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semantisches Gedächtnis

    Das semantische Gedächtnis umfasst das Weltwissen eines Menschen und ist in semantischen Netzwerken organisiert. Das semantische Gedächtnis umfasst dabei das gesamte Faktenwissen, das ein Mensch im Laufe seines Lebens anhäuft, also gemeinhin sein Allgemeinwissen. Im semantischen Gedächtnis werden die grundlegenden Bedeutungen von Wörtern, Begriffen und deren Zusammenhänge in abstrakter Form gespeichert. Man geht inzwischen davon aus, dass die Speicherung solcher Gedächtnisinhalte auf der Basis von verbalen und visuellen Codes erfolgt. Dabei werden eher sensorische Informationen und konkrete Sätze als Bilder gespeichert, während abstrakte Sätze eher verbal codiert werden.

    Untersuchungen haben gezeigt, dass das Gehirn von Menschen mit großem Allgemeinwissen besonders effizient vernetzt ist, d. h., je mehr Wissensinhalte ein Mensch gespeichert hat, desto stärker sind die Verknüpfungen verschiedener Gehirnareale. Diese gute Verknüpfung hilft dem Gehirn dabei, die komplexen Teilinformationen des Wissens abzurufen und zu integrieren. Genç et al. (2019) haben mit bildgebenden Verfahren gezeigt, dass das Niveau des Allgemeinwissens eng mit der strukturellen Vernetzung des Gehirns verknüpft ist, und zwar unabhängig von Alter oder Geschlecht. Diese funktionelle Verschaltung des Gehirns fördert nicht nur das Lernen und Merken neuer Informationen, sondern erleichtert offenbar auch ihr späteres Abrufen. Man nimmt an, dass einzelne Wissensinhalte in Form von Teilinformationen über das gesamte Gehirn verstreut abgespeichert sind, und um die Informationen, die in unterschiedlichen Gehirnarealen abgelegt sind, zusammenzufügen und einen Wissensinhalt erfolgreich abzurufen, ist eine effiziente Vernetzung des Gehirns unabdingbar. Eine effizientere strukturelle Vernetzung des Gehirns trägt daher zu einer besseren Integration der Teilinformationen bei und führt somit zu besseren Ergebnissen in einem Allgemeinwissenstest.

    Dabei muss man bedenken, dass Menschen, damit sie überhaupt in der Lage sind, Wahrnehmungen zu haben, sie auf Vorwissen zurückgreifen, das in ihrem Gehirn gespeichert ist. Vorwissen besitzen Menschen zum Teil über die Gene, da die Architektur des Gehirns Ausdruck des Wissens über die Welt ist, und dieses Weltmodell ergänzen sie immer mehr durch eigene Erfahrung. Alle Erfahrungen werden in den Verbindungen zwischen den Nervenzellen gespeichert und im Laufe der Zeit entweder konsolidiert oder abgeschwächt, wobei jeder Mensch ein leicht anderes Schema im Kopf entwickelt. In der dinglichen Welt, in der die Menschen aufwachsen, haben diese daher mit ähnlichen Erfahrungen und ähnlicher genetischer Ausstattung auch ein ähnliches Vorwissen entwickelt.

    In der Regel erinnert man sich aber nicht mehr daran, wann, wo und von wem man dieses Faktum das erste Mal gehört haben. Meist handelt es sich auch gar nicht um ein einziges Lernereignis sondern um eine Vielzahl, die im Gehirn koordiniert und abgelegt werden. Das semantische Gedächtnis ist gewissermaßen zeitlos, ist in der Gegenwart verortet und beinhaltet Fakten, die auch weitgehend unabhängig von anderem Wissen gespeichert wird, etwa dass Wien die Hauptstadt von Österreich ist oder dass eins und eins zwei ergibt.

    Trotz großer individueller Unterschiede in der Gedächtnisleistung erinnern sich Menschen mit großer Beständigkeit an ganz bestimmte Reize, wobei dieses Phänomen als die Einprägsamkeit eines einzelnen Gegenstandes bezeichnet wird. Bisher wurde noch nicht untersucht, ob die Einprägsamkeit auch die Fähigkeit beeinflusst, Assoziationen zwischen Gegenständen abzurufen. So erinnert man sich bekanntlich auch an manche Begriffe leichter als an andere, wobei nach einer Untersuchung von Xie et al. (2020) man auch beim Kernwortschatz zwischen wichtigen und weniger wichtigen Begriffen unterscheidet. Wie gut man sich an ein Wort erinnert dürfte vor allem daran liegen, wie das Begriffsgedächtnis organisiert ist, das man sich wie ein Netzwerk vorstellen kann, in dem inhaltliche ähnliche Begriffe einander näher sind. Versucht man sich gezielt zu erinnern, handelt man sich entlang der Kanten von Wort zu Wort, wobei je weiter der Weg ist, umso länger dauert auch die Suche, d. h., semantische Nähe erleichtert das Erinnern. Ist also ein Begriff mit vielen auf einem relativ kurzen Weg in diesem Netzwerk verbunden, ist er semantisch zentral und liegt an den dichtesten Stellen des Netzwerks. In einem mathematischen Modell mit statistischen Daten von Texten aus Büchern, Zeitungen und dem Internet wurde für 300 in der Studie verwendeten Wörter berechnet, wie semantisch zentral bzw. wie einprägsam diese sind. Das Ergebnis bestätigte die experimentellen Ergebnissen, d.h., es waren die selben Begriffe, die sich die Probanden in den Experimenten besonders gut gemerkt hatten. Die Auswertungen zeigten auch, dass diese Wörter besonders schnell gefunden wurden, wobei sie auch besonders oft als falsche Antwort genannt wurden, da sie offenbar an prominenter Stelle im Netzwerk gespeichert sind. Offenbar priorisiert das menschliche Gehirn bestimmte Informationen, um das spätere Abrufen von Erinnerungselementen zu erleichtern.

    Das semantische Gedächtnis ist neben dem episodischen Gedächtnis ein Teil des expliziten Gedächtnisses, auch Wissensgedächtnis oder deklarative Gedächtnis genannt. Der Ort des deklarativen Gedächtnisses ist im Wesentliche der Neocortex. Das dort gespeicherte Wissen ist bewusst und steht steht also im Gegensatz zum  impliziten Gedächtnis, das sich auf Erleben und Verhalten von Menschen auswirkt, ohne dabei ins Bewusstsein zu treten.

    Man versucht übrigens, einen semantischen Atlas des Gehirns zu erstellen, und zwar mit Hilfe der fMRT-Messung, der zeigt, dass die gleichen semantischen Konzepte wichtiger Begriffe bei verschiedenen Probanden an der gleicher Stelle im Gehirn  liegen. Es zeigte sich in den Untersuchungen auch, dass das semantische System auffallend symmetrisch ist, was der bisherigen Hypothese widerspricht, dass das semantische System vorwiegend in der linken Gehirnhälfte lokalisiert ist.

    [Video: https://www.youtube.com/watch?v=k61nJkx5aDQ]

    Das  semantische  Gedächtnis  wird in der Psychologie auf verschiedene  Weise gemessen, wobei meist einzelne Skalen aus Intelligenztests zur Erfassung des allgemeinen Wissens oder des Wortschatzes benützt werden, um auf das semantische Gedächtnis zu schliessen. Dabei zeigt sich etwa, dass sich die Leistungen älterer Personen nicht von denen jüngerer Personen unterscheiden oder diese teilweise sogar übertreffen.

    Das semantische Gedächtnis ist nach Vignando et al. (2019) auch bei der Einordnung von Lebensmitteln in essbar, giftig, gut und schlecht von Bedeutung, wobei bei der Erkennung von frischen und verarbeiteten Lebensmitteln im Gehirn unterschiedliche Regionen aktiviert werden. Frische Lebensmittel wie Obst und Gemüse würden von jenem Teil des Gehirns wahrgenommen, der für sensorische Wahrnehmungen wie Sehen und Tasten zuständig ist (okzipitalen Cortex), doch bei verarbeiteten Nahrunsgmitteln wie Wurst oder Käse wird der für funktionale Aspekte wie Nährstoffgehalt oder Zubereitung zuständige Teil aktiviert (mittlerer Temporallappen).

    Wie und wo wird im Gehirn komplexes Wissen gespeicher?

    Goltstein et al. (2021) haben untersucht, wie das semantische Gedächtnis im Detail funktioniert, und zwar wie und wo im Gehirn komplexes Wissen gespeichert wird. Dazu trainierte man Mäuse, unterschiedliche Streifenmuster in zwei Kategorien einzuteilen, wofür die Mäuse verschiedene Aspekte abwägen und sowohl die Breite als auch Orientierung der Streifen miteinbeziehen mussten. Nach einer anfänglichen Lernphase ordneten diese die Streifen-Bilder zuverlässig der richtigen Kategorie zu, d. h., sie waren zu Experten geworden und konnten ihr neu erlerntes Kategorie-Wissen ohne weiteres auf andere Muster anwenden, die sie während des Lernens noch nicht gesehen hatten, d. h., sie extrapolierten die Merkmale der Kategorien, die sie als semantische Information gespeichert hatten. Man wollte nun wissen, ob die Informationen über Kategorien bereits im visuellen Cortex, wo visuelle Reize eintreffen und analysiert werden, liegen oder ob diese in höheren Hirnarealen gespeichert werden. Da Nervenzellen im visuellen Cortex auf visuelle Reize an einem bestimmten Ort reagieren, zeigten man den Mäusen zunächst nur Streifenmuster in einem Teil ihres Sehfelds, sodass die Tiere gezielt eine spezifische Nervenzellgruppe trainierten. Verlagerte man die Muster an einen anderen Ort, wurden die Reize von anderen Nervenzellen verarbeitet und die Mäuse konnten nicht mehr so gut kategorisieren. Darüber hinaus führte eine Inaktivierung des visuellen Cortex zu einem ähnlichen Ergebnis, was darauf hindeutet, dass schon Nervenzellen im visuellen Cortex am Erlernen von Kategorien beteiligt sind. Da man wiederholt die Aktivität vieler Nervenzellen gemessen und Veränderungen im Verlauf des Lernens beobachtet hatte, zeigte sich, dass Nervenzellen in diesen Regionen zweierlei Input erhalten: sie reagierten auf einen bestimmten visuellen Reiz und erhielten zusätzlich die Information, wenn die Maus ein Bild der richtigen Kategorie zugeordnet hatte. So können die Nervenzellen wichtige visuelle Reize, die mit Kategorien zusammenhängen, identifizieren und ihre Reaktion daraufhin verstärken. Neuronen im visuellen Cortex sind also in der Lage, ihre Reaktion schon beim Lernen anzupassen, wobei abstrakte Kategorie-Informationen im postrhinalen Cortex gespeichert werden, abstraktes Lernen also bereits auf den ersten Ebenen der visuellen Verarbeitung beginnt.


    Historische Anmerkung: Die Göttin Mnemosyne ist in der Antike die Personifizierung des Gedächtnisses und hat dem Zeus drei Töchter geboren: Melete, die Übung, Mneme, die Erinnerung und Aoide, den Gesang. Durch diese drei Kinder der Mnemosyne wurde in der Antike die Essenz des mnemonischen Prozesses und seine Bedeutung für diese drei Bereiche beschrieben.


    Literatur

    Genç, E., Fraenz, C., Schlüter, C., Friedrich, P., Voelkle, M. C., Hossiep, R., & Güntürkün, O. (2019). The Neural Architecture of General Knowledge. Eur. J. Pers., doi:10.1002/per.2217.
    Goltstein, Pieter M., Reinert, Sandra, Bonhoeffer, Tobias & Hübener, Mark (2021).
    Mouse visual cortex areas represent perceptual and semantic features of learned visual categories. Nature Neuroscience, doi:10.1038/s41593-021-00914-5.
    Vignando, Miriam, Aiello, Marilena, Rinaldi, Adriana, Cattarruzza, Tatiana, Mazzon, Giulia, Manganotti, Paolo, Eleopra, Roberto & Rumiati, Raffaella I. (2019). Food knowledge depends upon the integrity of both sensory and functional properties: a VBM, TBSS and DTI tractography study. Scientific Reports, 9, doi:10.1038/s41598-019-43919-8.
    Xie, Weizhen, Bainbridge, Wilma A., Inati, Sara K., Baker, Chris I. & Zaghloul, Kareem A. (2020). Memorability of words in arbitrary verbal associations modulates memory retrieval in the anterior temporal lobe. Nature Human Behaviour, doi:10.1038/s41562-020-0901-2.
    http://www.readcube.com/articles/10.1038/nature17637 (16-06-12)


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