Zu einer Traumatisierung kommt es, wenn ein Ereignis (Trauma) die Belastungsgrenzen eines Menschen übersteigt und dieses Ereignis nicht oder nicht richtig verarbeitet werden kann. Solche Ereignisse können sein z. B. Missbrauch, Gewalt, lebensbedrohliche Situationen usw., wobei sich diese Folgen oft erst nach Monaten oder sogar nach Jahren bemerkbar machen. Möglicherweise verbirgt sich dahinter der Schutzmechanismus der Verdrängung, die das Erlebte für einen gewissen Zeitraum vor dem Bewusstsein verbirgt. Doch durch eine ähnliche Situation kann werden dann die Erinnerung bzw. das traumatische Erlebnis wieder aktiviert, was sich in plötzlichen unerklärlichen Ängsten, Panikattacken oder Phobien äußern kann.
Meta-Analysen haben gezeigt, dass frühkindliche Erfahrungen einen großen Einfluss auf die spätere psychische Entwicklung haben, d. h., wer als Kind sexuellen Missbrauch, den Tod eines Familienmitglieds, Krankheiten oder Naturkatastrophen erlebt hat, leidet häufiger an psychischen Erkrankungen. Traumatische Kindheitserlebnisse bewirken nach neuesten Untersuchungen auf Grund des epigenetische Steuerungssystems, die bestimmte Gene dauerhaft aktivieren oder abschalten, ganz spezifischen Veränderungen der Gehirnarchitektur.
Nach einer neueren Studie scheint die Hirnrinde von Frauen, die in ihrer Kindheit sexuellen Missbrauch oder emotionale emotionalen Misshandlungen wie Vernachlässigung und Lieblosigkeit ertragen mussten, an bestimmten Stellen ungewöhnlich dünn zu sein, und zwar in jenen Arealen, die von den einschneidenden Erfahrungen unmittelbar in Mitleidenschaft gezogen wurden. Es besteht auch eine spezifische Korrelation zwischen verschiedenen Formen der Misshandlung und Veränderungen in genau denjenigen Regionen des Cortex, die in die Wahrnehmung und Verarbeitung der speziellen Misshandlungsform involviert sind. So ist etwa der somatosensorische Cortex in dem Bereich, in dem die weiblichen Genitalien repräsentiert werden, signifikant dünner bei Frauen, die in ihrer Kindheit Opfer sexuellen Missbrauchs waren. Opfer emotionaler Misshandlung hingegen zeigen eine spezifische Reduktion der Hirnrinde in den Bereichen, denen eine wesentliche Funktion bei der Etablierung des Selbstbewusstseins, der Selbsterkennung und der emotionalen Regulation zugeschrieben wird. Möglicherweise ist diese bgehemmte Gehirnentwicklung auch eine Erklärung dafür, weshalb sich in sehr jungen Jahren missbrauchte Kinder später oft nicht oder nur bruchstückhaft an diese Ereignisse erinnern können (Heim et al, 2013).
Die meisten Menschen, die bedrohliche Ereignisse wie Unfälle, Katastrophen oder Überfälle erleben, verarbeiten sie relativ gut, und es ist auch normal, wenn etwa Unfallzeugen bis zu zwei Monate lang Flashbacks und Alpträume haben, da Gehirn und Psyche Zeit brauchen, um die Erlebnisse einzuordnen und zu verarbeiten. Es können bei einigen wenigen Menschen aber auch lebenslange Schäden wie massive Ängste, dauerhafte Arbeitsunfähigkeit, Depressionen und Hilflosigkeitsgefühle auftreten, wobei langfristige Anzeichen für ein Trauma Alpträume, Schlafstörungen, häufige ungewollte Erinnerungen an das Ereignis oder auch eine Zunahme des Tabak-, Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenkonsums sein können. Unmittelbar nach einem traumatischen Erlebnis ist meist nicht klar einzuschätzen, ob etwa ein Augenzeuge eines Unfalls später Hilfe von Spezialisten brauchen wird oder nicht, denn der Adrenalinspiegel ist hoch, er ist aufgeregt und möchte meist nach der Rettungsaktion so schnell wie möglich nach Hause. Dort ist der Unfallzeuge dann oft allein mit seinen Erinnerungen. PsychologInnen empfehlen daher, in den Tagen und Wochen nach einem traumatischen Erlebnis gezielt Ablenkung zu suchen, wobei es wichtig ist, sich als Betroffener etwas Gutes zu tun, wenn man das Bedürfnis danach hat. Auch körperliche Betätigung kann dabei helfen, denn wer z.B. im Anschluss an ein traumatisches Ereignis unter Schlaflosigkeit leidet, kann Sport betreiben, denn wer körperlich erschöpft ist, schläft bekanntlich leichter ein. Für manche Zeugen von traumatischen Ereignissen ist es jedoch besser, sich in eine Therapie zu begeben, in der das Erlebte unter Anleitung aufgearbeitet werden kann. Wie gut und schnell ein Mensch die Situation nach einem Unfallerlebnis bewältigt, hängt auch von dessen sozialem Umfeld ab.
Traumatisierung definiert sich als Folge eines vitales Diskrepanzerlebnisses zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das zu Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe führt. Diese Hilflosigkeit entsteht aus Kompetenzverlust, in dem aufgrund traumatischer Desillusionierung einem selbst das Versagen zugeschrieben wird und dadurch kann es zu einer dauerhaften Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis kommen. Hierbei „entgleist“ der Verarbeitungsprozess dieses Erlebnisses wodurch der ursprüngliche traumatische Erlebniszustand als Panikzustand fortbesteht oder es zu sogenannten eingefrorenen Erlebniszuständen mit psychosomatischen und psychovegativen Reaktionen kommt (vgl. Fischer & Riedesser, 2009, S. 142f).
„Traumatisierung kann am besten als Situation beschrieben werden, in der das Subjekt von automatischer Angst überwältigt und hilflos zurückgelassen wird und in der wichtige Ich-Funktionen gehemmt oder ausgeschaltet werden. Kampf-Flucht-Reaktionen sind in der Regel unmöglich; stattdessen dominieren psychische Reaktionen, die an das so genannte Einfrieren (freeze) mit den dafür charakteristischen Phänomenen wie Betäubung der Gefühle, eingeschränkter Sinneswahrnehmung und motorischer Lähmung erinnern“ (Varvin & Beenen, 2006, S. 198).
Eine Traumatisierung erfolgt aufgrund eines Erlebnisses, das nicht verarbeitet werden kann und daher aus dem Bewusstsein des Betroffenen gedrängt wird. Aus dem Unterbewusstsein heraus entfaltet dieses Ereignis jedoch eine psychische Wirkung auf den Betroffenen, als würde er ständig mit diesem traumatischen Erlebnis konfrontiert werden. Der Terminus Traumatisierung wird meist analog dem Begriff des psychischen Traumas verwendet, hebt jedoch zusätzlich den Prozess der Einwirkung hervor (vgl. Peters, 2007, S. 563f).
„Unter einem psychischem Trauma wird ein intensives Bedrohungserlebnis verstanden, dessen Qualität deutlich außerhalb des typischen menschlichen Erlebens liegt und dessen Intensität die durchschnittlich verfügbaren psychischen Verarbeitungsgrenzen überschreitet“ (Wöller & Kruse, 2004, S 237).
Laut Terr definiert man den Begriff Traumatisierung je nach Zeitdauer auf zwei unterschiedliche Arten. Im ersten Fall erfolgt durch ein einzelnes, kurzes Ereignis wie einen Unfall, einen Überfall, Vergewaltigung oder eine Naturkatastrophe eine Traumatisierung. Dieser Vorfall prägt sich oft bis zur kleinsten Einzelheit in das Gedächtnis der Betroffenen ein und kann zu psychischen Störungen führen. Zur zweiten Kategorie der Traumatisierung kommt es aufgrund mehrmaliger, sich wiederholender oder länger andauernder Erlebnisse wie Krieg, Geiselhaft, wiederholter körperlicher oder sexueller Gewalt und Missbrauch. Hierbei kommt es nach und nach zu einem Anpassungsprozess um die traumatischen Ereignisse gedanklich und emotionell erträglicher zu machen (vgl. Terr zit. nach Hausmann, 2006, S. 43).
Geburt als Trauma
Eine Geburt kann für viele Frauen eine schwere Belastung sein, die sie danach durch ihr Leben schleppen, wobei Frauen immer wieder berichten, dass sie in ihrem Umfeld häufig auf Unverständnis stoßen, wenn sie von Problemen bei der Geburt erzählen. Schätzungen der Internationalen Gesellschaft für prä- und perinatale Psychologie und Medizin zufolge erleben rund 20 bis 50 Prozent der Frauen die Geburt ihres Kindes als belastend, schwierig oder sogar traumatisch. Für manche Frauen sind besonders medizinische Eingriffe ohne Erklärung oder mangelnde Begleitung problematisch, d. h., noch immer erleben Mütter Gewalt bei der Geburt ihrer Kinder. Auch Selbstzweifel der Mütter, die Geburt nicht gemeistert zu haben, Bindungsstörungen zum Kind bis hin zu einer Posttraumatischen Belastungsstörung können die Folge sein.
Missbrauch und Misshandlung verändern Immunprozesse
Boeck et al. (2016) untersuchten, durch welche Mechanismen Missbrauch und Misshandlung in der Kindheit zu chronischen Entzündungszuständen führen, denn werden Kinder misshandelt, missbraucht oder vernachlässigt, finden sich noch viele Jahre danach erhöhte Entzündungswerte in ihrem Blut. Die Folgen sind nicht nur ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen, sondern auch eine Schwächung des Immunsystem und eine höhere Anfälligkeit für bestimmte altersassoziierte körperliche Erkrankungen. Im Rahmen der Studie „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ entnahm man Frauen im Alter von 22 bis 44 Jahren Blut, wobei alle bis zum Alter von 18 Jahren in unterschiedlichem Ausmaß emotionale und körperliche Misshandlung und Vernachlässigung oder sexuellen Missbrauch erlebt hatten. Es bestätigte sich, dass die Frauen erhöhte Entzündungswerte im Blut aufwiesen, wobei die chronische Entzündungsreaktion mit einer gesteigerten Aktivität der Mitochondrien einherging. Diese Veränderungen auf Zellebene waren umso stärker, je schwerwiegender die Vernachlässigungs- und Misshandlungserfahrungen waren. Offensichtlich wird durch die traumatischen Erlebnisse die Stressantwort der betroffenen Frauen nachhaltig verändert, wenn sie als Kinder in einer hochsensiblen Phase negativen Erlebnissen wie Missbrauch ausgesetzt sind. Die vermehrten Entzündungsprozesse und die erhöhte mitochondriale Aktivität könnten eine schützende Anpassungsreaktion des Körpers unter exzessivem und chronischem Stress sein, langfristig führten diese aber zu einer erhöhten Anfälligkeit für bestimmte körperliche und seelische Erkrankungen. Schutzfaktoren können dabei körperliche Aktivität und soziale Unterstützung sein, denn beide sind geeignet, entzündliche Prozesse zu vermindern.
Sexueller Missbrauch in Kindheit und Jugend
Eine spezifische Reaktion auf sexuellen Missbrauch von Mädchen in Kindheit und Jugend ist nach Kavemann (2016) die traumatische Sexualisierung, d. h., Betroffene erleben einerseits Aversionen gegen Sexualität, Flashback bei sexuellen Berührungen, Schwierigkeiten Erregungen zuzulassen und generell eine negative Einstellung zum eigenen Körper. Andere Opfer wiederum entwickeln eine zwanghafte Beschäftigung mit Sexualität, einen raschen Wechsel der Sexualpartner, eigene sexuelle Aggressionen mit Grenzüberschreitungen, also insgesamt chaotische und destruktive Vorstellungen von dem, was sexuelle Beziehungen ausmacht. Viele betroffene Mädchen zeigen ein offensives sexualisiertes Verhalten, da sie mit ihrem Stigma nicht umgehen können, ständig über Sexualität reden, eine sexualisierte Sprache verwenden und beliebig wirkende sexuelle Beziehungen eingehen. wobei dieses Verhalten die meist bereits bestehende Stigmatisierung noch verstärkt.
Traumatisierungen sind übrigens ein gutes Beispiel dafür, dass menschliches Lernen nicht bloß durch Wiederholung zustandekommt. Dass man etwas nur einmal erlebt haben muss, um es nie wieder zu vergessen, weiß jeder Traumapatient, denn das traumatische Ereignis hat einen solchen überwältigenden Eindruck hinterlassen, dass es später immer wieder ins Bewusstsein zurückgerufen wird und dadurch erneut verfestigt wird.
Siehe auch Toxisch, traumatisch, getriggert: Worin liegt der Reiz der Therapiesprache?
Literatur
Boeck, C., Koenig A.M., Schury, K., Geiger, M.L., Karabatsiakis, A., Wilker, S., Waller, C., Gündel, H., Fegert, J. M., Calzia, E. & Kolassa, I. T. (2016). Inflammation in adult women with a history of child maltreatment: The involvement of mitochondrial alterations and oxidative stress. Mitochondrion, 30, 197–207.
Fischer, G. & Riedesser, P. (2009). Lehrbuch der Psychotraumatologie. München: Ernst Reinhardt Verlag.
Heim, Christine M., Mayberg, Helen S., Mletzko, Tanja, Nemeroff, Charles B. & Pruessner, Jens C. (2013). Decreased Cortical Representation of Genital Somatosensory Field After Childhood Sexual Abuse. American Journal of Psychiatry, 170, 616-623.
Hausmann, C. (2006). Einführung in die Psychotraumatologie. Wien: Facultas Universitätsverlag.
Kavemann, Barbara (2016). Sexualpädagogik oder Gewaltprävention? Sexualität vor dem Hintergrund sexueller Gewalterlebnisse.
WWW: www.gemeindepsychologie.de/fg-1-2016_03.html (17-07-12)
Peters, U. (2007). Lexikon. Psychiatrie, Psychotherapie, Medizinische Psychologie. München: Urban & Fischer Verlag.
Varvin, S. & Beenen, F. (2006). Trauma und Dissoziation. Manifestation in der Übertragung und Gegenübertragung. In M. Leuzinger-Bohleber, R. Haubl & M. Brumlik (Hrsg.), Bindung, Trauma und soziale Gewalt. Psychoanalyse, Sozial- und Neurowissenschaften im Dialog (S. 197-220). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Wöller, W. & Kruse, J. (2004). Traumatisierte Patientinnen und Patienten. In W. Tress, J. Kruse & J. Ott (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung. Kompendium der interpersonellen Medizin (S. 237-247). Stuttgart: Schattauer.
https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/hilfetelefon-schwierige-geburt-trauma-100.html (20-06-29)