augenblick einmal wahrgenommen, im nächsten nicht mehr, auch wenn man sich selbst oder sich die Töne nicht verändert haben. So haben Studien gezeigt, dass man einen eintreffenden Reiz, etwa ein Ton, ein Bild oder eine Berührung, jeweils anders verarbeitet, selbst wenn der Reiz genau derselbe ist. Das liegt daran, dass wie sehr ein Stimulus die zuständigen Hirnregionen aktiviert, vom momentanen Zustand der Netzwerke abhängt, zu denen diese Regionen gehören. Unklar ist jedoch, was diesen ständig schwankenden Zustand der Netzwerke beeinflusst und ob dieser zufällig entsteht oder einem Rhythmus folgt. Stephani et al. (2020) haben nun herausgefunden, wie diese Verarbeitung funktioniert, wobei eine entscheidende Rolle dabei ein kritischer Zustand spielt. Untersucht hat man diese Zusammenhänge anhand tausender kleiner aufeinanderfolgender elektrischer Ströme, die man an den Unterarm der Teilnehmer anlegte, um den Hauptnerv im Arm anzuregen. Diese Stimulationen führten wiederum 20 Millisekunden später im somatosensorischen Cortex zu einer ersten Reaktion, wobei man anhand der EEG-Muster sehen kann, wie leicht jeder einzelne Stimulus das Gehirn erregt. Das Gehirn reagiert nämlich umso stärker auf einen Reiz, je stärker die Netzwerke in dem Moment angeregt werden können, in dem die Reiz-Information in den Cortex, eintritt. Je nach Zustand sind die Nervenzellen im primären somatosensorischen Cortex leichter oder schwerer erregbar, wobei die Erregbarkeit darüber entscheidet, wie der Reiz weiter verarbeitet wird, d. h., sie beeinflusst bereits am Eingang zur Großhirnrinde darüber, wie das Gehirn mit einem Reiz umgeht und nicht erst auf höheren, nachgeschalteten Ebenen.

    Es gibt immer eine gewisse Aktivität zwischen den Neuronen eines Netzwerks, auch wenn scheinbar keine äußeren Einflüsse auf dieses wirken, d. h., das System ist also nie vollkommen inaktiv. Vielmehr erhalten sie ständig Informationen, etwa aus dem Körperinneren, denn sie wachen über den Herzschlag, die Verdauung oder die Atmung, über die Position im Raum und intern erzeugte Gedanken. Die Neuronen sind selbst dann aktiv, wenn sie von jeglichem Input isoliert sind, sodass diese internen Prozesse ständig die Erregbarkeit bzw. Bereitschaft verschiedener Hirnnetzwerke beeinflussen. Deren Dynamik bestimmt letzlich die Erregbarkeit des Systems und damit auch die Reaktion auf einen Reiz. Dabei ist es aber nicht dem Zufall überlassen, wie stark der Cortex erregbar ist, denn der Wechsel zwischen geringerer und stärkerer Reizbarkeit folgt einem bestimmten zeitlichen Muster, wobei der jeweils aktuelle Zustand vom vorherigen abhängt und wiederum den nachfolgenden beeinflusst. Man spricht hier von einer langfristigen zeitlichen Abhängigkeit oder einer langanhaltenden Autokorrelation. Dass der Cortex so in seiner Erregbarkeit variiert, deutet darauf hin, dass sich seine Netzwerke nahe an einem sogenannten kritischen Zustand befinden, d. h., sie schwanken stets in einem empfindlichen Gleichgewicht zwischen Erregung und Hemmung. Möglicherweise ist dieser kritische Zustand entscheidend für die Gehirnfunktion, denn durch ihn können möglichst viele Informationen übertragen und verarbeitet werden, sodass dieses Gleichgewicht auch darüber entscheiden könnte, wie das Gehirn Sinneseinflüsse verarbeitet. Es dient vermutlich als Anpassungsmechanismus, um mit der Vielfalt von Informationen zurechtzukommen, die ständig aus der Umwelt eintreffen, d. h., ein einziger Reiz sollte weder das gesamte System auf einmal erregen noch zu schnell wieder verschwinden.
    Unklar ist jedoch noch, was das für die subjektive Wahrnehmung bedeutet, denn hier werden wohl auch andere Prozesse eine Rolle spielen, etwa die Aufmerksamkeit. Lenkt man diese auf etwas anderes, kann der eintreffende, weniger beachtete Reiz zwar trotzdem eine erste, starke Hirnreaktion hervorrufen, doch höhere nachgelagerte Prozesse im Großhirn könnten dann verhindern, dass dieser bewusst wahrgenommen wird.

    Alphawellen als Korrelat von Wahrnehmungsverzerrungen

    Das menschliche Gehirn generiert bekanntlich systematisch mehr oder weniger verzerrte Wahrnehmungen der Welt, sodass Menschen ihre eigene, subjektive Realität entwickeln, wobei diese kognitiver Verzerrung ein in der Regel unbewusstes Phänomen darstellt. Menschen können aber einen solchen persönlichen Bias unter bestimmten Bedingungen überwinden. Anhand einer Beurteilungsaufgabe mit zeitlicher Ordnung haben Grabot & Kayser (2020) überprüft, ob Alpha-Wellen im Gehirn mit solchen Wahrnehmungsverzerrungen zusammenhängen. Es zeigte sich in den EEG-Daten, dass schwächere Alphawellen bedeuteten, dass Probanden einem experimentell herbeigeführten Bias widerstanden, während stärkere Alphawellen auftauchten, wenn die Probanden ihrer persönlichen Neigung entsprechend entschieden. Die spontane Alphawellen-Aktivität scheint daher ein spezifisches Indiz für kognitive Verzerrungen zu sein, und zwar schon bevor die eigentliche Entscheidung fällt.

    Ein wesentliches Grundprinzip der subjektiven Wahrnehmung ist auch, dass fehlende Informationen im Gehirn vervollständigt werden, wobei diese vervollständigte Wahrnehmung oft vertrauenswürdiger erscheint als die Wirklichkeit. Zwar weiß man recht gut, dass die Wahrnehmung häufig nicht einer objektiven Realität entspricht, doch konnte von Ehinger et al. (2017) experimentell gezeigt werden, dass man dieses Faktum nicht nur unterbewusst hinnimmt, sondern diese subjektive Wahrnehmung im Vergleich zu verlässlichen Informationen sogar bevorzugt. Um im alltäglichen Leben zurechtzukommen, müssen Menschen ständig mehrere Sinneseindrücke nach ihrer Verlässlichkeit beurteilen und gewichten, denn wenn man etwa eine Straße überquert, so verlässt man sich bevorzugt auf den Sehsinn. Dagegen würde man an einem nebligen Tag mit eingeschränkter Sicht stärker auf den Verkehrslärm achten, also die akustischen Informationen als verlässlicher einstufen. Auch vervollständigt im Fall des Blinden Flecks das Gehirn automatisch die fehlende Information, indem es auf die Inhalte der benachbarten Stellen zurückgreift, sodass diese Lücke den Menschen gar nicht auffällt, außer man nutzt dazu eine konkrete Vorlage. Dieses Vervollständigen durch das Gehirn wird dabei als filling-in-Effekt bezeichnet und reicht im Alltag völlig aus. In eine Studie sollten Probanden zwei Kreise (lückenlos oder durchgängig gestreift) vergleichen und jenen Kreis auswählen, der durchgängig gestreift war. Die Probanden wählten bevorzugt den Kreis aus, der teilweise im blinden Fleck angezeigt wurde, also nicht den, den sie tatsächlich zu hundert Prozent sehen konnten. Wenn im Gehirn die verschiedenen bildlichen Sinneseindrücke verglichen werden, genießt offenbar die vom Gehirn selbst interpretierte bildliche Information eine höhere Vertrauenswürdigkeit als das der tatsächlich gesehene Sinnesreiz.

    Literatur

    Ehinger, B. V., Häusser, K., Ossandón, J. P. & König, P. (2017). Humans treat unreliable filled-in percepts as more real than veridical ones.
    Grabot, Laetitia & Kayser, Christoph (2020). Alpha Activity Reflects the Magnitude of an Individual Bias in Human Perception. The Journal of Neuroscience, doi:10.1523/JNEUROSCI.2359-19.2020.
    Stephani, T., Waterstraat, G., Haufe, S., Curio, G., Villringer, A. & Nikulin, V. V. (2020). Temporal signatures of criticality in human cortical excitability as probed by early somatosensory responses. Journal of Neuroscience, doi:10.1523/JNEUROSCI.0241-20.2020.
    eLife Sciences, doi: 10.7554/eLife.21761.
    https://lexikon.stangl.eu/1708/selektive-wahrnehmung/ (17-06-01)
    https://idw-online.de/de/attachmentdata57600.pdf (17-06-01)

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