Reminiscence Bump

Anzeige

Als Reminiscence Bump oder Reminiszenzeffekt wird in der Psychologie jenes Phänomen bezeichnet, dass die Mehrzahl der älteren Menschen sich an zahlreiche Episoden ihres Lebens aus der Zeit zwischen zehn und dreißig Jahren erinnern können, besonders aus der Zeit zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig. Man vermutet, dass sich in dieser Zeit die Identität des Menschen entwickelt, wodurch es zu vielen neuen Erfahrungen kommt, die sich deutlich von anderen Erfahrungen abgrenzen und daher gut enkodiert werden. Der Grund liegt darin, wie das Gehirn mit Erinnerungen umgeht, denn neue Eindrücke und Sinnesreize speichert das Gehirn besser ab als deren Wiederholungen. Das Gehirn arbeitet bekanntlich selektiv und einmal gemachte Erfahrungen werden dabei als besonders wertvoll behandelt, häufig wiederholte hingegen verschwinden in der Masse des bereits Erlebten. In der Regel haben junge Menschen in ihrem Leben noch nicht so viele Erfahrungen gesammelt, weshalb bei ihnen jeder Tag, jede Stunde ein erstes Mal enthalten kann, das erinnernswert erscheint. Daher fällt es älteren Menschen besonders leicht, aus ihrer Jugend zu erzählen, während die Erinnerung an Ereignisse aus dem vergangenen Monat oft schon vergessen sind.

Der Reminiszenz-Bump wurde durch die Untersuchung des autobiografischen Gedächtnisses und die anschließende Aufzeichnung des Alters der Kodierung von Erinnerungen identifiziert, um eine Lebensspannen-Abrufkurve zu bilden. Diese Lebensspannen-Abrufkurve ist eine Grafik, die die Anzahl der autobiografischen Erinnerungen anzeigt, die in verschiedenen Altersstufen der Lebensspanne erinnert wurden. In der Regel besteht die Lebensspannen-Abrufkurve aus drei Abschnitten: Von der Geburt bis zum Alter von fünf Jahren ist die Periode der kindlichen Amnesie, von 16 bis 25 Jahren ist der Reminiszenz-Buckel oder Reminiszenzhöcker, und zuletzt ist eine Periode des Vergessens vom Ende des Reminiszenz-Buckels bis zur Gegenwart. Dieser Reminiszenz-Buckel tritt auf, weil die Gedächtnisspeicherung im autobiografischen Gedächtnis nicht konsistent über die Zeit ist, vielmehr nimmt die Gedächtnisspeicherung in Zeiten von Veränderungen des Selbst und der Lebensziele zu, wie z.B. die Veränderungen der Identität, die vor allem während der Adoleszenz auftreten.

Erfahrungen aus dieser Zeit bilden oft Modelle für die Zukunft und die Grundlage für kognitive Strukturen, geprägt vor allem durch Neuheit und Stabilität. Charakteristisch dafür sind etwa die überproportional starken Erinnerungen und Präferenzen für die Musik, die man in der eigenen Jugend gehört hatte. Man erklärt das u. a. damit, dass das mesolimbische System im Gehirn, das wesentlich für das Empfinden von Freude ist, von der Musik in der Jugendzeit stark stimuliert wird, sodass stabile Verknüpfungen zwischen Erinnerungen, Emotionen und dem musikalischen Input entstehen. Spätere Erfahrungen von Musik führen dann zu deutlich weniger starken Verknüpfungen und bleiben daher vergleichsweise blass.

Kosak, Kuhbandner & Hilbert (2019) untersuchten bei Probanden und Probandinnen einer Studie, wie sie das Vergehen der Zeit der letzten fünf Jahre entweder vor oder nach dem Abrufen möglichst vieler wichtiger autobiographischer Ereignisse aus den letzten fünf Jahren beurteilen. Die Aktivierung von Erinnerungen vor der Beurteilung verlangsamte den erlebten Zeitablauf, aber nur, wenn die Teilnehmer mindestens vier Erinnerungen abrufen konnten. Bei Teilnehmern, die sich an weniger als vier Erinnerungen erinnerten, wurde der gegenteilige Effekt gefunden, d. h., nur wenige aktivierte Erinnerungen hatten überhaupt einen beschleunigenden Effekt. Interessanterweise nahm die erlebte Geschwindigkeit der Zeit mit steigender Anzahl aktivierter Erinnerungen nicht kontinuierlich ab, denn unterhalb und oberhalb der Schwelle von vier Erinnerungen waren Zeitverlaufsurteile unabhängig von der Anzahl der aktivierten Erinnerungen. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Zeitverlaufsurteile auf aktuell aktivierten Erinnerungen beruhen, was darauf hindeutet, dass das weit verbreitete Phänomen des Verfliegens der Zeit den Effekt einer Erinnerungsheuristik widerspiegelt.

Musik unterstützt den Reminiscence Bump

Vor allem Musik aus der Teenagerzeit prägt das musikalische Gedächtnis, denn Musik besitzt die Fähigkeit, Emotionen und Erinnerungen über Jahrzehnte hinweg lebendig zu halten. Schon wenige Takte eines alten Songs genügen, um Menschen in vergangene Sommer, Freundschaften oder Lebensphasen zurückzuversetzen. Dieses Phänomen ist eng mit der Funktionsweise des jugendlichen Gehirns und mit sozialen wie biologischen Entwicklungsprozessen verknüpft. Forschungen zeigten, dass die „musikalische Identität“ in der Jugend entsteht – allerdings geschlechtsspezifisch geprägt ist. Während Männer ihre emotional bedeutsamsten Songs meist im Alter von etwa 16 Jahren erleben, erreichen Frauen diesen musikalischen Höhepunkt durchschnittlich mit 19 Jahren. Diese Differenz lässt sich durch unterschiedliche psychologische und soziale Dynamiken während der Adoleszenz erklären: Männer nutzen Musik in dieser Phase häufig zur Abgrenzung und Identifikation mit Gleichaltrigen, während Frauen sie stärker als Ausdrucks- und Verarbeitungsmedium für Gefühle und Beziehungen verwenden. Diese tiefere emotionale Auseinandersetzung über einen längeren Zeitraum könnte erklären, warum die prägenden Songs bei Frauen später auftreten. Das Phänomen folgt ebenso dem Reminiscence Bump, wonach Erlebnisse aus der Jugend überproportional häufig erinnert werden (Jansari & Parkin, 1996). Diese Phase markiert eine besonders plastische und empfindliche Zeit im Leben: Das Gehirn befindet sich noch in der Entwicklung, die neuronalen Strukturen für Emotion und Gedächtnis – insbesondere Hippocampus, Amygdala und präfrontaler Cortex – sind besonders aktiv und aufnahmefähig. Das Zusammenspiel aus hoher emotionaler Intensität, Neuheitserfahrungen und biologischer Sensibilität führt dazu, dass Musik aus der Jugend tiefer gespeichert wird als Klänge anderer Lebensphasen. Das jugendliche Gehirn ist dabei neugierig, empfänglich, belohnungssensitiv und noch nicht durch kognitive Kontrolle gebremst, so dass sich emotionale Erlebnisse – wie das Hören eines Lieblingssongs – dauerhaft in neuronalen Netzwerken verankern. Studien zeigten auch, dass sich die Beziehung zu Musik im Laufe des Lebens unterschiedlich weiterentwickelt, denn während Männer ihre musikalischen Vorlieben und emotionalen Bindungen an Jugendmusik über Jahrzehnte hinweg nahezu unverändert beibehalten, passen Frauen ihre musikalischen Bezugspunkte dynamischer an. Im höheren Alter verschiebt sich bei vielen Frauen der emotionale Schwerpunkt hin zu Musik aus späteren Lebensabschnitten. Diese Flexibilität hängt vermutlich damit zusammen, dass Musik für Frauen stärker in emotionale und soziale Prozesse des Alltags integriert bleibt. Männer hingegen erleben Musik eher als retrospektive „Zeitkapsel“, die ein Gefühl von Identität und Erinnerung konserviert. Biologische Faktoren wie unterschiedliche Entwicklungsrhythmen in der Pubertät spielen ebenso eine Rolle wie kulturelle und soziale Prägungen. Musik fungiert hier nicht nur als persönlicher Erinnerungsspeicher, sondern auch als intergenerationale Verbindung: Schon im Mutterleib nehmen Menschen Klänge auf, die ihre Eltern hören, und verknüpfen sie später mit frühen emotionalen Erfahrungen. Dadurch verwebt sich Musik zu einem vielschichtigen Gedächtnisarchiv, das nicht nur individuelle, sondern auch familiäre und kulturelle Biografien bewahrt. Ähnlich wie Gerüche umgeht sie sprachliche Filter und ruft Emotionen direkt hervor – eine Form des Erinnerns, die spontan, körperlich und zutiefst menschlich ist . Die Musik der Jugend ist daher nicht zufällig so stark mit Emotionen und Identität verknüpft, denn sie ist ein Produkt der neurobiologischen Plastizität, sozialer Entwicklung und kultureller Einbettung. Der Soundtrack des Lebens“spiegelt damit nicht nur persönliche Vorlieben wider, sondern markiert jene Phase, in der sich das Selbst formt – und in der das Gehirn, der Körper und die Gefühle in einzigartiger Resonanz zueinander stehen.

Literatur

Jansari, A., & Parkin, A. J. (1996). Things that go bump in your life: Explaining the reminiscence bump in autobiographical memory. Psychology and Aging, 11(1), 85–91.
Kosak, F., Kuhbandner, C. & Hilbert, S. (2019). Time passes too fast? Then recall the past! Evidence for a reminiscence heuristic in passage of time judgments. Acta Psychologica, doi:10.1016/j.actpsy.2019.01.003.
Stangl, W. (2021). Warum für manche Menschen die Zeit so schnell vergeht – Notiert!. Was Stangl so notiert.
WWW: https://notiert.stangl-taller.at/psychologie/warum-fuer-manche-menschen-die-zeit-so-schnell-vergeht/ (21-03-24).
Steiner, Kristina L.,  Pillemer, David B., Thomsen, Dorthe Kirkegaard &  Minigan, Andrew P. (2013). The reminiscence bump in older adults‘ life story transitions. Memory, 27, 1-8.
Stangl, W. (2025, 23. Oktober). Musik aus der Teenagerzeit prägt das musikalische Gedächtnis. was stangl bemerkt ….
https:// bemerkt.stangl-taller.at/musik-aus-der-teenagerzeit-praegt-das-musikalische-gedaechtnis.


Impressum ::: Datenschutzerklärung ::: Nachricht ::: © Werner Stangl :::

Schreibe einen Kommentar