Stimmenhören – kommentierende, imperative oder dialogisierende Stimmen, ohne dass tatsächlich jemand spricht – gehört zu den akustische Halluzinationen wie das Hören von Geräuschen, ohne dass solche vorhanden sind (Akoasmen). Fast jeder zehnte Mensch hört im Laufe seines Lebens Stimmen, die physikalisch nicht erklärbar sind, wobei solche akustischen Halluzinationen zwar gehäuft bei schizophrenen Psychosen auftreten, aber nicht unbedingt ein Hinweis auf eine psychische Störung darstellen müssen, denn Ausnahmesituationen mit hohem Stress, körperliche Erkrankungen, Schlafentzug und bestimmte Drogen können akustische Halluzinationen auslösen.
Stimmenhören ist auch typisch für manche Formen der Schizophrenie, wobei mehr als drei Viertel aller Schizophrenen Stimmen hören und etwa ein Fünftel davon versucht, Suizid zu begehen, weil diese Stimmen es befohlen haben. Es ist schwierig, eine gesunde von einer kranken Halluzination zu unterscheiden, denn wenn etwa die Stimmen manche Menschen seit ihrer Kindheit begleitet, spricht dies eher für eine harmlose Ausprägung. Auch zeigen sich solche Stimmen eher leise und dem Betroffenen wohlgesonnen, zumal der Betroffene das Gefühl hat, diese Stimme kontrollieren zu können. Wer neben den Stimmen keine weiteren psychiatrischen Symptome wie etwa Paranoia zeigt, der muss auch nicht unbedingt behandelt werden, zumal Stimmen manchen Menschen helfen, ihr Leben zu bewältigen, indem sie diese trösten, anspornen und inspirieren.
Unterschiedliche Hypothesen über die Ursachen betreffen Fehlschaltungen innerhalb verschiedener Wahrnehmungs- und Erkennungsbereiche im Gehirn bis hin zu Fehlern bei der Zuordnung von Gedanken und Impulsen zwischen innen und aussen. Manche Experten glauben daher, dass wer Stimmen hört, seinem eigenen Denken lauscht und es nur als solches nicht erkennt (innere Stimme). Diese innere Stimme muss übrigens in der Entwicklung erst erlernt werden, was man an Kindern beobachten kann, die vor sich hinmurmeln und aussprechen, was sie gerade denken bzw. tun, und erst viel später ihre Gedanken verinnerlichen. Erwachsene unter Stress regredieren häufig in diese kindliche Phase und sprechen plötzlich wieder laut aus, was sie als Nächstes zu tun gedenken. Stimmenhören ist demnach ein innerer Monolog, der mehr oder minder außer Kontrolle geraten ist. Diese Theorie erklärt auch, warum manche Menschen in Extremsituationen halluzinieren, denn trauernde Menschen hören noch über Jahre hinweg die Stimme des verlorenen Partners. Bekanntlich beginnen auch viele ältere Menschen, vor allem wenn sie alleine sind, mit sich selber zu sprechen, und tun dies manchmal auch in der Öffentlichkeit.
Zur Behandlung des Stimmenhörens wird meist Psychotherapie eingesetzt, die in den letzten Jahren kognitive Erklärungsmodelle und -methoden entwickelt hat, um Betroffene bei der Bewältigung dieses Phänomens zu unterstützen. Wesentlich ist dabei die Analyse der Inhalte dieser akustischen Wahrnehmungen und die Aufdeckung der individuellen Bedeutung für die stimmenhörende Person. Eine positive Entwicklung ist dann etwa, wenn ein Stimmenhörer lernen kann, die Stimmen, die sein Alltagsleben kommentieren, auf wenige Stunden zu begrenzen.
Stimmenhören eine Sonderform der Wahrnehmung?
Nicht nur psychisch auffällige Personen erleben Halluzinationen, sondern auch Menschen, die nicht psychisch krank sind, können Halluzinationen haben. Vor allem akustische Halluzinationen wie Schritte, Stimmen, die etwas sagen, oder Geräusche werden auch manchmal von normalen Menschen wahrgenommen, wobei sie meist im Alltag gut damit umgehen können. Der Unterschied zu krankheitswertigen Halluzinationen liegt hier eher in den Annahmen, woher diese Stimmen kommen, und ob diese Böses wollen, etwa indem sie den Betroffenen kontrollieren wollen. Powers et al. (2017) haben in einem Experiment vier Gruppen verglichen: psychisch gesunde und kranke Stimmenhörer sowie psychisch gesunde und kranke Nicht-Stimmenhörer. Alle Probanden wurden mit klassischer Konditionierung darauf trainiert, ein Schachbrettmuster mit einem Ton in Verbindung zu bringen, der in der Lautstärke variierte und dabei manchmal kaum oder auch überhaupt nicht zu hören war. Im Verlauf des Experiments wurde der Ton immer seltener gespielt, aber trotzdem von allen Probanden manchmal halluziniert, wobei Gehirnscans zeigten, dass auch das Gehirn der Personen überzeugt war, einen Ton zu hören. Jene Probanden, die normalerweise keine Stimmen hören, konnten den Zusammenhang von Schachbrettmuster und Ton allerdings leichter wieder verlernen, d.h., die Halluzination konnte gelöscht werden. Die Forscher vermuten, dass man Wahrnehmung im Allgemeinen als kontrollierte Halluzination betrachten kann, denn auch die alltägliche Wahrnehmung hängt nicht allein von objektiven Sinneseindrücken ab, sondern die Bedeutung, die einem Reiz zugeschrieben wird, ist geprägt von den Annahmen und den Erfahrung mit der Welt. Halluzinationen wären unter dieser Hypothese dann eher eine falsche Gewichtung von Erfahrungen und Erwartungen gegenüber einem ankommenden Reiz.
Bei Menschen, die häufig Stimmen hören, ist oftmals deren Gehirn darauf fokussiert, Bedeutungen in Klangmustern zu finden. Alderson-Day et al. (2017) spielten ihren Probanden Hörbeispiele in der Sine Wave Speech vor, einer Methode der akustischen Verfremdung, bei der einige Frequenzen im Gesprochenen durch Piepsen und Pfeifen ersetzt werden. Dabei konnten jene Probanden, die schon davor Stimmen gehört hatten, die getarnten Sätze schneller und besser erkennen, d. h., ihr Gehirn erkannte verborgene Satzteile automatisch. Probanden, die noch nie Stimmen gehört hatten, benötigten dagegen im Schnitt mehrere Anläufe, um die verborgenen Wörter herauszufiltern.
Neuerdings ist es französischen Wissenschaftlern gelungen, akustischen Halluzination durch Magnetstimulation im Gehirn zu reduzieren, wobei mehr als ein Drittel von schizophrenen Patienten, die mit einer Magnetstimulation im Gehirn behandelt worden waren, eine deutliche Verbesserung erlebt hatten. Man hatte dabei den Ort im Gehirn ausfindig gemacht, der für die Stimmen verantwortlich war.
Etwa jeder Zehnte hört gelegentlich Stimmen, die sonst niemand wahrnimmt. Während viele Menschen damit gut zurechtkommen, sind die Stimmen für manche Betroffene eine Belastung, weil sie in bestimmten Situationen stören und die Bewältigung des Alltags erschweren. Die AVATAR-Therapie gegen Stimmenhören ist eine innovative Behandlungsmethode für Menschen, die unter akustischen Halluzinationen leiden, die häufig mit Schizophrenie oder anderen psychischen Störungen einhergehen. Bei dieser Therapie interagieren die Betroffenen mit einem computergestützten virtuellen Avatar, der die Stimmen repräsentiert, die sie hören.
Der Avatar wird vom Therapeuten gesteuert und kann so programmiert werden, dass er positive und unterstützende Botschaften sendet, um die negativen Stimmen zu neutralisieren oder zu reduzieren. Die Idee hinter dieser Therapie ist es, den Betroffenen zu helfen, eine neue Beziehung zu den Stimmen aufzubauen und ihnen positive Bewältigungsstrategien zu vermitteln, indem sie lernen, die Stimmen anders zu interpretieren und mit ihnen umzugehen.
Mar Rus-Calafell bietet in Deutschland im Rahmen einer Studie eine VR-Therapie an, bei der die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der AVATAR-Studie gemeinsam mit einer Therapeutin oder einem Therapeuten einen digitalen Körper gestalten, der der Stimme entspricht, die sie am häufigsten wahrnehmen. So erhalten sie ein Gegenüber, mit dem sie sprechen und dem sie auch widersprechen können, d.h. es geht darum, die Stimme zu kontrollieren bzw. ihr selbstbewusst entgegenzutreten. Die AVATAR-Therapie ist ein relativ neuer Ansatz und muss daher noch weiter erforscht werden, um ihre Wirksamkeit und Anwendbarkeit zu bestimmen, aber es gibt Hinweise darauf, dass sie für einige der Betroffenen vielversprechend sein könnte.
Informationen zur Studie: https://www.digital.psy.ruhr-uni-bochum.de/cpdp/forschung/studien/avatar.html.de
Die Wirksamkeit der AVATAR-Therapie wurde bereits in mehreren internationalen Studien nachgewiesen: Eine Untersuchung zeigte, dass die Teilnehmenden nach der Therapie ihre Stimme seltener hörten und sich weniger durch sie belastet fühlten. In einigen Fällen verstummte die Stimme sogar. Wenn sie mehrere Stimmen hörten, führte der Dialog mit dem Avatar der Hauptstimme dazu, dass auch die anderen Stimmen leiser wurden. Ziel der aktuellen Studie ist es, erstmals die Wirksamkeit der AVATAR-Therapie bei deutschen Psychose-Patienten im Frühstadium zu belegen und die Therapie durch neue immersive VR-Umgebungen zu verbessern, um den Betroffenen zu helfen, ihre Stimme in sozialen Situationen besser zu kontrollieren.
Literatur
Alderson-Day, B., Lima, C. F. , Evans, S., Krishnan, S., Shanmugalingam, P., Fernyhough, C. & Scott, S. K. (2017). Distinct processing of ambiguous speech in people with non-clinical auditory verbal hallucinations, Brain, doi: 10.1093/brain/awx206.
Powers, A. R., Mathys, C. & Corlett, P. R. (2017). Pavlovian conditioning–induced hallucinations result from overweighting of perceptual priors. Science, 357, 596-600.
Craig, Tom KJ, Rus-Calafell, Mar, Ward, Thomas, Leff, Julian P, Huckvale, Mark, Howarth, Elizabeth, Emsley, Richard, Garety, Philippa A. (2018). AVATAR therapy for auditory verbal hallucinations in people with psychosis: a single-blind, randomised controlled trial. The Lancet Psychiatry, 5, 31-40.
Stangl, W. (2024, 19. März). Mit der AVATAR-Therapie gegen Stimmenhören. Psychologie-News.
https:// psychologie-news.stangl.eu/5121/mit-der-avatar-therapie-gegen-stimmenhoeren
https://lexikon.stangl.eu/1967/halluzination/ (10-11-21)
http://gesund.co.at/stimmen-hoeren-akustische-halluzination-11771/ (10-11-21)
http://science.orf.at/stories/2859857/ (17-08-11)