Nach Robert K. Merton findet Wissenschaft nicht in einem isolierten Kontext statt, sondern sie ist ein soziales System unter anderen, denn Wissenschaft wird von Menschen betrieben und es wäre unrealistisch anzunehmen, dass diese Menschen nicht durch die sozialen Bedingungen, denen sie unterliegen, auch im wissenschaftlichen Forschungsbetrieb mit in ihrem Handeln bestimmt wären. Doch Merton ist der Ansicht, dass es einen Ethos der Wissenschaft gibt, der das Handeln der Wissenschaftler leitet und dadurch dazu beiträgt, dass die kontingenten gesellschaftlichen Bedingungen nicht auf die Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeit durchschlagen bzw. der Umfang der Beeinflussung eingeschränkt und kontrollierbar ist. Dieses Ethos ist unter der Bezeichnung CUDOS-System in die wissenschaftstheoretische Literatur eingegangen:
- Communitarianism: Die Ergebnisse wissenschaftlicher Wissensproduktion sind das Produkt kooperativer Anstrengungen, und sie stehen grundsätzlich allen Mitgliedern der Wissenschaftsgemeinschaft jederzeit zur freien Verfügung. Wissenschaftliche Ergebnisse müssen daher der Öffentlichkeit frei zugänglich sein, sollen allen gehören oder keinem. Damit soll sichergestellt werden, dass Wissen nicht monopolisiert und nicht ausschließlich zum Wohl Einzelner verwendet werden kann, sondern einen Beitrag zum Allgemeinwohl leistet. Dies ist nur möglich, wenn Ideen und Wissen frei zirkulieren können, denn nur dann ist es möglich, gegebenes Wissen zu kritisieren, zu verwerfen oder zu verbessern bzw. neue Erkenntnisse zu produzieren.
- Universalism: Die Bewertung wissenschaftlicher Forschung muss unabhängig von der Person oder den sozialen Attributen des verantwortlichen Wissenschaftlers erfolgen. Damit wird gefordert, dass in der Wissenschaft keinerlei Partikularismus Platz hat, d. h., es gibt keine nationale Wissenschaft, keine Klassewissenschaft, keine Parteiwissenschaft oder Ähnliches. Ziel der wissenschaftlichen Arbeit soll objektives Wissen sein, das zu jeder Zeit, an jedem Ort und unter allen Bedingungen Gültigkeit besitzt. Die Wahrheit einer wissenschaftlichen Aussage ist unabhängig von der aussagenden Person und deren sozialen Situation. Universalismus verbietet auch Diskriminierung in Bezug auf den Zugang zur Wissenschaft, d. h., nur das Talent und die Fähigkeiten eines Menschen sollen Kriterium sein, nicht aber Geschlecht, Religion, ethnische Herkunft oder sozialer Status.
- Disinterestedness: Antriebsfeder echter Wissenschaft ist nicht Eigennutz, sondern die Leidenschaft zu wachsender Erkenntnis, Neugier im positiven Sinne und altruistisches Interesse am Wohlergehen der Menschheit. Natürlich sollen Wissenschaftler an ihrer Arbeit interessiert sein im dem Sinne, dass sie exzellente Arbeiten erstellen und möglichst präzise Ergebnisse finden wollen, doch sie sollen keine Ergebnisse unterdrücken, erfinden oder fälschen, um den eigenen Interessen oder aber den Interessen von Auftraggebern zu dienen. Wissenschaft soll te insbesondere auch nicht in den Dienst von Ideologie und Unterdrückung gestellt werden.
- Organized Scepticism: Sowohl in den Forschungsmethoden wie in der institutionellen Absicherung der Forschung muss gewährleistet sein, dass ein abschließendes Urteil erst gefällt wird, wenn alle nötigen Fakten zur Verfügung stehen. Wissenschaftler sollen daher systematisch zweifeln und nicht an Überzeugungen dogmatisch festhalten, d. h., grundsätzlich soll jede Aussage kritisierbar und bezweifelbar sein und auch bezweifelt werden.
Folgen Wissenschaftler diesem Ethos, so kann Wissenschaft als Ganzes das institutionelle Ziel von Wissenschaft, die Erweiterung abgesicherten Wissens erreichen. Allerdings steht etwa dem wissenschaftlichen Kommunismus mehr und mehr das ökonomische Verwertungsinteresse von Institutionen und Unternehmen gegenüber. Gleiches gilt für das Desinteresse der Forscher an den Ergebnissen ihrer Arbeit, denn in vielen Fällen wie etwa in der Medizin sind wissenschaftliche Ergebnisse ökonomisch wertvoll, sodass die Versuchung, persönlich Vorteile zu erzielen, durchaus groß ist. Auch kann man angesichts der Situation des Bildungswesens in vielen Ländern bezweifeln, ob der Zugang zum Wissen und zur Wissenschaft nur durch das Talent bestimmt ist.
Merton ist außerdem Begründer der Anomietheorie (1938), in der er von einem Widerspruch zwischen den als legitim erkannten kulturellen Zielen einer Gesellschaft wie der Konsum von Statussymbolen und der ungleichen Verteilung der Mittel wie Geld, Einfluss ofrt Beziehungen, mit denen diese Ziele zu erreichen sind, ausgeht.
Literatur
Merton, R. K. (1985). Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen. Aufsätze zur Wissenschaftssoziologie. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Weber, K. (2004). Einführung in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Fakultät für Kulturwissenschaften. Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder.