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Alltagstheorien

    Sechs Wörtchen nehmen mich in Anspruch jeden Tag:
    Ich soll, ich muß, ich kann, ich will, ich darf, ich mag.
    Friedrich Rückert

    Kurzdefinition: Alltagstheorien sind die oft miteinander unverbundenen Theorien und Überzeugungen, die sich Menschen aus ihren Erfahrungen bilden und nach denen sie handeln, auch wenn sie sich dessen gar nicht bewusst sind. Alltagstheorien können individuell sein oder auch von anderen geteilt werden, und sind in allen Lebensbereichen wirksam.

    Psychologische oder pädagogische Alltagstheorien bezeichnen somit die konkreten Denkhaltungen eines Menschen ihrem eigenen Wissen und dessen Gebrauch gegenüber. Menschen finden sich auf Grund des im Laufe ihres eigenen Lebens erworbenen Verhaltensrepertoires zurecht, denn sie verfügen über subjektiv gesichert erscheinende Bestände an Überzeugungswissen, um ihren Alltag bei psychologischen oder pädagogischen Aufgaben bewältigen zu können, bilden aber vergleichbar Wissenschaftlern in ungewissen Situationen auch Hypothesen, prüfen diese, finden sie bestätigt oder verwerfen diese. Verdeckte Alltagstheorien bewusst zu machen und ihre Qualität kritisch beurteilen zu lehren, ist eine wichtige Aufgabe der Pädagogik.

    Alltagstheorien bilden somit das verinnerlichtes Wissen, das Menschen mehr oder minder routiniert in individuellen oder kollektiven Situationen in der Öffentlichkeit oder im Familienkreis einsetzen. Diese Verhaltensmöglichkeiten sind durch Traditionen, Alltagsbräuche und soziale Normen geprägt und umfassen neben Einstellungen, Deutungen, Regeln, Handlungsmuster, Ordnungsvorstellungen vor allem Wertorientierungen aus dem eigenen Kulturkreis. Alltagstheorien spiegeln somit persönliche Erfahrungen und die individuelle Auseinandersetzung mit eigenen Erlebnissen wider, enthalten Werte und Normen, die es in der Gesellschaft gibt und setzen sich mit ihnen auseinander, wobei der Rückgriff auf tradiertes Wissen eine schnelle Orientierung in Alltagssituationen ermöglicht. Einige Beispiele: Wer als Kind geschlagen wird, wird später auch seine Kinder schlagen. Menschen handeln immer so, dass sie persönlich den größten Nutzen aus ihrem Handeln ziehen.

    Das aus den Alltagstheorien abgeleitete Repertoire ist bestimmt von den Erfahrungen, die der Mensch in seinem Leben macht, wobei sich allgemeine Vorgaben und individuelle Eindrücke wechselseitig beeinflussen. Alltagstheorien mit ihrem eingegrenzten Repertoire haben oft den Vorteil, dass dadurch schnell und angemessen, d.h., vor allem sozial adäquat, reagiert werden kann und der Alltag ohne Komplikationen zu bewältigen ist. Die Nachteile von Alltagstheorien sind jedoch, dass das Alltagswissen beschränkt sein kann, um jede Situation zu meistern, sodass sich auch Erwachsene beständig Wissen aneignen müssen, um sich durch ein erweitertes Repertoire neuen Anforderungen stellen zu können. Alltagstheorien basieren letztlich auf verinnerlichten Sozialisations- und Enkulturationsprozessen und schließen in der Regel weder spezifische Fach- noch Berufskenntnisse ein. Da Alltagstheorien oft von vielen geteilt werden, führen sie oft zu Vorurteilen und beeinflussen etwa die Haltung gegenüber Ausländern oder gegenüber Minderheiten, die Freizeitgestaltung und die Art und Weise, wie man persönlich Werte in der Öffentlichkeit vertritt, aber auch, ob man es für wichtig hält, sich täglich die Zähne zu putzen oder in einem Konzert angemessen gekleidet zu sein. Je umfassender der Referenzrahmen einer Alltagstheorie ist, desto stärker ist auch die Erklärungskraft von Alltagstheorien, die dann häufig zu Ideologien beitragen.

    Das Problem, das die Wissenschaft mit diesen meist als subjektiv oder naiv bezeichneten Theorien hat, ist das Fehlen von empirischen bzw. operationalen Definitionen, denn die Begriffe von Alltagstheorien sind meist unpräzise und ungenau und daher auch nur schlecht überprüfbar. Wissenschaftliche Theorien und die damit verbundenen erfahrungswissenschaftlichen Theorien müssen bekanntlich eindeutigen Bewertungsmaßstäben entsprechen, anhand derer festgestellt werden kann, ob sie sich als Erklärungsinstrument eignen. Diese zentralen Bewertungskriterien sind unter anderem die empirische Gültigkeit der Theorie, der empirische Nachweis zur Bestätigung der Hypothesen, die Prüfbarkeit, also die öffentliche wiederholbare und wiederholte Nachprüfbarkeit der Theorie, die interne Konsistenz, logische Kohärenz und Widerspruchsfreiheit der Theorie, und schließlich die Fähigkeit der Theorie, Prognosen zu ermöglichen.

    Siehe dazu auch Alltagspsychologie.

    Literatur

    Dietrich, G. (1985). Erziehungsvorstellungen von Eltern. Ein Beitrag zur Aufklärung der subjektiven Theorie der Erziehung. Göttingen: Hogrefe.
    Laucken, U. (1974). Naive Verhaltenstheorie. Stuttgart: Klett.


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