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Hypothese

    Unter dem Begriff Hypothese versteht man in der Regel eine Aussage, die eine noch nicht bestätigte Vermutung ausdrückt, meist zum Zweck der Erklärung eines Sachverhalts. Nach der Form unterscheidet man singuläre und allgemeine Hypothesen, deterministische und statistische, gesetzesartige und Korrelationshypothesen. An eine empirisch-wissenschaftliche Hypothese wird die Forderung nach empirischer Prüfbarkeit erhoben. Der Begriff hypothetisch drückt daher die Ungewissheit bezüglich der Wahrheit aus. Da nach der heute überwiegenden Auffassung in den empirischen Wissenschaften keine absolute Sicherheit erreichbar ist, bleibt jede Aussage mit Informationsgehalt auch nach empirischer Bestätigung prinzipiell hypothetisch.

    1. Definition
    Laut dem Handbuch der Psychologie sind Hypothesen empirisch prüfbaren Sachaussagen, deren Zutreffen noch offen steht und in einer Studie geprüft werden soll. In der Psychologie beziehen sich Hypothesen auf Merkmale des Erlebens und des Verhaltens sowie ihrer Rahmenbedingungen (vgl. Pawlik 2006, S. 17).
    2. Definition
    „Vorläufige (vermutete) Antworten, die Forscher auf ihre Fragen geben, nennt man Hypothesen. Die Überprüfung eines spezifischen Teils dieser Hypothesen, nämlich kausaler Hypothesen, ist Gegenstand des Experiments“ (Hussy & Jain, 2002, S. 33).
    3. Definition
    Psychologisch gesehen wird bei einer Hypothese eine Abhängigkeitsbeziehung zwischen Sachverhalten vermutet. Diese Beziehungen sind auf Wenn-Dann-Aussagen gefasst oder können auf diese Form zurückgeführt werden (z.B. „Wenn ein Vorgesetzter seinen Mitarbeiter besonders lobt, dann erhöht der Mitarbeiter seine Arbeitsleistung“). Es gilt, sie unter kontrollierten Bedingungen an der Realität zu überprüfen. Erst dann kann man von einer gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnis sprechen (vgl. Franke & Kühlmann 1990, S. 40).
    4. Definition
    Wissenschaftliche Hypothesen sind Arten von Vermutungen, vorläufige Problemlösungen, theoretische Ableitungen und Vorhersagen, die empirischen Untersuchungen vorgeordnet sind (vgl. Bredenkamp & Feger 1983, S. 27).
    5. Definition
    Das Wort Hypothese lässt sich aus dem griechischen „hypothesis“ = Unterstellung ableiten. Hypothesen sind psychologisch fundierte Annahmen. Die Unsicherheit bezüglich des Zutreffens einer Hypothese ist eine temporäre, sie kann im Zuge des Lösungsvorgangs verändert, im Extremfall sogar durch einen späteren Akt der Verifikation oder Falsifikation beseitigt werden. Typische Beispiele für eine solche Verwendung des Hypothesenbegriffs sind etwa die Problemlösungstheorien, mit den Phasen (1) suggesion, (2) intellectualization, (3) the guiding idea, hypothesis, (4) reasoning und (5) testing the hypothesis by action (vgl. Groner 1978, S. 12f).

    Eine Hypothese ist eine Antwort auf eine Frage nach wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, die provisorisch als wahr angenommen wird und deren Zweck in der Vorhersage im Rahmen einer wissenschaftlichen Hypothesenprüfung liegt. Eine Theorie wird häufig als ein System von Hypothesen aufgefaßt. Die Bildung von Hypothesen kann beispielsweise durch bestimmte Verfahren der Datenanalyse (z.B. Faktorenanalyse) ermöglicht werden. Andere Quellen von Hypothesen sind eine intensive Beschäftigung mit dem Gegenstandsbereich und eine gute Beschreibung des Problems. Liegen zu wenige Informationen für die präzise Formulierung einer Hypothese vor, dann läßt sich eine explorative Studie zur Präzisierung durchführen. Folgende Arten von Hypothesen lassen sich unterscheiden:

    Universelle Hypothesen sollen für alle Fälle eines bestimmten Bereichs gelten. Strikt universelle Hypothesen gelten ohne Einschränkung für alle Fälle eines Bereichs, quasiuniverselle Hypothesen sind auf bestimmte Teilbereiche eingeschränkt, z.B. auf alle Frauen; sie können falsifiziert werden, aber nicht verifiziert.
    Existentielle Hypothesen behaupten einen Sachverhalt für mindestens einen Fall; sie können verifiziert, aber nicht falsifiziert werden.
    Hypothesen über Anteile hängen mit stochastischen (nichtdeterministischen) Hypothesen zusammen (probabilistische stochastische Hypothese) oder damit, daß ein bestimmter Sachverhalt nur für einen Anteil aller Fälle gilt (statistische stochastische Hypothese). Können nicht alle Elemente des Gegenstandbereichs untersucht werden, sind solche Hypothesen weder verifizierbar noch falsifizierbar.

    Beim Überprüfen von Hypothesen geht es um deren Wahrheit oder Falschheit. Der Nachweis durch Beispiele der in der Alltagspsychologie oft Anwendung findet, genügt aber wissenschaftlichen Kriterien nicht, allerdings ist eine Falsifizierung durch Gegenbeispiele möglich. Die Überprüfung von Hypothesen kann nicht alleine durch logische Argumente erfolgen, sondern es muß auch eine empirische Prüfung erfolgen (wenn sie nicht schon aus logischen Gründen falsch bzw. kontradiktorisch sind).

    Aus der Hypothese wird eine Vorhersage über einen empirischen Sachverhalt gemacht, die postuliert, daß unter bestimmten Bedingungen ein spezielles empirisches Ereignis eintritt. Bei der Realisierung wird aktiv in einem Experiment oder passiv in einer nicht-experimentellen Untersuchung geprüft, ob die Bedingungen zutreffen. Anschließend wird geprüft, inwieweit das oder die beobachteten Ereignisse mit der Vorhersage übereinstimmen. Als Ergebnis des Vergleichs zwischen Vorhersage und Wirklichkeit kann nun die Hypothese als wahr akzeptiert oder als falsch abgelehnt werden. Steht das Ergebnis der empirischen Prüfung im Widerspruch zu der Hypothese, dann gibt es mehrere Möglichkeiten: Die Hypothese kann falsch sein, eine oder mehrere der Zusatzannahmen können falsch sein, oder beides. Voraussetzungen für die Überprüfbarkeit einer Hypothese sind:

    • Widerspruchsfreiheit – während diese Forderung bei Einzelhypothesen vergleichsweise leicht zu realisieren ist, kommt es bei komplexeren Theorien durchaus vor, dass sich Widersprüche einschleichen, die oft nicht auf den ersten Bilck erkannt werden.
    • Kritisierbarkeit, d. h., es muß mögliche Ereignisse geben, die die Hypothese falsifizieren oder deren Bestätigungsgrad absenken. Eine Hypothese muss zumindest prinzipiell widerlegbar sein, d. h., es muss  mögliche Sachverhalte geben, die zu der Hypothese im Widerspruch stehen. Solche Sachverhalte werden als Falsifikatoren bezeichnet. Je mehr Falsifikatoren es für eine Hypothese gibt, desto höher ist ihr empirischer Gehalt.
    • Operationalisierbarkeit, d. h., den in der Hypothese vorkommenden Begriffen müssen beobachtbare Daten zugeordnet werden können.
    • Begründbarkeit, d.h. die Herleitung der Hypothese sollte nachvollziehbar sein.
    • Aufstellen der Hypothese vor der Überprüfung.

    Alle Fälle des Geltungsbereichs einer Hypothese können nur dann untersucht werden, wenn die Zahl der Fälle klein ist. In diesem Fall sind alle Arten von Hypothesen verifizierbar und falsifizierbar. Eine universelle Hypothese, die empirisch geprüft und dabei nicht falisifizert wurde, nennt man bestätigt oder bewährt. Dabei kann man unterschiedliche Grade der Bewährung unterscheiden, je nachdem, wie oft und wie streng eine Hypothesen überprüft wurde. Eine Hypothese mit einem hohen empirischen Gehalt kann auf viele verschiedene Arten falsifiziert werden; zusammen mit einem hohen Bewährungsgrad werden derartige Hypothesen angestrebt. Die Prüfung einer Hypothese sollte dabei möglichst streng erfolgen. Dies wird unter anderem dadurch sichergestellt, daß Wissenschaft auch ein sozialer Prozeß ist (auch andere Wissenschaftler können einen Befund überprüfen).

    Kausalhypothesen, die für alle Mitglieder einer Population gelten sollen, können anhand einer Stichprobe niemals verifiziert, sondern nur falsifiziert werden, denn es kann nie mit Sicherheit ausgeschlossen werden, dass in der Population ein Element existiert, das im Widerspruch zu der Hypothese steht. Geprüft werden Hypothese immer nur für eine ganz bestimmte Operationalisierung auf der Ebene bestimmter statistischer Kennwerte.

    Wahrnehmung als Hypothesenprüfung

    Übrigens funktioniert offenbar die menschliche Wahrnehmung ebenfalls nach dem Prinzip der Hypothesenbildung. Angesichts der Bedeutung, die Vorhersagen für das tägliche Leben haben, könnten Beeinträchtigungen der Art und Weise, wie Erwartungen an die sensorischen Bahnen übermittelt werden, tiefgreifende Auswirkungen auf die Kognition haben. Lese-Rechtschreib-Schwäche, die am weitesten verbreitete Lernstörung, wurde bereits mit veränderter Verarbeitung in der Hörbahn und mit Schwierigkeiten in der auditorischen Wahrnehmung in Verbindung gebracht. Tabas et al. (2020) haben auch gezeigt, warum Menschen mit Lese-Rechtschreibschwäche Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung von Sprache haben. Man maß dabei mittels funktioneller Magnetresonanztomographie die Gehirnreaktionen von Probanden, während diese Tonfolgen hörten. Diese wurden angewiesen, herauszufinden, welcher der Klänge in der Reihenfolge von den anderen abweicht. Die Erwartungen der Probanden wurden so verändert, dass sie den abweichenden Ton an bestimmten Stellen der Sequenz erwarten würden. Man konzentrierte sich dabei auf die Reaktionen, die die abweichenden Geräusche in zwei wichtigen Kernen der Hörbahn, die für die auditorische Verarbeitung verantwortlich sind, auslösten: dem colliculus inferior und dem medialen corpus geniculatum mediale. Obwohl die Teilnehmenden die abweichenden Töne schneller erkannten, wenn sie an Positionen platziert wurden, an denen sie diese erwarteten, verarbeiteten die Kerne der Hörbahn die Töne nur, wenn sie an unerwarteten Positionen platziert wurden. Diese Ergebnisse passen in eine allgemeine Theorie der sensorischen Verarbeitung, die die Wahrnehmung als einen Prozess der Hypothesenprüfung beschreibt, nämlich als prädiktive Kodierung, die davon ausgeht, dass das Gehirn ständig Vorhersagen darüber generiert, wie die physische Welt im nächsten Moment aussehen, klingen, sich anfühlen und riechen wird, und dass die Neuronen, die für die Verarbeitung der Sinne zuständig sind, Ressourcen sparen, indem sie nur die Unterschiede zwischen diesen Vorhersagen und der tatsächlichen physischen Welt darstellen. Offenbar haben die Überzeugungen einen entscheidenden Einfluss darauf, wie Menschen die Realität wahrnehmen, also diese Überzeugungen mit sensorischen Informationen abgleichen, wobei dieser Prozess auch in den einfachsten und evolutionär ältesten Teilen des Gehirns vorherrscht, sodass alles, was Menschen wahrnehmen, durch die subjektiven Überzeugungen über die Welt geprägt ist.

    Literatur

    Bredenkamp, J. & Feger, H. (1983). Hypothesenprüfung. Göttingen: Verlag für Psychologie.Pawlik, K. (2006). Handbuch Psychologie. Heidelberg: Springer Medizin Verlag.
    Franke, J. & Kühlmann, T.M. (1990). Psychologie für Wirtschaftswissenschaftler. Landsberg/Lech: Verlag moderne Industrie.
    Hussy, W. & Jain, A. (2002). Experimentelle Hypothesenprüfung in der Psychologie. Göttingen: Hogrefe-Verlag.
    Groner, R. (1978). Hypothesen im Denkprozess. Bern: Verlag Hans Huber.
    Tabas, Alejandro, Mihai, Glad, Kiebel, Stefan, Trampel, Robert, von Kriegstein, Katharina, Shinn-Cunningham, Barbara, Griffiths, Timothy & Malmierca, Manuel (2020). Abstract rules drive adaptation in the subcortical sensory pathway. eLife, doi:10.7554/eLife.64501.

    http://www.zwisler.de/scripts/methoden/node3.html


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