Immer wieder erstarren Menschen kollektiv, die einen dramatischen Vorfall wie eine zusammenbrechende Person, einen Verkehrsunfall oder einen Überfall beobachten, und tun nicht, wobei oft nicht einmal die Polizei gerufen wird. Rund jeder sechste Mann und jede achte Frau wurden nach einer Umfrage an 1034 Personen in der BRD nach eigenen Angaben schon einmal in der Öffentlichkeit angegriffen, ohne dass ihnen jemand zu Hilfe eilte.
Menschen werden vor allem in der großen Menge zu passiven Zuschauern anstatt zu aktiven Helfern. In der Psychologie und Soziologie nennt man das Bystander-Effekt oder ausführlicher „non-helping-bystander-effect“ (Zuschauereffekt, Zuschauer-Effekt), bei dem die Bereitschaft etwas zu tun geringer ist, je mehr Menschen anwesend sind. Offensichtlich bedeutet die Anwesenheit von vielen Menschen, dass eine Situation weniger bedrohlich ausschaut.
Auch wenn man Gewalt „nur beobachtet“ versetzt das viele Menschen in Angst und zwar so sehr, dass sie die Situation falsch wahrnehmen und beurteilen, d.h., sie sind unfähig zu denken und zu handeln. Manchmal ist das eine Abwägung, was bringt mir das, wenn ich bleibe? Was habe ich für Einbußen, für Verluste? Was gewinne ich davon auch? Viele Menschen glauben, das Einzige, was sie tun können ist, sich wie ein Held zwischen Täter und Opfer zu werfen, aber die meisten Menschen trauen sich das nicht zu. Wer sich zwischen Täter und Opfer stellt, läuft schließlich Gefahr, selber Opfer der Aggression zu werden. Besonders selten erhalten jene Menschen Hilfe, die ohnehin zu den Schwächsten der Gesellschaft zählen, denn schon die Aktivierung sozialer Kategorien wie „Obdachloser“ fördert das Wegsehen. Man sollte in solchen Situationen ruhig bleiben, andere mit in die Aktion Boot holen, sich zusammenschließen, denn einer allein kann man wenig ausrichten. Je mehr Menschen sich für die Situation interessieren, desto besser. Es wird auch empfohlen, statt sich einzumengen, eher Verwirrung zu stiften., indem man eine Arie singt, immer wieder nach der Uhrzeit oder nach dem Weg fragt.
Wissenschaftler empfehlen Opfern, sich mit ihren Hilferuf nicht an die Allgemeinheit zu richten, sondern ganz gezielt eine Person herauszusuchen und an diese zu appellieren. Damit kann die in solchen Situtationen auftretende Verantwortungsdiffusion aufgebrochen werden.
Es gibt Kurse, in denen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in simulierten Notfallsituationen angemessene Reaktionen üben, etwa verbales Einschreiten oder die Polizei und Zeugen zu Hilfe zu holen, denn ist das Hilfeverhalten einmal gedanklich verankert, sind Menschen eher bereit, im Notfall zu handeln, auch ohne etwaige Vor- und Nachteile lange abzuwägen.
Anmerkung: Der Mensch ist eigentlich von Natur aus sozial und hilfsbereit, wobei die menschliche Kultur vor allem durch Kooperation entstanden ist. Allerdings ist der Mensch von der Evolution her nicht auf Situationen angelegt, in denen er auf Fremde trifft, sondern er ist darauf angelegt, vor allem jenen Menschen zu helfen, die er gut kennt. Dabei dürfen das auch nicht zu viele sein, denn der Mensch hat sich in überschaubaren Gruppen entwickelt, wie es sie etwa noch auf dem Land gibt. Das Leben in der Stadt läuft unter völlig anderen Bedingungen ab, sodass die menschliche Hilfsbereitschaft in Extremsituationen auf engere Beziehungen beschränkt bleibt.
Darley & Batson (1973) untersuchten, wie hilfsbereit Menschen sind und wie sehr äußere Umstände moralische Entscheidungen beeinflussen. Dabei sollten Theologiestudenten vorgeblich an einer Studie über religiöse Erziehung und Berufung teilnehmen, wobei eine Gruppe einen Vortrag über Berufsaussichten und eine andere einen über die biblische Parabel vom barmherzigen Samariter vorbereiten sollten. Danach schickte man die Probanden zu einem anderen Gebäude, wo sie ihre kleine Rede halten sollten. Ein Drittel der Teilnehmer wurde leicht unter Zeitdruck gesetzt, denn man sagte ihnen, sie sollten geradewegs zum Vortragsraum gehen, denn man erwarte sie schon. Einem weiteren Drittel sagte man, sie seien schon zu spät dran, sodass höchste Eile geboten sei. Den übrigen ließ man ausreichend Zeit für den Weg. Unterwegs kamen die Probanden an einem Mann vorbei, der zusammengekrümmt dalag, stöhnte und hustete. 63 Prozent der Probanden der letzten Gruppe, die viel Zeit hatten, halfen dem Mann, doch sobald sich die Studenten unter Druck fühlten, sank die Hilfsbereitschaft, wobei die erste Gruppe immerhin zu 45 Prozent half, während es von der zweiten Gruppe nur mehr 10 Prozent waren. Auch die Studenten, die einen Vortrag über das Gleichnis des barmherzigen Samariters vorbereitet hatten, ignorierten dabei den Hilfsbedürftigen.
Eine neue Untersuchung (Philpot et al., 2019), bei der man Überwachungsbilder von Gewaltsituationen im Vereinigten Königreich, Südafrika und den Niederlanden auswertete, stellte aber fest, dass in neunzig Prozent der Fälle mindestens eine Person (typischerweise jedoch mehrere) intervenierte und versuchte zu helfen. Auch nahm die Wahrscheinlichkeit einer Intervention mit der Anzahl der Zuschauer zu, was dem hier beschriebenen Zuschauer-Effekt widerspricht. Die Wahrscheinlichkeit einer Intervention war in allen drei Ländern ähnlich, obwohl Südafrika im Durchschnitt deutlich niedrigere Wahrnehmungen der öffentlichen Sicherheit und ein höheres Maß an Gewalt aufwies. Es zeigt sich in dieser Untersuchung also, dass Menschen eine natürliche Neigung haben zu helfen, wenn sie jemanden in Not sehen. Man will nun untersuchen, wie spezifische Faktoren wie die Größe des Täters oder ob sie eine Waffe besitzen, die Wahrscheinlichkeit des Eingreifens beeinflusst.
Anmerkung: Der Einfluss, den das Leben in der Großstadt auf das menschliche Gehirn hat, ist noch kaum erforscht. Immerhin weiß man, dass die Bewohnern einer Metropole weitaus mehr an Angst- und Affektstörungen leidenden als die Bewohnern auf dem Land. Im Gehirn eines Stadtbewohners reagiert die Amygdala auf Stresssituationen wie Bedrohungen und Herausforderungen wesentlich schneller und auch überschießender. In der Großstadt muss das Gehirn einerseits in ständiger Bereitschaft sein und unzählige Reize verarbeiten, andererseits muss es in einer Form der Anpassung oder Abstumpfung bleiben, die es ihm erlaubt, Energie zu sparen. Deshalb gehen die Menschen in Großstädten auf der Straße auch schweigend und blickvermeidend aneinander vorbei, als würde sich jeder in seinem eigenen Korridor bewegen, und sie agieren erst dann, wenn etwas ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht, wenn eine kommunikative Verdichtung eintritt, wenn sie etwa vor der Herausforderung einer sozialen Interaktion stehen. Der Bewohner einer Metropole wird also erst aufmerksam, wenn er entweder eine Bedrohung empfindet oder neue Möglichkeiten und einen damit verbundenen Nutzen erkennt.
Historisches: Die Untersuchungen zum Bystander-Effekt gehen von einer Bluttat in den USA aus, d. h., zurückgeführt wird dieses Phänomen auf den Mord an Kitty Genovese. Eine 28-jährige New Yorkerin wurde am 13. März 1964 ganz in der Nähe ihrer Wohnung vergewaltigt und erstochen. Der Angriff dauerte über eine halbe Stunde. Spätere Untersuchungen ergaben, dass mindestens 38 Menschen zumindest Teile des Angriffs beobachtet oder gehört hatten, aber allesamt nichts unternahmen. Die „New York Times“ titelte damals: „Thirty-Eight Who Saw Murder Didn’t Call the Police“. Am Ende des Artikels las man die Aussage eines Nachbarn, der sein Nichtstun damit erklärte, dass er nicht darin verwickelt werden wollte. Der Mord an dieser Frau wurde zum Sinnbild für menschlichen Egoismus, Gefühlskälte und Apathie gegenüber einem sich in Lebensgefahr befindlichen Mitmenschen. Die damaligen wissenschaftlichen Expertisen zeigten auch, dass eine große Zahl an potenziellen Helfern die Hilfsbereitschaft des Einzelnen verringert. Diese New Yorker Untat ging in die Fachliteratur als Genovese-Syndrom ein und wird auf den Umstand zurückführt, dass sich zu viele der Augenzeugen auf den jeweils anderen verlassen hatten. Diese werden schon die Polizei alarmiert haben, so dürfte – neben der Angst, selbst zum Opfer zu werden – die subjektive Rechtfertigung gewesen sein. Der Täter, Winston Moseley gestand nach seiner Festnahme nicht nur den Mord an Genovese, sondern auch zwei weitere Morde mit sexuellen Übergriffe. Psychiatrische Untersuchungen lassen vermuten, dass es sich bei dem Täter um einen Nekrophilen handelt.
Literatur
Darley, J. M. & Batson, D. (1973). From Jerusalem to Jericho: A study of situational and dispositional variables in helping behavior. Journal of Personality and Social Psychology, 27, 100–108.
Philpot, R., Liebst, L. S., Levine, M., Bernasco, W., & Lindegaard, M. R. (2019). Would I be helped? Cross-National CCTV Shows That Intervention Is the Norm in Public Conflicts. American Psychologist.
https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/MOTIVATION/Neugier.shtml (09-04-18)
http://www.berliner-zeitung.de/25002272 (16-11-01)
https://www.nzz.ch/feuilleton/and-who-are-you-talking-to-laengst-hat-sich-die-grossstadt-den-weg-in-das-hirn-des-modernen-menschen-gebahnt-ld.1485354 (19-06-29)