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Neuropsychologie der Religiosität

    Mehr als achtzig Prozent der Weltbevölkerung ist in irgendeiner Form religiös, obwohl es keinen wissenschaftlichen Beweis für die Existenz eines Gottes oder mehrerer Götter gibt bzw. nach wissenschaftlicher Auffassung auch nicht geben kann. In der Neuropsychologie der Religiosität, auch manchmal als Neurotheologie bezeichnet, untersuchen Gehirnforscher den Zusammenhang zwischen Glaubenserfahrungen und Gehirnaktivitäten. Obwohl sich über 80% der Weltbevölkerung selbst als religiös betrachten und noch mehr sich als spirituell identifizieren, sind aber die neuronalen Substrate von Spiritualität und Religiosität nach wie vor ungelöst.

    Es ist seit längerem bekannt, dass bestimmte Hirnregionen bei religiösen Aktivitäten wie Beten oder Meditation besonders aktiv sind. Unter anderem wird in der Neuropsychologie der Religiosität darüber geforscht, ob es neurobiologische Voraussetzungen für die Glaubensfähigkeit eines Menschen gibt, ob sich Religion als Vorteil im Evolutionsprozess erwiesen hat, oder ob Glaube eine Fehlfunktion des Gehirns darstellt. Viele historische Glaubenserfahrungen können auf bestimmte Aktivitäten des Gehirns zurückgeführt werden, wobei auch psychogene Erkrankungen Ursache für diese sein könnten. es gibt allerdings zahlreiche Befunde, dass eine regelmäßige spirituelle Praxis die Emotionen und das Gehirn beeinflussen kann. Gehirnforscher beschäftigen sich seit einiger Zeit mit dem Phänomen Religion und entwickeln zahlreiche Theorien, wobei eine vermutet, dass Religion das Ergebnis menschlicher Kreativität ist und auf drei Grundlagen beruht: Die erste Grundlage ist das menschliche Denken in Kausalzusammenhängen, die zweite Basis ist das System der Bildung von Theorien des Fremdpsychischen, d. h., dass Menschen sich ständig darüber Gedanken machen, was in Mitmenschen vorgeht, um zu wissen, wie wie sie sich sinnvoll in einem sozialen Zusammenhang bewegen können. Die dritte Grundlage ist die Entdeckung, dass Menschen sterblich sind. Diese drei Grundlagen zusammen schaffen eine Basis, auf der Jenseitsgedanken entstehen können, die wohl den Ursprung von Religion bilden.

    Eine Neuropsychologie der Religiosität kann dabei Beiträge zu einem besseren Verständnis des religiösen Erlebens und Verhaltens liefern, jedoch können religiöse Erfahrungen schon wissenschaftstheoretisch nicht allein durch Gehirnprozesse erklären werden, denn es ist unmöglich, mit wissenschaftlichen Methoden die Existenz Gottes zu beweisen oder zu widerlegen, da es sich bei Theologien immer um dogmatische Wissenschaften handelt.

    Durch Religion schaffen sich Menschen Bilder und Hoffnungen, dass das Ende nicht endgültig ist. Religion ist nach dieser Hypothese eine Form des Angstmanagements, die im Gehirn gründet, sich vermutlich mit der Zeit als Überlebensvorteil erwiesen hat und aus einem übersteigerten Kausalitätsdenken sowie der Angewohnheit entstanden ist, Theorien über das Fremdpsychische zu erstellen. Die religiöse Vorstellungen haben letztlich immer mit kognitiven Mechanismen zu tun, wobei Menschen anthropomorphe Bilder benötigen, um Gott zum Ausdruck zu bringen, also Vorstellungskategorien, die ihnen vertraut sind. Manche sehen den Ursprung und die Wurzel von Religiosität beim Menschen vor allem auch im Zusammenleben, denn wie Menschen miteinander umgehen, was Familie und Gemeinschaft bedeuten, wie man sich in der Welt als Einzelner oder als Gemeinschaft orientiert, fördert religiösen Vorstellungen.

    Das menschliche Gehirn besitzt im übrigen verschiedene Netzwerke, die etwa für analytische Fähigkeiten zuständig sind, andere Netzwerke sind wieder für emotionale oder soziale Bereiche, die das Mitgefühl und die Empathie fördern, um die Welt zu verstehen und dieser einen Sinn zu verleihen, zuständig. Werden Menschen etwa mit einem abstrakten Problem wie einem Rätsel konfrontiert, wird das soziale Netzwerk unterdrückt, steht sie vor einem moralischen Problem, wird dabei das analytische Netzwerk weniger stark beansprucht. Dabei entstehen auch Spannungen zwischen diesen Netzwerken, denn wenn die realistische Perspektive beiseite gedrängt wird, treten emotionale Aspekte stärker in den Vordergrund, was übrigens letztlich auch erklärt, wie sich ein Glaube an etwas Übernatürliches in fast allen Kulturen entwickelt hat. Laut einer Studie ist bei gläubigen Menschen das analytische Denken teilweise unterdrückt, allerdings ist dafür der für Mitgefühl zuständige Gehirnteil aktiver. Offensichtlich verlangt der Glaube an eine übernatürliche Kraft, dass man analytische Fähigkeiten eher unterdrückt, sodass emotionale und soziale Aspekte stärker berücksichtigt werden können, wobei gläubige Menschen im Durchschnitt empathischer sind.

    Gebete sind aus Sicht der Psychologie einfach eine Art Meditation, die sich als ein bestimmter Hirnzustand zeigt, der bei Nonnen, Jogis, Managern oder Atheisten aber gleich aussieht. Dabei werden Hirnareale heruntergefahren, die für das Körperbewusstsein zuständig sind, woher wohl das Gefühl vom Sich-selbst-Auflösen kommt, vom Vereinen mit dem Universum. Bei Gläubigen heißt das dann Unio mystica, die Vereinigung mit Gott.

    Ferguson et al. (2021) haben in zwei unabhängigen Hirnläsionsdatensätzen versucht, das Gehirnareal für Spiritualität zu lokalisieren, wobei sich zeigte, dass das Zentrum für religiöse Gefühle in einem evolutionär erstaunlich alten Hirnteil liegt. Für die Studie unterzog man alle Patienten, denen wegen eines Hirntumors unterschiedliche Teile des Gehirns entfernt werden mussten, sowohl vor der Operation als auch nachher einer ausführlichen Befragung zu ihrer Religiosität und spirituellen Gefühlen und Vorstellungen. Dann prüfte man, ob und wie sich die Ergebnisse durch die Verletzung bestimmter Hirnareale verändert hatten. Während die meisten Hirnoperationen keine signifikanten Veränderungen in der Religiosität nach sich zogen, war dies für Eingriffe in einem bestimmten Teil des Stammhirns anders, denn wurde das Periaquäduktale Grau, eine im Inneren des oberen Hirnstamms liegende Nervenzellgruppe, die an der Schmerzhemmung, der Angst- und Fluchtreaktion, aber auch positiven Emotionen beteiligt ist, verletzt, änderte sich das spirituelle Empfinden der Patienten teilweise radikal. Das Periaquäduktale Grau liegt im innersten Bereich des Mesencephalons und damit im oberen Teil des Hirnstamms. Offenbar ist dieser evolutionär alte Hirnteil eng mit der Erzeugung religiöser Gefühle und Vorstellungen verknüpft. Dieses Stammhirn teilen sich Menschen übrigens nicht nur mit anderen Säugetieren, sondern Reptilien und Fische besitzen schon ähnliche Strukturen. Dabei scheint es jedoch sowohl hemmende als auch fördernde Areale zu geben, wie die Tests ergaben, denn Verletzungen einiger Nervenzellknoten in diesem Areal führten bei den Patienten zu deutlich verringerter Religiosität, während die Entfernung anderer Teilareale die religiösen und spirituellen Gefühle eher verstärkte. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Spiritualität und Religiosität in fundamentalen neurobiologischen Prozessen verwurzelt sind, also tief in die neurologische Matrix eingewoben sind. Dieses Ergebnis konnte bei Kriegsveteranen bestätigt werden, denn auch dabei berichteten ehemalige Soldaten mit Verletzungen am Periaquäduktalen Grau von einem Wandel im Ausmaß ihrer spirituellen Gefühle und Vorstellungen. Einige ältere Fallberichte aus der Literatur beschreiben zudem Menschen, die nach Verletzungen dieses Stammhirn-Areals hyperreligiös wurden. Übrigens sind im gleichen Gehirnareal auch Schaltkreise lokalisiert, die bei Krankheiten wie Parkinson, bei Halluzinationen und auch dem Alien-Limb-Syndrom eine Rolle spielen. Wie die Läsionskartierung ergab, überschneiden sich Zonen, die im intakten Zustand die Religiosität fördern, mit den Arealen, die häufig durch Parkinson geschädigt werden. Die Areale, die bei einer Verletzung dagegen eher zu einer ungezügelten Hyperreligiosität führen, sind oft auch bei Menschen mit Halluzinationen und einer gestörten Körperwahrnehmung geschädigt. Allerdings kann man diese Ergebnisse nicht in der Richtung interprtieren, dass alle religiösen Menschen in der Geschichte an einem Hirnschaden litten oder dass Parkinson und Atheismus miteinander verknüpft sind. Stattdessen unterstreichen unsere Resultate, dass die Spiritualität des Menschen tiefe Wurzeln hat und eng mit grundlegenden Funktionen verknüpft ist.

    Neuere Untersuchungen zeigen aber auch, dass sich religiöse Erfahrungen nicht nur an einem Ort im Gehirn widerspiegeln, sondern fast überall, d. h., bei spirituellen Erlebnissen sind fast im ganzen Gehirn neuronale Aktivitäten nachweisbar. Vor allem im Stirnhirn und im Schläfenlappen finden sich etwa beim Meditieren Aktivitäten, wobei sich die Resultate je nach Untersuchungsmethode unterscheiden. Mit einer Kombination von funktioneller Magnetresonanztomographie und von quantitativer Elektroenzephalographie zeigte sich aber, dass viele Areale im Gehirn betroffen sind, wenn religiöse Aktivitäten stattfinden. Jedoch erlauben die Befunde der Neurowissenschaftler keine Aussage darüber, ob spirituelle Erfahrung mehr ist als ein physikalisch-chemischer Prozess. Cristofori et al. (2016) etwa haben Probanden aus dem Datenpools der Vietnam Head Injury Study untersucht, in denen über zweitausend Soldaten aufgeführt werden, die ein Schädeltrauma erlitten hatten und als Teilnehmer für die Forschung dienten. In einer frühen Phase der Untersuchungen wurden sie unter anderem durch Befragungen auf einer Skala für religiösen Fundamentalismus eingeordnet, aber auch Daten zur allgemeinen Intelligenz und kognitiven Flexibilität wurden erhoben. Man untersuchte nun mittels MRT nun jene Probanden, bei denen Areale im Hirn betroffen waren, die dafür bekannt sind, eine wichtige Rolle bei spirituellen Erfahrungen zu spielen. Verglichen mit 30 Veteranen ohne solche Verletzungen zeigten sich bei diesen häufiger starke religiöse Überzeugungen und weniger kognitive Flexibilität, d. h., Fundamentalismus entstünde demnach vor allem aus dem Unvermögen, offen für neue Erfahrungen zu sein. Allerdings sind die Prozesse im Gehirn, die den Glauben formen, viel zu komplex, als dass sich dieser ausschließlich auf einen einzelnen Bereich im Gehirn zurückgeführt werden kann. Offenbar ist es für Menschen bei Verletzungen bestimmter Hirnareale aber schwieriger, die eigene religiöse Überzeugung gegenüber anderen abzuwägen.

    Die neurologischen Grundlage des Glaubens sind nach Ansicht von Experten eine Illusion, die sich nur im Kopf abspielt. Eine veränderte Gehirnstruktur führt dazu, dass gewisse Menschen Übersinnliches wahrnehmen, wo gar nichts ist, denn Menschen neigen dazu, an die Bedeutsamkeit zufälliger Ereignisse zu glauben. Das gilt für banale Koinzidenzen des Alltags, aber auch für grundlegende Fragen etwa nach der Entstehung des Lebens. In Experimenten wurde nachgewiesen, dass es allein die Menschen sind, die Bedeutsamkeit erschaffen, nicht irgendwelche esoterischen Wesenheiten. Jeder Mensch stolpert in seinem Leben irgendwann über Zufälle, und die Frage ist, wie er damit umgeht. Wer sich bewusst ist, dass es in der Welt keinen Unterschied macht, ob eine schwarze Katze nun von rechts oder links kommt, oder dass nichts Böses droht, wenn man in geschlossenen Räumen Schirme aufspannt, wird auf seinem Lebensweg mit einer gewissen Gelassenheit ausgestattet.

    Übrigens ist auch die von manchen verbreitete These, dass monotheistischer Glaube das moralische Verhalten fördert und Gottlosigkeit eher die Unmoral, experimentell bisher nicht belegt, sondern es zeigte sich eher im Gegenteil, dass etwa Kinder aus christlichen oder muslimischen Familien weitaus weniger großzügiger sind als Kinder aus unreligiösen Familien (Decety et al., 2015).

    Siehe dazu auch den Fall von Gloria Polo Ortiz.

    Literatur

    Cristofori, I.,  Bulbulia, J., Shaver, J. H. , Wilson, M., Krueger, F. &  Grafman, J.  (2016). Neural correlates of mystical experience. Neuropsychologia, 80, 212–220.
    Decety, Jean, Cowell, Jason M., Lee, Kang, Mahasneh, Randa, Malcolm-Smith, Susan, Selcuk, Bilge & Zhou, Xinyue (2015). The Negative Association between Religiousness and Children’s Altruism across the World. Current Biology. Doi: 10.1016/j.cub.2015.09.056.
    Ferguson, Michael A., Schaper, Frederic L.W.V.J., Cohen, Alexander, Siddiqi, Shan, Merrill, Sarah M., Nielsen, Jared A., Grafman, Jordan, Urgesi, Cosimo, Fabbro, Franco & Fox, Michael D. (2021). A neural circuit for spirituality and religiosity derived from patients with brain lesions. Biological Psychiatry, doi:10.1016/j.biopsych.2021.06.016.
    Kreplin, U., Farias, M. & Brazil, I, A. (2018). The limited prosocial effects of meditation: A systematic review and meta-analysis. Scientific Reports, 8, doi:10.1038/s41598-018-20299-z.
    https://www.scinexx.de/?p=243170 (21-07-08)


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