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Religionspsychologie

    Der Wert einer Religion wird durch die Qualität der Moral bestimmt,
    die sie zu begründen vermag.
    Michel Houellebecq

    Die Religionspsychologie hat sich Ende des 19. Jahrhunderts als eigenständige, psychologische Disziplin herausgebildet und beschäftigt sich mit dem Seelenleben des Menschen, insofern es religiös ist. Schon Sigmund Freud, Karl und Charlotte Bühler, Karl Beth haben sich mit dem religiösen Seelenleben beschäftigt und -ausgehend von Wien weltweite Netzwerke geknüpft. Diese fanden nach 1938 mit der Zwangsemigration der WissenschafterInnen ein jähes Ende. Manche sind übrigens auch der Ansicht, dass eine mehr psychoanalytisch orientierte Religionspsychologie im besonderen Maße dazu geeignet wäre, Religion und Psychologie miteinander zu verbinden und somit eine nach wie vor bestehende  Forschungslücke zu schließen. Der Begriff Psychoanalyse lässt sich als die „Enträtselung der Seele“ übersetzen, wobei Sigmund Freud nicht nur die Seelen einzelner Menschen meinte, sondern gewissermaßen die Seele der Menschheit, was alle Religionen mit einschließt. Immer wieder hat sich Freud kritisch und ablehnend zur Religion geäußert und nannte Religion eine universelle Zwangsneurose. Vor allem hat Freud insgesamt das Religiöse bzw. die Religion in einer Entwicklungsphase des Menschen verankert, die eigentlich zu überwinden wäre.

    Die Religionspsychologie ist ein Teilgebiet der Angewandten Psychologie und der Religionswissenschaft, das sich mit psychologischen Fragen zur Religion befasst. Religiosität muss dabei nicht unbedingt an eine bestimmte Glaubensrichtung gebunden sein, denn immer mehr durchaus säkulare Menschen schneidern sich ihr eigenes, individuelles Sinnsystem zurecht. Die Religionspsychologie untersucht daher Formen, Gesetze und Entwicklung des religiösen Lebens auf Ebene des Individuums oder der Gruppe. Sie betrachtet somit die psychischen Voraussetzungen und Vorgänge beim religiösen Erleben, Denken, Fühlen und Handeln. Insbesondere zählen dazu religiöser Glaube und Zweifel, Gotteserlebnis, Ekstase und Phänomene wie Missionierung und Bekehrung, Reue und Schuldgefühle, Buße und Beichte, aber auch das Gebet.

    Ferguson et al. (2016) zeichneten mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanz-Tomographie die Gehirnaktivität von gläubigen Mormonen auf. Diese gaben jeweils an, wann sie besonders starke Gefühle verspürten, als man ihnen Zitate aus religiösen Schriften und religiöse Videos zeigte. Auch die ungewohnte Umgebung des Gehirnscanners hinderte die Mormonen nicht daran, sich in einen Zustand intensiver religiöser Emotionen zu begeben, denn sie beschrieben sie ein Gefühl des Friedens und der Wärme, ähnlich wie sie ihn während eines Gottesdienstes haben. Bekanntlich ist für gläubige Mormonen das beim Gebet oder Gottesdienst auftretende Gefühl ein wichtiger Teil ihrer Religion und dient bei einigen sogar als Basis für Entscheidungen. Ihrem Glauben nach ist dieser intensive emotionale Zustand ein wichtiger Bestandteil der Kommunikation mit Gott, und beschreiben dies als intensives Gefühl des Friedens und der Nähe zu Gott und zu anderen Menschen, aber auch als Gefühl körperlicher Wärme. Während ihres religiösen Hochgefühls feuerten vor allem Neuronen im Nucleus accumbens im Belohnungs-Schaltkreis des Gehirns, der intensive Wohlgefühle auslöst, wenn man fundamentale Bedürfnisse oder eine Sucht befriedigt. Man vermutet, dass tiefe religiöse Erfahrungen ähnlich in der Neurobiologie verwurzelt sind wie andere viele fundamentale Bedürfnisse des Menschen. Auch waren bei den Probanden die Zentren für die Aufmerksamkeit sowie der mediale präfrontale Cortex in Phasen starker spiritueller Empfindungen besonders aktiv, also jenes Hirnareal, das unter anderem für Bewertungen, die Einschätzung von Situationen und moralische Überlegungen zuständig ist. Daher hatte die religiöse Verzückung bei den Mormonen durchaus eine rationale Komponente.


    Gute Menschen wird die Schenke nicht verderben und schlechte wird die Synagoge nicht bessern.
    Jüdisches Sprichwort

    Wie sind Religionen entstanden?

    Religionen sind entstanden, weil einige Menschen damit begonnen haben, anderen zu erzählen, dass sie den Willen Gottes, der Natur, des Universums, besser verstehen können bzw. diesen exklusiv deuten können. Nachdem sie entdeckt haben, wie angenehm es sich mit diesem Status leben lässt, haben sie begonnen sich zu organisieren und göttliche Gesetze zu formulieren, während sie gleichzeitig Verbote entwickelt haben, diese zu hinterfragen. Am Anfang der Entwicklung von Religionen standen häufig auch rauschhafte Erlebnisse, denn ein Rausch durch verschiedenste Substanzen ausgelöst bewirkt, dass sich meist Innen und Außen auflösen. Vor allem schamanische Gesellschaften setzten die Wirkung von Halluzinogenen für magische und religiöse Zwecke ein, wobei der Ekstase-induzierende Gebrauch von Drogen und das Wissen darum den Schamanen oder Priestern auch einen besonderen Status verleiht. Die Ekstase ist durch einen Wechsel von der Alltagswelt in die spirituelle Welt gekennzeichnet und es bedarf physischer und psychischer Vorbereitungen, wie das Sammeln, die Zubereitung und die Einnahme der Droge. Der visionäre Gehalt Halluzinogen-induzierter Ekstasen diente meist kulturell spezifizierten Zielen wie Divination, Opferungen, Jagd- oder Regenzauber. So ist die christliche bzw. jüdische Religion in ihren Anfängen vermutlich aus der Verehrung des Berggottes JHWH aus palästinensischen Bergland entstanden.

    Wissenschaftliche Befunde zur Wirkung von Religiosität gleichen in mancher Beziehung Befunden zum Einfluss von Optimismus auf die Gesundheit. Sowohl bei religiösen Menschen als auch bei Optimisten scheinen die persönliche Weltsicht und die grundlegende Einstellung zum Leben entscheidende Wirkung zu haben. Bei beiden sind auch Gelassenheit und ein Grundvertrauen in den Gang der Dinge Wesensmerkmale. Vergleiche mit anderen Gruppen zeigen, dass religiöse und spirituell lebende Menschen glücklicher sind, wobei religiöse Werte wie Verzeihen oder Dankbarsein dazu beitragen, aber auch das Gefühl, mit einem höheren Wesen, anderen Menschen und der Natur verbunden zu sein und Gemeinschaft zu erleben.

    Religiosität und spirituelle Praktiken können bei Menschen übrigens ein stärkeres Immunsystem bewirken, denn solche Menschen haben oft niedrigere Werte von Interleukin-6, was als Zeichen eines schwachen Immunsystems gilt. Die Heilwirkung sowohl christlicher als auch buddhistischer Meditation ist aber nur dann besonders groß, wenn sie weder zielgerichtet noch funktional eingesetzt wird, d.h., dass Gesundheit und Entspannung nur als individuelle Nebeneffekte eintreten und nicht als therapeutische Mapnahme eingesetzt werden können. Meta-Untersuchungen vor allem in den USA zeigten, dass Religiosität sich im Durchschnitt in 84 Prozent positiv, in 13 Prozent neutral und nur in drei Prozent abträglich auswirkt. Gläubige, die ständig in der Furcht leben, für ihre Sünden von Gott bestraft zu werden, und das auch in ihrer Gemeinde ein bedrohliches Klima erleben, neigen stärker zu Depressionen, Ängsten und psychosomatischen Störungen als andere, während der Glaube an einen liebevollen Gott, der die menschlichen Schwächen eher nachsichtig beurteilt, in Verbindung mit emotionaler Geborgenheit in einer Gemeinschaft psychisches und körperliches Wohlbefinden befördert.

    Man unterscheidet wie bei der Motivation zwei Arten von Religiosität. Die intrinsische Religiosität ist motiviert um der Religion willen, man glaubt an Gott, weil man überzeugt ist, dass es ihn tatsächlich gibt, während die extrinsische Religiosität angst- oder giergesteuert ist. In die Kirche gehen Menschen vor allem, weil sie andernfalls die Konsequenzen fürchten, oder weil sie von allen geliebt werden wollen. Gerade diese zweite Art der Religiosität kann negative Effekte haben, denn wenn etwas schiefläuft, interpretieren manche es schnell als Strafe. Die Betroffenen haben Angst, und diese setzt sie weiter unter Stress.  Man bezeichnet deses Phänomen als „neurotische Religiosität“. Intrinsische Religiosität, die einen positiven Effekt auf die Gesundheit hat, lässt sich nicht einfach erlernen, denn es ist etwa unmöglich, intrinsisch zu glauben, weil man weiß, dass man davon womöglich gesünder wird.


    Die Frage, ist es hilfreich, religiös zu sein, im Sinne von macht Religion gesünder oder macht Religion glücklicher, ist eine funktionale Frage, die der inneren Logik von Religionen nicht wirklich entspricht.


    Religion und Wissenschaft

    Der Unterschied zwischen Wissenschaft und Religion liegt darin, dass Wissenschaft eine Methode ist, die mit Hilfe der Empirie und Logik nachvollziehbare und überprüfbare Ergebnisse ermöglicht, aus denen Erkenntnisse und Hypothesen abgeleitet werden können, die falsifizierbar sein müssen. Der religiöse Glauben ist jedoch ein Ergebnis, von dem niemand weiß, wie man dort hin gekommen ist, bzw. noch wie Glaubensinhalte zu überprüfen sind, d.h., religiöser Glauben ist daher letztlich immer fundamentalistisch. Religionen können sich daher nicht aus sich selbst heraus erklären, es sei denn, man akzeptiert folgenden Zirkelschluss der Logik, dass nämlich etwas heilig ist, weil es in den heiligen Büchern steht, und etwas in den heiligen Büchern steht, weil es heilig ist. Willkürliche Glaubensannahmen führen stets zur nächsten willkürlichen Annahme, d.h., Religionen sind in sich geschlossene und dennoch zum Teil logisch erscheinende Argumentationsebenen, die aber keinen überprüfbaren Bezug zu einer nachweisbaren, messbaren Empirie haben, womit sie letztlich als Ganzes von der Realität abgetrennt sind. Wenn man das Phänomen Religion aber wissenschaftlich erklären und definieren möchte, dann geht dies nur über das, was allen Menschen auf der Welt nachweisbar, überprüfbar und/oder messbar zur Verfügung steht, also über die Methoden und Erkenntnisse der Naturwissenschaften, sodass alles, was für andere nicht logisch oder empirisch nachvollziehbar ist, unwissenschaftlich ist und als willkürlich interpretiert werden kann.

    Der Begriff „Religion“ wurde erst im Zuge der frühen Aufklärungsphilosophie geprägt, denn Religion war davor so selbstverständlich, dass man überhaupt nicht auf die Idee kam einen eigenen Begriff davon zu bilden. In der polytheistischen Antike herrschte die individuelle Glaubensfreiheit und damit die Glaubensvielfalt, d.h., es gab den persönlichen Glauben und jeder Reisende war frei die lokalen Götter seiner Reiseziele mit in seinen Pantheon aufzunehmen und um Schutz zu bitten. Da die meisten Menschen mehrere Götter hatten, wurden alle Vorstellungen als gleichwertig toleriert, sodass es den Begriff und die Vorstellung von einer allgemeingültigen Religion damals noch nicht gab. Es gab jedoch Bezeichnungen, wie Glauben, Frömmigkeit, heilig, Götter, Götterdienst sowie die Opferdienste, die bis in Mittelalter hinein als Beschreibungen des persönlichen Glaubens verwendet wurden. Cicero verwendete zwar den Begriff religio, meinte damit aber das sorgsame Beachten eines Tempelkults, und in diesem Sinne wurden auch Kirchenleute als Vertreter eines ordentlichen Kultes bis ins Mittelalter hinein als religiosi bezeichnet, so dass der in der frühen Neuzeit aufkommende Begriff religion zunächst nur Lehren bezeichnete. Der Begriff der Religionen machte als Unterscheidung nur dann Sinn, wenn es mehrere parallel existierende Glaubensgemeinschaften gibt, die sowohl ein gemeinsames Konzept im Aufbau aufweisen, als sich auch in Details unterscheiden. Dies wurde in Europa erst durch die Aufspaltung der Reformation deutlich, denn auf der einen Seite waren die neu entstandenen Kirchen nichts Neues, sondern genauso christlich wie ihr Ursprung, auf der anderen Seite musste jedoch ein klarer politischer Trennstrich gezogen werden. Die Stigmatisierung in Religionen und Sekten ist ein monotheistisches Produkt von „Mein“ Gott und „Dein“ Gott“, und „Mein“ ist richtig und „Dein“ ist falsch. Monotheistische Götter dienen dazu, Kriege zu legitimieren und Massen unter einem gemeinsamen Nenner hinter sich zu bekommen, wobei dieses mehr politisch-ideologische Phänomen in Verbindung mit bestimmten Glaubensunterschieden und -praktiken in der Aufklärung retrospektiv mit der abstrakteren Bezeichnung Religion versehen wurde, wodurch sie in der Folge das weg vom individuellen hin zum rechtmäßigen, verordneten und „richtigen“ Glauben symbolisierte, den man als Teil der Gesellschaft anzunehmen hat.

    Michael Shermer, Psychologe und Gründer der Skeptics Society sagte in einem Interview mit Daniela Wakonigg anlässlich der Säkularen Woche der Menschenrechte in Berlin 2018 über den Unterschied von Wissenschaft und Glauben, dass Menschen an Dinge aus emotionalen Gründen glauben, aus Gründen, die nicht auf Vernunft oder Beweisen basieren. Möglicherweise vertrauen Menschen auf Grund der Erziehung darauf, unabhängig von Gründen und Beweisen etwas einfach zu glauben, doch das funktioniert aber genau umgekehrt wie wissenschaftliches Denken. „Beim wissenschaftlichen Denken werden zuerst Beweise gesammelt, dann schaut man, wo einen die Beweise hinführen und das akzeptiert man dann vorläufig als wahr. Aber unsere Gehirne arbeiten nicht so. Unsere Gehirne sind eher so beschaffen, dass sie wie ein Rechtsanwalt einen Mandanten verteidigen. Und der Mandant in dieser Metapher ist unser Glaube, unsere Überzeugung. Also das Gegenteil von wissenschaftlichem Denken, das nicht von selbst kommt. Wissenschaftliches Denken ist ein Vorgang, in dem wir davon ausgehen, dass wir uns in Bezug auf die meisten unserer Überzeugungen wahrscheinlich irren und deshalb skeptisch sein müssen. Darum fangen wir mit der Nullhypothese an: Was immer du behauptest, ist wahrscheinlich nicht wahr. Jetzt liegt die Beweislast bei dir und du musst mich überzeugen, dass du Recht hast. Leg los und gib dein Bestes! Sowas ist nicht einfach. Es ist schwer, die eigenen Überzeugungen abzulegen. Es ist schwer, sie der Kritik von anderen auszusetzen. Aber das ist in der Wissenschaft nun mal notwendig. Denn wenn du es nicht tust, wird es ein anderer tun.“


    Der Teufel hat die Welt verlassen, weil er weiß, dass die Menschen selbst einander die Hölle heißmachen.
    Friedrich Rückert

    Nach Daniel Dennett, Atheist, Darwinist und Materialist, können Menschen zwar niemals sicher sein, dass es Gott nicht gibt, doch sie können auch nicht sicher sein, dass es keine Kobolde, Hexen und Teufel gibt. Um an Gott zu glauben, fehlen nach Dennett schlicht die guten Gründe. Auch wenn die Religion in den Anfängen der Menschheit vielleicht einen Nutzen hatte und den sozialen Zusammenhalt förderte und half, mit unerklärlichen Phänomenen umzugehen, doch heute sollten sich die Menschen von der Krücke der Religion lösen.

    Zur krankmachenden Wirkung des Glaubens siehe z.B. Das Wunder Gloria Polo Ortiz im Lichte medizinischer Fakten

    Stufen der Glaubensentwicklung

    James W. Fowler (1991) entwickelte in Tradition Jean Piagets und Lawrence Kohlbergs mittels qualitative Leitfadeninterviews eine Glaubensentwicklungstheorie mit sechs Stufen:

    • Intuitivprojektiver Glaube. Nachdem sich in den ersten Lebensmonaten das Grundvertrauen des Kindes gebildet hat, entwickelt das Kind im Alter von etwa 2–7 Jahren seine Vorstellungskraft, die Grundlagen für faith werden gelegt.
    • Mythisch wörtlicher Glaube. Das Kind kann nun auch seinen Glauben beschreiben. Das geschieht vor allem bildhaft. Gott ist z. B. oben, das Böse ist unten. Auch wird Gott oft in anthropmorphen Metaphern z. B. als alter Mann mit Händen oder Füßen beschrieben.
    • Synthetisch-konventioneller Glaube. Diese Stufe beginnt sich im Alter zwischen 12 und 13 Jahren auszubilden aber auch viele Erwachsene kommen nie über diese Stufe hinaus. Es entwickelt sich langsam eine eigene Glaubensidentität, der Heranwachsende und auch manch ein Erwachsener ist hier sehr von dem Feedback der „significant others“ bzw. seinem sozialen Umfeld abhängig. Der Glaube wird darum „konventionell“ genannt. Die Fragmente werden zusammengesetzt, passen aber oft noch nicht zusammen, daher heißt die Stufe auch „synthetisch“.
    • Individuierend-reflektierender Glaube. Das Individuum beginnt – so Fowler – aus den Konventionen herauszutreten, eigene Positionen auch entgegen seinem Umfeld zu entwickeln und zu behaupten.
    • Verbindender Glaube. Die Mehrschichtigkeit von verschiedenen Glaubensaussagen wird erkannt, es beginnt auch ein Erkennen des eigenen Glaubens aus der Sicht anderer Glaubenstraditionen. In gewisser Weise wird die Relativität des eigenen Glaubens erkannt, auch wenn die eigenen Positionen und der eigene Glauben dadurch nicht aufgegeben werden. Der Glaube gewinnt hierdurch an Weite. Nur wenige Erwachsene erreichen diese Stufe und meist auch erst im höheren Erwachsenenalter.
    • Universeller Glaube. Nur sehr wenige Menschen wie Mahatma Gandhi, Mutter Teresa, Martin Luther King oder Jesus Christus haben diese Stufe erreicht, darum ist sie bei Fowler weniger empirisch belegt, als ein Postulat. Die Person lebt radikal so, als ob das, was Christen das „Himmelreich“ nennen, bereits real wäre. Der Mensch kann sich selbst verleugnen und ganz im Glauben aufgehen. Fowler führt hier hauptsächlich bekannte Personen an, die für ihren Glauben gestorben sind.

    Wie Kohlbergs Theorie weist Fowlers Ansatz besonders auf den höheren Stufen methodische Schwächen auf, denn insbesondere für seine letzten Stufen kann Fowler nur wenige Befunde und Interviews vorweisen. Streng genommen handelt es sich um keinen wissenschaftlichen Ansatz, sondern um eine Sammlung religiös bestimmter Hypothesen.

    Religion und Moral

    Während allgemein angenommen wird, dass Religion die moralischen Urteile und das prosoziale Verhalten von Menschen fördert, ist das Verhältnis zwischen Religiosität und Moral jedoch umstritten. Eine Studie zeigte aber, dass Kinder aus religiösen Familien weniger gerne teilen und Fehler anderer wesentlich kritischer einschätzen als Kinder aus nicht gläubigen Familien. Es zeigte sich nämlich in konkreten Situationen, dass Kinder aus christlichen und muslimischen Haushalten deutlich weniger gern teilen als Kinder aus nicht gläubigen Haushalten. Je stärker dabei die Religiosität der Eltern dabei war, desto geiziger waren sie, wobei bei älteren Kindern der Effekt deutlicher war. Keine Rolle spielte übrigens die Art der Religion, denn christlich und muslimisch erzogene Kinder waren gleich großzügig oder geizig. Auch sind religiös erzogene Kinder strenger und treten für deutlich härtere Strafen bei Fehlverhalten ein als Kinder aus nicht gläubigen Familien. Dieses Verhalten steht dabei im Gegensatz zur Einschätzung der religiösen Eltern, denn diese hielten ihre Kinder für ganz besonders emphatisch, wobei besonders Christen ihren Kindern einen hohen Gerechtigkeitssinn unterstellten. Die Ergebnisse früherer Studien, die Gläubigen besonders hohe moralische Werte bescheinigten, kamen wohl deshalb zustande, dass diese sich auf Selbstauskünfte gestützt hatten und nicht auf konkretes Verhalten.

    Akin (2018) hat den Einfluss der frühkindlichen Erziehungserfahrungen auf die moralischen Fähigkeiten erforscht. Dazu wurden Studierende verschiedener Fachrichtungen aus Berlin zur religiösen Prägung in ihrer frühkindlichen Erziehung befragt und in Bezug auf ihre moralische Orientierung und Kompetenz untersucht. Den messmethodischen Rahmen bilden der Moralische-Kompetenz-Test nach Lind und der selbstkonstruierte Fragebogen zur Erfassung der religiösen Erziehung und Religiosität. Die Auswertung der Online-Studie zeigte, dass die moralischen Fähigkeiten bei dogmatisch religiös erzogenen Studierenden signifikant vermindert ausfallen und dabei nicht auf unterschiedliche Bildungserfahrungen oder das gegenwärtige Beibehalten der Religiosität zurückzuführen sind. Akin (2020) belegt damit auch den bedeutenden Einfluss der frühkindlichen Erziehungserfahrungen für die Moralkompetenz im Erwachsenenalter: „Es lässt sich festhalten, dass dogmatisch religiöse Erziehungsmethoden als moralhemmend einzustufen sind, aber welche Erziehungsmethoden eine hohe Moralkompetenz fördern bleibt folglich unbeantwortet und bedarf einer ausführlichen Untersuchung“ (S. 39)

    Religion und Gesellschaftsformen

    Es ist eines der größten Rätsel der Sozialwissenschaften, wie die immense kulturelle Vielfalt auf der Welt entstanden ist, insbesondere was die sozialen Strukturen und Lebensformen angeht. Wie Menschen denken und wie sie sich verhalten liegt auch daran, wo bzw. in welcher Kultur sie hineingeboren wurden und in welcher sie leben. Feldforschungen zeigen, wie wichtig die Verwandtschaftsverhältnisse für das Zusammenleben in einer Gruppe dort sind, wobei evolutionär betrachtet Familienbande tatsächlich lange Zeit die entscheidende Sozialstruktur in menschlichen Gesellschaften waren. In Jäger-und-Sammler-Gruppen waren die Beziehungen weitmaschig, damit man sich im Fall von Katastrophen fernen Familienmitgliedern anschließen konnte, doch mit der Sesshaftigkeit ist das Netz deutlich engmaschiger geworden. Das war notwendig, um die Zusammenarbeit zu gewährleisten und um größere Gebiete verteidigen zu können, so dass Werte wie Loyalität, Solidarität und Gehorsam gegenüber Älteren sehr wichtig wurden. Um die Familienbande straff zu halten, wurden zunächst Partnerschaften zwischen nahen Verwandten gefördert, wodurch große Clans entstanden. In manchen Weltregionen ist die Großfamilie noch heute sehr wichtig und die Heirat zwischen Verwandten wird immer noch forciert. In westlichen Gesellschaften hingegen ist es verpönt, in der Familie zu heiraten, d. h., Großfamilien spielen kaum mehr eine Rolle. Waren früher Konformismus und Loyalität gefragt, geht es vor allem in westlichen Ländern immer mehr um ein unabhängiges, individuelles Leben. Ein Vergleich von psychologischen Tests aus mehreren Ländern bestätigt diese mentalen Unterschiede. So funktionieren Persönlichkeitstests, die die klassischen fünf Faktoren messen, nur in westlichen Industrieländern zuverlässig, während sie etwa in Schwellen- und Entwicklungsländern diese weder passend noch zuverlässig sind. Dafür gibt es übrigens den Begriff „WEIRD“, der eine Abkürzung von westlich, gebildet/educated, industrialisiert, reich, demokratisch ist, um diese Testgruppen aus solchen westlichen Industrieländern zu charakterisieren. Man konnte zeigen, dass in Niedrig- und Mittellohnländern wie Ghana, Kolumbien, Serbien und Sri Lanka diese Tests nicht geeignet sind.

    Diese lange Zeit dominierenden sozialen Strukturen haben sich vor allem in den letzten Jahrhunderten aufgelöst und vor allem die Menschen in westlichen Ländern sind heute eher individualistisch und weniger angepasst als früher. Schulz et al. (2019) stellten die Hypothese auf, dass in der Kleinfamilie noch heute das Mittelalter nachwirkt, wobei die westliche Welt von Regeln geprägt ist, die aus der katholischen Kirche stammen. Das betrifft sowohl Familienstrukturen als auch die Psyche, denn die Vorstellungen der katholischen Kirche zu Ehe und Zusammenleben im 12. und 13. Jahrhundert beeinflussen die Gesellschaft noch heute. Die Untersuchung zeigte, dass die gegenwärtigen Familienstrukturen der westlichen Welt als Vater-Mutter-Kind-Einheiten auf Regeln zurückgeführt werden können, die die frühe Kirche zu Wahl des Ehepartners aufgestellt hatte. Menschen etwa aus Westeuropa, Nordamerika und Australien zeichnen sich durch eine höhere Individualität, Unabhängigkeit, oder durch verstärktes analytisches Denken im Gegensatz zu ganzheitlichem Denken aus. So zeigte sich, dass wenn eine bestimmte Weltregion unter dem Einfluss der katholischen Kirche stand, die Kirche ihre Vorstellungen und Regularien zu Ehe und Familie am besten durchsetzen konnte, etwa das Verbot, dass sich Cousin und Cousine vermählen, denn Kinder aus diesen Ehen hätten ein erhöhtes Risiko für genetisch bedingte Fehlbildungen. Auch mussten seit Anfang des zweiten Jahrtausends Frischvermählte in einen eigenen Haushalt ziehen, was dafür sorgte, dass sich Familienverbände und Clans immer mehr auflösten. Hauptergebnis der Studie war demnach, wo die katholische Kirche lange wirken konnte, besonders die Kleinfamilie dominiert, und wenn die Kleinfamilie dominiert, ist die Gesellschaft unter anderem besonders von Individualität und Unabhängigkeit geprägt. Diese heute typische westliche Denkweise entstand also in christlich geprägten Ländern, wobei paradoxer Weise Religion dort heute nur mehr eine untergeordnete Rolle spielt. Allerdings geht der Individualismus als typisches Merkmal westlicher Gesellschaften nicht primär auf katholische Einflüsse zurück, sondern auch auf die Entstehung des protestantischen Menschenbildes seit dem 15. Jahrhundert. Auch sollte man die verschiedenen Formen von Individualismus berücksichtigen, die nicht nur von Land zu Land, sondern auch von Kontext zu Kontext variieren können.

    Nach Max Weber sind es die Religionen, die die Modalitäten der Zuwendung zur Welt definieren, wobei wohl für den abendländischen Kulturraum gilt, dass insbesondere das Christentum den Wirklichkeitsbezug der Menschen lange geprägt hat. Die Haltung des Christentums gegenüber der Welt bezeichnet Weber als Weltbeherrschung, wobei es im Kern dabei darum geht, dass ein Unterschied besteht zwischen dem, wie es ist, und dem, wie es sein soll. Dieser Unterschied soll daher im Leben auf dieser Welt dadurch überwunden werden, indem die Menschen an sich selbst arbeiten und sich durch Disziplin und Arbeit dem Ideal des Lebenslaufes immer weiter annähern. Weber bezeichnet diese Anstrengungen der Menschen, ihre Bedürfnisse, Triebe, Emotionen und ihr inneres Böse unter Kontrolle zu bringen, als innerweltliche Askese, wobei etwa der Genuss von Reichtum und die Erotik genauso verpönt sind wie auch der Überschwang der Gefühle, die Leidenschaft oder Rachsucht aus persönlichen Motiven. Gut in diesem Sinne hingegen ist die Berufsarbeit als Mitarbeit an den durch Gottes Schöpfung gesetzten sachlichen Zwecken. Sich selbst gegenüber arbeitet der gute Christ an der Kontrolle der eigenen Kreatürlichkeit durch aktive Disziplin, um sich als Instrument für die Erlösung in dieser Welt vorzubereiten.

    Diese Trennung zwischen dem realen Menschsein und dem idealen Menschsein ist übrigens auch konstituierend für die abendländischen Pädagogik, denn Erziehung wird eine humanisierende Kraft zugesprochen, die den Menschen erst zum Menschen macht (im Sinne Kants). Aus diesen religiösen Zielen ergeben sich zentrale Veredelungsrichtungen des Menschen, etwa die Heiligung des Menschen, um ihn aus einem verdorbenen Zustand herauszuführen, die Moralisierung, um ihn aus einem zügellosen Zustand herausführen, die Verrechtlichung, um ihn aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien, die Rationalisierung des Menschen, um ihn für bestimmte Dinge brauchbar zu machen, und nicht zuletzt die Vermenschlichung des Menschen, um in ihm die Struktur des Menschseins zu entwickeln.

    Religion und Psychologie aus Sicht der Künstlichen Intelligenz

    Das Verhältnis zwischen Religion und Psychologie ist komplex und vielschichtig. Einerseits gibt es viele Überschneidungen und Verbindungen zwischen den beiden Bereichen, andererseits gibt es auch klare Unterschiede und Grenzen zwischen ihnen.

    Einige der wichtigsten Verbindungen zwischen Religion und Psychologie sind:

    • Religion kann Einfluss auf die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden haben. So gibt es zum Beispiel Studien, die zeigen, dass regelmäßige Teilnahme an religiösen Praktiken und die Unterstützung durch eine religiöse Gemeinschaft dazu beitragen können, Stress und Angst zu reduzieren und die Lebenszufriedenheit zu erhöhen.
    • Psychologie kann helfen, die Auswirkungen von Religion auf das Verhalten und die psychische Gesundheit zu verstehen. Zum Beispiel können psychologische Studien dazu beitragen, zu verstehen, warum manche Menschen auf bestimmte religiöse Ideen und Praktiken positiv reagieren, während andere davon negativ beeinflusst werden.
    • Religion und Psychologie können sich gegenseitig bereichern und ergänzen. Zum Beispiel können psychologische Konzepte dazu beitragen, die tieferen Bedeutungen und Absichten hinter religiösen Praktiken und Traditionen besser zu verstehen. Gleichzeitig kann Religion eine Quelle von Inspiration und Erkenntnis für die Psychologie sein.

    Insgesamt gibt es also viele Möglichkeiten, in denen Religion und Psychologie miteinander verbunden sind und voneinander lernen können. Es ist wichtig, dass beide Bereiche sich auf Augenhöhe begegnen und respektvoll miteinander umgehen.

    Literatur

    Akin, Asli (2018). Religiöse Erziehung und Moralentwicklung. Der Einfluss einer religiös geprägten Kindheit auf die moralische Orientierung und Kompetenz. Bachelorarbeit in Psychologie. Hochschule für Gesundheit und Medizin, Berlin.
    Akin, Asli (2020). Religiöse Erziehung und Moralentwicklung: Der Einfluss einer religiös geprägten Kindheit auf die moralische Orientierung und Kompetenz. Ethics in Progress, 9, 27-43.
    Ballhausen, T. & Tauss, M. (Hrsg.) (2015). Themenschwerpunkt: Das Rauschen der Texte. rausch – Wiener Zeitschrift für Suchttherapie, Heft 3-4.
    Fend, H. (2006). Geschichte des Bildungswesens. Der Sonderweg im europäischen Kulturraum. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
    Michael A. Ferguson, Jared A. Nielsen, Jace B. King, Li Dai, Danielle M. Giangrasso, Rachel Holman, Julie R. Korenberg, & Jeffrey S. Anderson (2016). Reward, salience, and attentional networks are activated by religious experience in devout Mormons. Social Neuroscience, doi: 10.1080/17470919.2016.1257437.
    Fowler, James (Hg.) (1991).  Stages of faith and religious development. New York: Crossroad.
    Schulz, Jonathan F., Bahrami-Rad, Duman, Beauchamp, Jonathan P. & Henrich, Joseph (2019). The Church, intensive kinship, and global psychological variation. Science, 366, doi:10.1126/science.aau5141.
    Stangl, W. (2018). Stichwort: ‚Moral Licensing‘. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.
    WWW: https://lexikon.stangl.eu/16141/moral-licensing/ (2018-10-17)

    Weitere Quellen: APA/dpa, 23.3.05
    http://www.heise.de/tp/artikel/35/35016/1.html (11-07-10)
    https://hpd.de/artikel/warum-menschen-merkwuerdige-dinge-glauben-16193 (18-11-17)
    http://de.wikipedia.org/wiki/James_W._Fowler (12-06-08)


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