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transgenerationale Übertragungen

    Traumatische Erlebnisse wie Krieg, sexueller Missbrauch oder schwere körperliche Misshandlung hinterlassen bei den Opfern oft seelische Wunden, unter denen sie ein Leben lang leiden, wobei man heute davon ausgeht, dass diese Traumata auch unbewusst an die nächste Generation weitergegeben werden können. Die Entstehung eines transgenerationalen Traumas beruht auf unverarbeiteten, oft tabuisierten traumatischen Erfahrungen, die sich auf den Umgang der Betroffenen mit ihren eigenen Kindern auswirken können. Symptome können sich in Reaktionsweisen, Vermeidungsverhalten und im Umgang mit emotionaler Nähe und Distanz zeigen. Studien aus der Holocaust- und Kriegsveteranenforschung zeigen, dass Traumata mindestens bis in die dritte Generation weitergegeben werden können.

    Dieser Begriff bezeichnet also das Phänomen, dass eine Generation der anderen ihre Vorstellungen, Verhaltensweisen und auch materiellen Werte weiter gibt. Das Besondere an einem transgenerationalen Trauma ist, dass es kein Ereignis gibt, das diese Gefühle und ihre Intensität erklären könnte, und da die Symptome keine eindeutige Ursache haben, erhalten die Betroffenen oft andere Diagnosen. Es gibt jedoch einige Merkmale, die auf ein vererbtes Trauma hinweisen können:

    • Ein oder mehrere Themen werden in der Familie tabuisiert, und wenn man sie anspricht, reagieren die Angehörigen irritiert und wollen nicht darüber sprechen.
    • Traumatische Erlebnisse der Eltern und Großeltern wie Naturkatastrophen und Kriege, aber auch schwere Unfälle und andere einschneidende Lebenserfahrungen.
    • Familienereignisse, die Jahrzehnte zurückliegen, aber besonders häufig und auffallend emotional angesprochen werden, oft mit Trauer, Wut oder Enttäuschung.
    • Über Jahre anhaltende, scheinbar unbegründete starke Emotionen oder Stimmungsschwankungen der Eltern oder Großeltern, wie extreme Wut oder häufiges Weinen.

    Transgenerationelle Übertragungen spielten vor allem in der Literatur traditionell eine große Rolle, wobei seit der Antike Geschlechterfolgen, Generationen, Familienflüche, Weitergabe von Schicksal, von Verbrechen durch die Generationen hindurch in ganz unterschiedlicher Form thematisiert werden. Vor allem das Genre des Familienromans hat seit jeher das Verhältnis zwischen den Generationen reflektiert, wobei in der neueren Literatur nicht mehr das Schicksal oder der Mythos im Mittelpunkt steht, sondern andere Formen des Austausches etwa in Form des Erinnerns als zentrales Motiv im Familienroman. Erst in jüngster Zeit beschäftigen sich auch Disziplinen wie die Soziologie oder die Psychologie mit transgenerationaler Übertragung, wobei die biologischen Forschung bisher allein die genetische Weitergabe als Faktum akzeptierte. Studien in der Epigenetik legen aber nahe, dass Traumata sich über epigenetische Wirkmechanismen auf die Gene auswirken und somit an nachfolgende Generationen weitergegeben werden können. Beispielsweise wurde bei Kindern von Überlebenden des World Trade Center-Anschlags eine niedrige Cortisol-Produktion festgestellt, was mit einer Anfälligkeit für posttraumatische Belastungsstörungen in Verbindung gebracht wird. Cortisol ist ein Hormon, das vom Körper produziert wird und eine Schlüsselrolle bei der Regulation von Stoffwechsel, Immunsystem und Stressreaktion spielt.

    Manche Experten sind etwa der Ansicht, dass einige psychische Störungen und körperliche Erkrankungen von Männern ihren Ursprung auch in transgenerationalen Traumata haben, als viele Männer traumatisiert aus dem Krieg zurückkamen, sich dann finanziell zwar um ihre Familien gekümmert haben, emotional aber eigentlich nicht ansprechbar waren. Diese Haltung wurde an die folgenden Generationen weitergegeben, an die Söhne und Enkel, die sich ebenso emotional zurückgezogen haben wie ihr Vater und ihr Großvater. Aufgrund dieser eigenen Beziehungsstörung fehlt dann den Vätern oft die persönliche, enge Verbindung mit den Kindern, sodass innerlich abwesende Väter ihren Söhnen keine guten Vorbilder sein können, ebenso wenig wie Väter, die sich in ihren Beruf flüchten.

    *** Hier KLICKEN: Das BUCH dazu! *** Der Übertragungsbegriff stammt eigentlich aus der Psychoanalyse, und bezeichnet dort jenes Phänomen, dass in der Elterngeneration manches traumatisch verursacht ist, was dann über nonverbale Kanäle in die Geschichte der Kinder eindringt, weil das Trauma in der Elterngeneration nicht bewältigt worden war, sondern sich über Ängste und Abwehrmechanismen gegen die traumatische Erfahrung im Leben der Kinder manifestiert. Vor allem in Bezug auf Erinnerungen schließen die Traumatisierten manchmal mit ihren Nachkommen einen Pakt des Schweigens, denn worüber z.B. nicht gesprochen wird, wirkt im Leben eines Kindes weiter und kann es unter Umständen belasten. Zwar kommt noch die genetische Ausstattung hinzu, doch ist diese von der später erworbenen Identität kaum zu trennen, wobei nach den Untersuchungen der Epigenetik manche traumatischen Erfahrungen sogar auf die Gene einwirken können. Daher muss in diesem Bereich die Frage nach Anlage oder Umwelt nach heutigem Wissen offen bleiben, denn mit der Entdeckung epigenetischer Prozesse ist die Grenze zwischen dem, was nachfolgende Generationen aus der Umwelt übernehmen oder erben, verwischt worden.

    Jeder Mensch benötigt bekanntlich zu seinem Wachstum und seiner Reifung eine passende Umwelt, wobei er nach der Geburt diesem Umfeld zunächst eher ausgeliefert ist und von ihm geprägt wird. Erst später hat er mehr oder weniger die Möglichkeit, durch neue Erfahrungen zu lernen und einen Erfahrungsschatz zu erwerben, was durch die Plastizität des Gehirns bis ins hohe Alter erhalten bleibt. Sehr frühe Erfahrungen sind der späteren Erinnerung oft entzogen, wobei sich sehr intensive und häufig wiederholende Erfahrungen besonders stark einprägen und kaum korrigierbar sind. Manche der früh eingeprägten Erfahrungen werden zu Selbstverständlichkeiten und sind kaum reflektier- und hinterfragbar. Solche Sozialisationserfahrungen gehen auch über Generationen hinweg in den Erfahrungsschatz ein, d.h., sie werden transgenerationell vererbt.

    Kinder sind deswegen so natürlich und spontan, weil sie noch weniger innere Bilder verinnerlicht haben, nach denen sie sich verhalten. Da jeder Mensch unterschiedliche Erfahrungen gemacht hat, sieht er die Umwelt mit anderen Augen und Bildern, wodurch die Subjektivität der Wahrnehmung und die Individualität des Menschen entstehen. Die Wahrnehmung eines Gegenstandes oder eines Menschen wird bei zwei Individuen also nie absolut identisch sein. Von außen betrachtet gehören zu dieser Umwelt auch das Selbst, die eigene Person und Identität. Die Identität setzt sich also aus Erfahrungen mit dem primären Umfeld und späteren Erfahrungen zusammen. Traumata wie der Verlust einer Bezugsperson, Vernachlässigung, überfordernde Aufträge wie bei der Paternalisierung, der Rollenumkehr, intensive oft nicht ausgesprochene Ängste und Aggressionen des Umfeldes, verbitterte, unauflösliche Streitigkeiten, Misshandlungen und körperliche und sexuelle Gewalt sind mit intensiven Entwertungen, Demütigungen, rigiden Normen und Verboten, Schuld, Schande und Blamage, einer narzisstischen Entwertung, verbunden.

    Transgenerationale Traumatisierung in Familien sollte bei einer geplanten Therapie behutsam angesprochen werden, da das Schweigen der Betroffenen ein Schutzmechanismus ist, sodass für einen Wandel Vertrauen, Sicherheit und Erzählraum wichtige Faktoren darstellen. Es kann hilfreich sein, persönliche Fragen und Zweifel in passenden Rahmen, wie Selbsthilfegruppen oder Therapien, zu bearbeiten, wobei spezifische Therapien für transgene rationale Traumatisierung  noch selten sind, doch immer mehr Therapeuten integrieren das Thema in Traumatherapien. Ähnliche Phänomene werden etwa in der in der psychoanalytischen Tradition stehenden Imago Therapie angesprochen.


    Das Jüdische Museum Wien zeigt ab dem 18. September 2024 die Ausstellung „Die Dritte Generation. Der Holocaust im familiären Gedächtnis„. Es heißt dort unter dem Titel „Das Erbe des Holocaust“: „Es gibt keinen Tag in meinem Leben, an dem ich nicht an den Holocaust denke.“ Diese Worte fassen eine Realität zusammen, die für viele Nachkommen von Holocaust-Überlebenden prägend ist. Mehr als 80 Jahre nach der Schoa sterben heute die letzten Zeitzeug*innen. Ihre Geschichte und ihre Traumata wurden an die Generationen der Kinder und Enkelkinder weitergegeben. Während die zweite Generation mit den seelischen und körperlichen Verletzungen ihrer Eltern aufwuchs, blickt die dritte Generation mit größerem zeitlichem Abstand auf die oft nur lückenhaft überlieferte Familiengeschichte. Die Ausstellung ist sowohl eine Einführung in die Thematik als auch eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis der Generationen zueinander. Vererbtes Trauma, das Suchen und Festhalten von Spuren, Erinnerungsreisen und das Erinnern als Auftrag spielen dabei eine zentrale Rolle. Das Bewusstsein, dass das eigene Leben auf dem Überleben anderer beruht, macht Erinnerung und Schweigen, Familienmythen und Geheimnisse, erdrückendes oder fehlendes Familienerbe allgegenwärtig.


    Literatur

    Fannrich, Isabel (2010). Werte, Verhaltensformen, Traumata. Übertragungsprozesse zwischen Generationen.
    WWW: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/studiozeit-ks/1317405/ (10-11-13)
    Holstiege, Bernd (2011). Die traumatisierte Wahrnehmung – Serie: Über die Verstrickungen in der menschlichen Wahrnehmung als Folge der frühkindlichen Erfahrungen und Prägungen und der Erlösungsmythos.
    WWW: http://www.weltexpress.info/ (11-02-25)
    Stangl, W. (2020). Welche Rolle spielen Männer in der Gesellschaft? – ☀ bemerkt.
    WWW: https://bemerkt.stangl-taller.at/welche-rolle-spielen-maenner-in-der-gesellschaft/ (2020-08-01).


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