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glymphatisches System

    Während im menschlichen Körper das Lymphsystem dafür zuständig, jene Stoffe zu entsorgen, die dieser nicht mehr braucht und die ihm gefährlich werden können, endet dieses Entsorgungssystem an der dichten Grenze des Gehirns, der Blut-Hirn-Schranke. Zwar fließt auch im Gehirn etwas Zerebrospinalflüssigkeit, die auch Abfall ausspült, dies aber viel zu langsam und viel zu wenig. Nach neuesten Untersuchungen an lebenden Mäusegehirnen hat das Gehirn ein zweites Entsorgungssystem, das von Gliazellen gebildet wird und daher den Namen glymphatisches System erhielt.

    Das glymphatische System ist ein lymphähnliches System im Gehirn von Wirbeltieren, das nach Ansicht von Experten der nächtlichen Elimination von Schadstoffen im Zentralnervensystem dient. Ähnlich dem lymphatischen System, welches das Zentralnervensystem nicht mit umfasst und außerhalb an der Hirnhaut endet, ist das glymphatische System ein fließendes Kreislaufsystem zum Abtransport von überflüssigem und schädlichem Material. Die Glymphkanäle schmiegen sich dabei eng an venöse und arterielle Gefäße im Gehirn an und transportieren durch pulsierende Bewegungen die Abfallstoffe über die Blutbahn ab. Nach neuesten MRT-Forschungen gibt es beim Einschlafen pulsierende Wellen in der Gehirnflüssigkeit, möglicherweise weil die Neuronen im Ruhezustand weniger Sauerstoff benötigen und deshalb Blut aus dem Kopf fließt. Bekanntlich arbeitet das glymphatische System am besten im Schlaf. Wenn dann das Blut aus dem Kopf austritt, sinkt der Druck im Gehirn und Liquor wird angesogen, um dieses Gefälle wieder auszugleichen. Diese Aktivität der Neuronen lässt im Alter nach, sodass bei älteren Menschen auch weniger Flüssigkeit durch das Gehirn pulsiert und sich mehr schädliche Proteine ablagern können. Der Vergleich des Transports bei wachen und schlafenden Tieren zeigte einen Rückgang um etwa 95 % im Wachzustand, wobei im Schlafzustand mehr Raum für den Flüssigkeitstransport vorhanden ist. Noradrenalin ist vermutlich der Regler des Volumens des Zellzwischenraums und damit der Effektivität des glymphatischen Systems.

    Bei Entzündungen des Gehirns zirkulieren im Liquor auch Immunzellen, etwa bei Multipler Sklerose, bei der das Immunsystem die körpereigene Schutzschicht der Nervenfasern in Gehirn und Rückenmark angreift, was eine Entzündung auslöst, die letztlich Nervenzellen zerstört. Normalerweise ist das Volumen der Hirnkammern in etwa konstant, doch im Tiermodell verändert sich in früheren Untersuchungen das Ventrikelvolumen während des Krankheitsverlaufs, d. h., die Kammern erweiterten sich im MRT deutlich sichtbar. Sind die Hirnkammern stärker geflutet, muss das Gehirn zwangsläufig kleiner werden, denn wegen des umgebenden Schädelknochens kann es nirgendwohin ausweichen. Entzündungen schädigen zwar das Nervengewebe, aber nicht gleich so sehr, dass es sofort zu einer Atrophie kommt, also zu einem massiven Verlust an Hirnvolumen, wobei dieser Prozess nicht reversibel wäre. Etwa zehn Tage nachdem eine Hirnentzündung induziert wurde, waren die Hirnventrikel der Nager deutlich vergrößert, jedoch wenige Tage später wieder auf ihre normale Größe zurückgeschrumpft. Genau wie die menschlichen Betroffenen entwickelten sich weitere vorübergehende Schübe, wenn auch milder als die ersten Symptome, wobei sich die Ventrikel erneut vergrößerten. Die Vergrößerung des Ventrikelvolumens bei Multipler Sklerose gilt nach gängiger Lehrmeinung als Zeichen von Gehirnatrophie und noch nie konnte man beim Menschen beobachten, dass die Ventrikel wieder kleiner werden. Um das zu prüfen, griffen Millward et al. (2020) auf umfangreiche MRT-Datensätze von Betroffenen zurück, die zwischen 2003 und 2008 an einer klinischen Studie teilgenommen hatten, um die Wirkung eines neuen Medikamentes zu testen. Neben der Analyse des Liquors, der durch Punktion des Rückenmarks gewonnen wurde, sicherten MRT-Bilder die Diagnose einer Multiplen Sklerose. Bei der Mehrheit der Betroffenen mit schubförmig verlaufender Multipler Sklerose fand man vergleichbare Fluktuationen des Ventrikelvolumens, wobei sich diejenigen mit Veränderungen des Ventrikelvolumens in einer früheren Phase der Erkrankung zu befinden schienen. Aus klinischer Perspektive könnte die Untersuchung von Fluktuationen der Ventrikelvolumina in den Routine-MRT-Scans daher ein interessanter Ansatz sein, um den Krankheitsverlauf oder Immuntherapien besser zu überwachen.

    Es ist bekannt, dass Liquor eine wichtige Rolle bei der Reinigung von Gehirngewebe spielt, indem es Abfallprodukte abtransportiert und Nährstoffe durch Diffusion in das Hirngewebe transportiert. Das glymphatische System verwirbelt den Liquor in jede Ecke des Gehirns extrem effizient, was man als Massenfluss oder Konvektion bezeichnet. Das glymphatische System arbeitet rasch, effizient und unter Hochdruck, wobei Wasserkanäle (Aquaporine) den Liquor durch das Gehirn transportieren. Innerhalb des glymphatischen Weges gelangt die Liquorflüssigkeit über periarterielle Räume ins Gehirn, über perivaskuläres astrozytäres Aquaporin-4 wird Liquor in das Interstitium abgegeben und fördert die perivenöse Drainage der Interstitialflüssigkeit, wobei man vermutet, dass Pharmaka das glymphatische System beeinflussen könnten. Das glymphatische System steuert auch die zerebrale Laktatkonzentration, denn der Hirnlaktatspiegel ist während des Wachzustandes höher als im Schlaf. Es ist nicht bekannt, warum die Erregung mit einem Anstieg des Laktats im Gehirn verbunden ist und warum Laktat innerhalb von Minuten nach dem Einschlafen abnimmt. Eine Studie zeigte, dass eine Störung des glymphatischen Systems zu einer Dysbalance im Laktatspiegel führt. Glukose, die nicht vollständig oxidiert wird, kann als Laktat über den glymphatischen Flüssigkeitstransport ausgeschieden werden.


    Das liest sich dann in einer Tageszeitung so:

    Schlafen, um den Hirnmüll rauszuschaffen 😉


    Dieses glymphatische System ist im Schlaf etwa zehnmal aktiver als im Wachzustand. Dabei werden 95 Prozent des Gehirnmülls dann entsorgt, was dadurch wird, dass im Schlaf die Gehirnzellen um bis zu sechzig Prozent schrumpfen, was  Raum für die Abwasserkanäle schafft, durch die dann etwa toxische Proteine entsorgt werden, die hinter vielen Krankheiten des Gehirns stehen, etwa hinter Alzheimer. Ausreichender Schlaf ist daher offensichtlich nicht nur für das Einprägen von Informationen wichtig, sondern auch für das Entmüllen des Gehirns. In einer Langzeitstudie wurde nach Risikofaktoren der Alzheimer-Erkrankung gesucht, wobei Menschen mit Schlafstörungen eine höhere Inzidenz besitzen, an Alzheimer zu erkranken. Möglicherweise lösen Schlafstörungen eine Dysfunktion des glymphatischen Systems aus. Dass dieses System auch vorwiegend in der Nacht aktiv ist, könnte auch daran liegen, dass offenbar tagsüber die gesamte Energie für die mentalen Funktionen verbraucht wird, wodurch keine Energie für die Reinigung verbleibt.

    Jiang-Xie et al. (2024) konnten jüngst zeigen, dass neuronale Netzwerke einzelne Aktionspotentiale synchronisieren, um rhythmische und sich wiederholende Ionenwellen mit großer Amplitude in der interstitiellen Flüssigkeit des Gehirns zu erzeugen, d.h. einzelne Nervenzellen koordinieren sich, um rhythmische Wellen zu erzeugen, die dann Flüssigkeit durch das dichte Hirngewebe treiben und dabei das Gewebe spülen. Diese Wellen sind ein plausibler Mechanismus zur Erklärung der korrelierten Potenzierung des glymphatischen Flusses durch das Hirnparenchym. Die chemogenetische Abflachung dieser hochenergetischen Ionenwellen behinderte weitgehend die Infiltration von Liquor in das Hirnparenchym und den Abtransport von Molekülen aus dem Parenchym. Insbesondere die synthetischen Wellen, die durch transkranielle optogenetische Stimulation erzeugt wurden, verstärkten die Liquorperfusion in die interstitielle Flüssigkeit erheblich. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Neuronen die Hauptorganisatoren dieser Hirnräumung sind.

    Eine weitere Studie zeigte, dass die Funktion des glymphatischen Systems auch nach traumatischen Hirnverletzungen stark reduziert ist, sodass eine chronische Beeinträchtigung der Funktion des glymphatischen Systems nach Hirntraumata ein Schlüsselfaktor sein könnte, der den Beginn einer Neurodegeneration einleitet.

    Möglicherweise könnte dieser Entsorgungsmechanismus auch eine Erklärung für das unterschiedliche Schlafbedürfnis verschiedener Lebewesen liefern, denn während Fledermäuse zwanzig Stunden am Tag ruhen, kommen Giraffen oder Elefanten mit drei bis vier Stunden aus.


    Kurioses

    In einem Magazin fand sich übrigens eine einschlägige Untersuchung unter dem anschaulichen Titel:
    Gehirnwäsche im Schlaf 😉
    Und manche Zeitungen titeln:
    Neurowissenschaft: Nächtlicher Großputz im Gehirn
    Nervenabfall: Schlaf spült das Gehirn regelrecht durch


    Meningealen Lymphgefäße an der Schädelbasis sorgten für den Abfluss der Stoffwechselprodukte im Gehirn

    Nach einer neuen Studie (Ahn et al., 2019) werden Schadstoffe im Gehirn vor allem von Lymphgefäßen an der Schädelbasis abtransportiert. Deren Funktion scheint mit zunehmendem Alter abzunehmen, was könnte die Entstehung von Erkrankungen wie Alzheimer erklären. Die Lymphgefäße an der Schädelbasis waren bisher weitestgehend unerforscht, dies wurde nun an den meningealen Lymphgefäßen an der Schädelbasis von Mäusen untersucht. Mithilfe eines Farbstoffs und einer speziellen Mikroskopiertechnik konnte man die Strukturen der Gefäße im Detail sichtbar machen, wobei die basalen Lymphgefäße eine Reihe von Eigenschaften besitzen, die sowohl die Aufnahme als auch den Abfluss von Flüssigkeit erleichtern. So sind die Endothelzellen, aus denen die Wände der kapillarartig verzweigten Gefäße bestehen, nur lose miteinander verbunden und ermöglichen so die Aufnahme von Flüssigkeit, wobei es wie bei allen Lymphsystemen Präkollektoren gibt, die Flüssigkeit aus mehreren Lymphgefäßen sammeln und anschließend weitertransportieren. Diese Strukturen verfügen über Klappen, die einen Rückfluss verhindern und den kontinuierlichen Strom von Flüssigkeit in eine Richtung gewährleisten.

    Literatur

    Ahn, Ji Hoon, Cho, Hyunsoo, Kim, Jun-Hee, Kim, Shin Heun, Ham, Je-Seok, Park, Intae, Suh, Sang Heon, Hong, Seon Pyo, Song, Joo-Hye, Hong, Young-Kwon, Jeong, Yong, Park, Sung-Hong & Koh, Gou Young (2019). Meningeal lymphatic vessels at the skull base drain cerebrospinal fluid. Nature, doi:10.1038/s41586-019-1419-5.
    Jiang-Xie, Li-Feng, Drieu, Antoine, Bhasiin, Kesshni, Quintero, Daniel, Smirnov, Igor & Kipnis, Jonathan (2024). Neuronal dynamics direct cerebrospinal fluid perfusion and brain clearance. Nature, doi:10.1038/s41586-024-07108-6.
    Lulu Xie, Hongyi Kang, Qiwu Xu, Michael J. Chen,Yonghong Liao, Meenakshisundaram Thiyagarajan, John O’Donnell, Daniel J. Christensen, Charles Nicholson, Jeffrey J. Iliff, Takahiro Takano, Rashid Deane & Maiken Nedergaard (2013). Sleep Drives Metabolite Clearance from the Adult Brain. Science, 342, 373-377.
    Millward, Jason M., Ramos Delgado, Paula, Smorodchenko, Alina, Boehmert, Laura, Periquito, Joao, Reimann, Henning M., Prinz, Christian, Els, Antje, Scheel, Michael, Bellmann-Strobl, Judith, Waiczies, Helmar, Wuerfel, Jens, Infante-Duarte, Carmen, Chien, Claudia, Kuchling, Joseph, Pohlmann, Andreas, Zipp, Frauke, Paul, Friedemann, Niendorf, Thoralf & Waiczies, Sonia (2020). Transient enlargement of brain ventricles during relapsing-remitting multiple sclerosis and experimental autoimmune encephalomyelitis. JCI Insight, 5, doi:10.1172/jci.insight.140040.
    Stangl, W. (2022, 25. August). Das glymphatische System. Stangl notiert …
    https:// notiert.stangl-taller.at/allgemein/das-glymphatische-system/
    Stangl, W. (2024, 1. März). Neuronen koordinieren sich zur Gehirnreinigung. Stangl notiert ….
    https:// notiert.stangl-taller.at/grundlagenforschung/neuronen-koordinieren-sich-zur-gehirnreinigung/
    http://news.doccheck.com/de/202311/ist-alzheimer-ein-abflussproblem/ (18-03-20)


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