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postfaktisch

    Tatsachen muss man kennen, bevor man sie verdreht.
    Mark Twain

    Postfaktisch bezeichnet das Phänomen, dass bei vielen Menschen Fakten gegenüber Gefühlen eine eher untergeordnete Rolle spielen. Claus Lamm, Professor für Biologische Psychologie und Leiter der Social, Cognitive and Affective Neuroscience Unit an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien, erläutert, dass der Begriff postfaktisch in der psychologischen Literatur in erster Linie das Phänomen des „Was wäre wenn“ umschreibt, also wenn ein Mensch sich fragt, wie wäre sein Leben jetzt, wenn etwa dieser Unfall oder dieses Unglück nicht passiert wäre.
    Postfaktisch beschreibt gleichzeitig auch das Phänomen, dass sich Meinungen oder Gerüchte nicht allein durch Fakten widerlegen lassen. Wenn man etwa Menschen, die zum Klimawandel eine bestimmte Meinung haben, Fakten präsentiert, die ihre Meinung widerlegen müssten, zeigt sich, dass die Probanden unbeeindruckt bleiben. Diese haben nämlich aus dem objektiven Informationsangebot nur die konsonante Fakten rezipiert, die die eigene Meinung bestätigen bzw. sogar verstärken. Das bedeutet in der Praxis, dass eine einzige Gegeninformation in der Regel nicht ausreicht, um die Meinung eines Menschen zu ändern, außer diese Information wird gebetsmühlenartig immer wieder wiederholt, und zwar von unterschiedlichen, am besten besonders glaubwürdigen Quellen. Bis eine solche Schwelle aber erreicht wird, gibt es eine Art Schutzmechanismus, der den Menschen erlaubt, an ihren Überzeugungen festzuhalten. Das wird vom Phänomen der Reaktanz – einem evolutionär sehr alten Muster des Schwarz-Weiß-Denkens – verstärkt, denn Menschen reagieren mit Widerwillen auf Dinge, die dem widersprechen, was sie glauben oder glauben wollen.

    Der Begriff postfaktische Politik bezeichnet dann ein politisches Denken und Handeln, bei dem evidenzbasierte Fakten nicht mehr im Mittelpunkt stehen, d. h., die Wahrheit einer Aussage tritt hinter den Effekt der Aussage auf die eigene Klientel zurück. Postfaktisch bedeutet in einem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang auch, dass Menschen so viele Fakten vor sich auf dem Tisch liegen haben wie nie zuvor in der Geschichte, doch die Vielfalt lässt sie den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr erkennen. Deshalb fallen viele Menschen zurück in Mythen, in sagenumwobene Behauptungen, weil sie von der Faktenlawine erschlagen werden, die sie letztlich resignieren lässt. Wenn Menschen diese Vielzahl an Informationen, die vor allem durch die neuen Medien an den Einzelnen herangetragen werden, nicht mehr beherrschen, verlassen sie sich auf Meinungsbildner, Heilsbringer, Wahrsager oder Populisten, denen sie den Filterungsprozess zutrauen und überlassen.

    2016 wurde der Begriff post-truth von den Oxford Dictionaries zum Wort des Jahres gewählt, und im selben Jahr wurde im deutschsprachigen Raum das Wort postfaktisch verwendet, um jene politische Diskussionskultur zu beschreiben, in der die Bedeutung von Fakten hinter der von Emotionen und gefühlten Wahrheiten zurücktritt. Rothmund et al. (2017) haben nun über einen Zeitraum von vier Jahren im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms „Wissenschaft und Öffentlichkeit“ untersucht, wie es dazu kommt, dass Menschen sich dafür entscheiden, bestimmten Informationen als Wahrheiten Glauben zu schenken und dabei andere Informationen zu ignorieren. Sie fanden heraus, dass Menschen Fakten selten unvoreingenommen bewerten, sondern vor dem Hintergrund individueller Ziele, Bedürfnisse oder motivationaler Zustände. Dabei ist es den Menschen jedoch wichtig, ihre eigenen Bewertungsprozesse als vernunftgeleitet wahrzunehmen. Die persönliche Motivlagen beeinflusst daher die Bewertung von Fakten, wobei Menschen hierzu in der Regel einer asymmetrischen Strategie der Informationsverarbeitung folgen: Argumente, die im Einklang mit persönlichen Motivlagen stehen, werden sehr leicht akzeptiert, während Argumente, die persönlichen Motivlagen widersprechen, hingegen sehr kritisch geprüft werden, d. h., es wird gezielt nach vermeintlichen Widersprüchen oder Mängeln in der Methodik, Argumentationslogik oder der Reputation der Quellen gesucht. Menschen neigen dann in besonderem Maße zu solchen asymmetrischen Bewertungen, wenn starke Überzeugungen oder Sorgen mit einem Thema verbunden sind. Das ist besonders dann relevant, wenn sensible Personengruppen identifiziert und angesprochen werden sollen, wie etwa Eltern in der Diskussion um die Schädlichkeit frühkindlicher Impfungen oder passionierte Videospieler bei der Forschung zur Wirkung von Videospielgewalt. Bei der Kommunikation von Fakten sowohl im politischen Kontext als auch bei wissenschaftlichen Ergebnisse ist nach Ansicht der Wissenschaftler daher entscheidend, wie solche Fakten kommuniziert werden, um diese asymmetrischen Verarbeitungsprozesse entweder zu verstärken oder abzuschwächen. Wenn Menschen in ihrer persönlichen oder sozialen Identität bestärkt werden, sind sie eher dazu bereit, Fakten zu akzeptieren, die eigentlich ihren Motivlagen widersprechen. Passionierte Videospieler sind etwa dann weniger kritisch gegenüber Befunden zur Schädlichkeit von Mediengewalt, wenn ihnen als Gruppe zuvor besondere Kompetenzen zugesprochen wurden und so ihr Bedürfnis nach einer positiven sozialen Identität bekräftigt wurde. In den USA zeigte sich etwa, dass Gegner des Klimawandels offener für kritische Befunde sind, wenn eine umweltbewusste Einstellung als patriotisch kommuniziert wird.

    Wissenschaftskommunikation kann daher dann am besten gelingen, wenn ein kritischer Austausch auf Augenhöhe stattfindet und persönliche oder soziale Stigmatisierungen von beteiligten Gruppen vermieden werden. Wissenschaftskommunikation war nach Ansicht von Experten in der Regel eine Reaktion auf soziale Kontroversen wie auch das Resultat eines intellektuellen Ringens um die Deutung dieser Kontroversen. Auch wenn die Anfänge der akademischen Beschäftigung mit Wissenschaftskommunikation sehr vielfältig sind, setzt man deren Beginn meist Mitte der 1980er Jahre in Großbritannien an. Denn in dem von der  Royal Society vorgelegten Bodmer Report – The Public Understanding of Science –  wurde der damals von den Forschungseliten beklagte Verfall wissenschaftlicher Autorität erstmals zum gesellschaftspolitischen Problem erklärt. Der Report markiert den Beginn des Versuchs zur Aufwertung der bisher in der Fachwelt als unseriös verschmähten Populärwissenschaft. Meinungsforschung, Sozialpsychologie und Soziologie sollten daher ergründen, unter welchen Bedingungen Wissenschaft ihre Inhalte erfolgreich darstellen kann oder warum dies misslingt. Man nahm meist an, dass die Ablehnung wissenschaftlich anerkannter Positionen ihre Ursache wohl nur im Nicht- und Missverstehen der Wissenschaft haben könne, wobei dies mit Umfragedatensätzen allerdings nicht bestätigt werden konnte, dass Misstrauen gegen anerkannte wissenschaftliche Positionen eine Folge von wissenschaftlichem Analphabetismus“ sei. Im Gegenteil fand man Vorbehalte gegen die Wissenschaft gerade unter wissenschaftlich Gebildeten. Dieses Defizitmodell wae nach Ansicht von Experten nichts anderes als die Projektion eines sich bedroht fühlenden Wissenschafts- und Politestablishments, sodass man eher die Hintergründe dieser Ablehnung, etwa Machtgefälle und Wertekonflikte, und auch das Wissen der Laien ergründen sollte, wobei deren Widerstände legitim und das eigenes Laienwissen dem der ausgewiesenen Experten oft ebenbürtig sei. Wissenschaft  sollte daher ihre eigenen impliziten Interessen reflektieren und den ehrlichen Dialog mit ihren Kritikern suchen.

    Literatur

    Rothmund, T., Gollwitzer, M., Nauroth, P. & Bender, J. (2017). Motivierte Wissenschaftsrezeption. Psychologische Rundschau, 68, 193-197.
    http://diepresse.com/home/politik/uswahl/5115279/Postfaktisch_Warum-unser-Hirn-von-Fakten-kaum-beeindruck-ist (16-11-11)
    https://de.wikipedia.org/wiki/Postfaktische_Politik (16-11-11)
    https://science.orf.at/stories/3206705/ (21-05-23)

     


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