Als Gänsehaut bzw. Piloerektion bezeichnet man das typische Bild von aufgerichteter Körperbehaarung und kleiner Erhebungen der Hautoberfläche vor allem an Armen und Beinen, wobei die Ursache für das Entstehen einer Gänsehaut beim Menschen ist bis heute nicht vollständig geklärt. Die Gänsehaut ist ein in der Entwicklungsgeschichte des Menschen und mancher Säugetiere herausgebildeter Reflex, der wohl ursprünglich mit der Wärmeregulation zusammenhing. Aber nicht nur bei Kälte stellen sich die Härchen auf den Armen oder im Nacken in die Höhe, sondern auch unangenehme Geräusche wie Kreidequietschen lösen eine Gänsehaut aus.
Dieser Reflex hat sich auch auf das Akustische übertragen, da auch etwa Musik eine Gänsehaut auslösen kann. Um eine Gänsehaut zu bekommen, muss die Musik in der Regel interessant sein, einen Strukturwechsel haben und auch Neues enthalten. Besonders häufig stellt sich Gänsehaut aber bei besonders vertrauten Klängen ein, wobei hier die emotionale Reaktion mit individuellen Erfahrungen, Erinnerungen und Erwartungen verbunden ist.
Der Mensch hat ein einzigartiges Gefühl für Ästhetik und erlebt angenehme Reaktionen wie Gänsehaut auf komplexe Reize, die keinen klaren intrinsischen Wert für sein Überleben besitzen. Jedoch bestehen erhebliche Unterschiede in der Häufigkeit und Spezifität der ästhetischen Reaktionen, denn während die Freude an einem ästhetischen Erlebnis den neuronalen Schaltkreisen als Belohnung zugeschrieben wird, bleibt unklar, was die individuellen Unterschiede in der Empfindlichkeit der ästhetischen Belohnungen erklärt. Mit einer Kombination aus Befragungsdaten, verhaltens- und psychophysiologischen Messungen fanden Sachs et al. (2016) beim Hören von gänsehautauslösenden Musikstücken heraus, dass die Form der Konnektivität in der weißen Substanz zwischen sensorischen Verarbeitungsbereichen im oberen temporalen Gyrus und emotional-sozialen Arealen im insularen und medialen präfrontalen Cortex die individuellen Unterschiede in der Belohnungsempfindlichkeit gegenüber Musik erklärt. Diese kleine amerikanische Studie an Studenten zeigte auch, dass bei Menschen, die Gänsehaut bei Musik bekommen, das Gehirn tatsächlich ein wenig anders als das der meisten Menschen strukturiert ist, denn Menschen, die eine emotionale und physische Reaktion bei Musik zeigen, haben sie ein dichteres Volumen an Fasern, die den auditorischen Cortex mit jenen Bereichen des Gehirns verbinden, in denen Emotionen verarbeitet werden. Diese Empfindungen können auch durch Erinnerungen ausgelöst werden, die mit einer bestimmten Musik verbunden sind. Es gibt also offenbar neuronale Ursachen für individuelle Unterschiede im sensorischen Zugang zum Belohnungssystem, was darauf hindeutet, dass die sozial-emotionale Kommunikation über den auditiven Kanal eine evolutionäre Grundlage für das Musizieren als ästhetisch lohnende Funktion beim Menschen bilden kann.
Musik hat die Fähigkeit, beim Menschen starke positive Gefühle in Form von Gänsehauterlebnissen hervorzurufen, wobei sie das Belohnungssystem des Gehirns aktiviert. Ziel einer Studie von Chabin et al. (2020) war es zu zeigen, dass ein EEG hoher Dichte in der Lage ist, Muster zerebraler Aktivitäten aufzudecken, die zuvor durch fMRI- oder PET-Scans identifiziert worden waren, wenn die Probanden und Probandinnen (11 weiblich, 7 männlich) einen angenehmen musikalischen Schauer erlebten. Dafür wurden den Versuchspersonen verschiedene Ausschnitte ihrer Lieblingsmusik vorgespielt, wobei die Intensität der Gefühle an den Gehirnwellen tatsächlich ablesbar war. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass das EEG eine verlässliche Methode und ein vielversprechendes Instrument zur Untersuchung der musikalischen Freude durch musikalische Belohnungsverarbeitung sein könnte. Neben den Aktivitäten in drei Gehirnregionen, in denen die Musik verarbeitet wurde, wurde gleichzeitig das Belohnungssystem aktiviert sowie Dopamin ausgeschüttet, das bekanntlich Zufriedenheit und Freude auslöst. Gemeinsam mit der Vorfreude auf die Lieblingsmusik entstand bei den Probanden und Probandinnen das angenehme Kribbeln im Körper, das man als Gänsehaut umschreiben kann. Diese Funktion könnte etwa in der Erwartung des freudigen Schauers liegen, denn vorherzusehen, was demnächst passiert, könnte in der Evolution auch von Vorteil gewesen sein.
Neuere Untersuchungen legen aber die Vermutung nahe, dass nicht nur Emotion im Spiel ist, denn manche Menschen bekommen beim Hören von Musik eher Gänsehaut als anderen. In einem Experiment haben Colver & El-Alayli (2016) Testpersonen Musik mit Gänsehaut-Potenzial vorgespielt, einen Fragebogen und einen Persönlichkeitstest vorgelegt. Es zeigte sich, dass diejenigen, denen Musik häufig einen Schauer über den Rücken jagt, auch bestimmte Persönlichkeitsmerkmale aufweisen, denn sie besitzen eine ausgeprägte Vorstellungskraft, sind offen für neue Erfahrungen und setzen sich intensiv mit ihren Gefühlen auseinander. Damit widersprechen diese Ergebnisse der bisherigen Annahme, dass die Gänsehaut vor allem etwas damit zu tun hat, dass die Hörer eine tiefe emotionale Verbindung zur Musik besitzen, denn die Reaktion auf die Musik ist hier weniger emotional sondern mehr kognitiv. Die Testpersonen mit der Gänsehaut-Erfahrung sind vor allem sehr gut darin, sich vorzustellen, wie ein Musikstück weitergeht, was sie mit einer Kombination aus aufmerksamem Zuhören und Tagträumen machen. Wenn es in der Musik aber unerwartet Brüche in der Musik wie Steigerungen oder Tempi-Wechsel, dann ist der Schauer bei ihnen programmiert. Eine weitere Hypothese ist, dass bestimmte Frequenzen und Tonfolgen wie die Schreie von Tierkindern, die von ihrer Mutter getrennt sind, das dem Gefühl von sozialer Kälte nahekommt.
Literatur
Chabin, Thibault, Gabriel, Damien, Chansophonkul, Tanawat, Michelant, Lisa, Joucla, Coralie, Haffen, Emmanuel, Moulin, Thierry, Comte, Alexandre & Pazart, Lionel (2020). Cortical Patterns of Pleasurable Musical Chills Revealed by High-Density EEG. Frontiers in Neuroscience, 14, doi:10.3389/fnins.2020.565815.
Colver, Mitchell C. & El-Alayli, Amani (2016). Getting aesthetic chills from music: The connection between openness to experience and frisson. Psychology of Music, 44, 413-427.
Sachs, Matthew E., Ellis, Robert J., Schlaug, Gottfried & Loui, Psyche (2016). Brain connectivity reflects human aesthetic responses to music. Social Cognitive and Affective Neuroscience, 11, 884-891.
Stangl, W. (2018). Ergebnisse neuerer Gehirnforschung. [werner stangl]s arbeitsblätter.
WWW: https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/GEHIRN/GehirnForschung.shtml (2018-09-08).
http://arbeitsblaetter-news.stangl-taller.at/musik-emotion-und-erinnerung/ (16-02-02)
http://www.mirror.co.uk/news/weird-news/certain-music-gives-you-goosebumps-11107994 (17-09-04)