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Tiefenwahrnehmung

    Ein spezieller Teil der visuellen Wahrnehmung des Menschen bezieht sich auf die Fähigkeit zur Wahrnehmung räumlicher Tiefe, wobei in der Psychologie die Entwicklung der Fähigkeit zur Tiefenwahrnehmung bei Kleinkindern u. a. mit der visuellen Klippe analysiert wird. Die Tiefenwahrnehmung befähigt die Menschen, Gegenstände in drei Dimensionen zu sehen, obwohl die Bilder, die auf die Retina projiziert werden, nur zweidimensional sind. Die Tiefenwahrnehmung befähigt Menschen auch zur Einschätzung der Entfernung eines Objekts. Dass Menschen gut darin sind, räumliche Tiefe visuell wahrzunehmen, liegt teilweise daran, dass das rechte und linke Auge die Umgebung aus einer leicht verschiedenen Perspektive wahrnehmen und daher zwei kaum unterscheidbare Bilder der Umgebung aufnehmen. Das Gehirn interpretiert dann diese Unterschiede als Hinweise darauf, was nah und was fern ist.

    Mit Stereogrammen kann man dieses Phänomen untersuchen, wenn man diese nach innen oder außen schielend anschaut, denn dann zeigen sie dem linken und dem rechten Auge leicht unterschiedliche Bilder, so dass das Gehirn scheinbare Tiefe wahrnimmt. Zhaoping (2021) erforscht nun anhand von Random-Dot-Stereogramme – diese bestehen aus je zwei Bildern, die nur Punkte enthalten, die mittels geeignet angeordneter Spiegel dem linken und dem rechten Auge voneinander unabhängig gezeigt werden -, wie verschiedene Gehirnareale bei der Verarbeitung visueller Reize zusammenwirken, und zeigte, dass bestimmte widersprechende visuelle Signale für die Wahrnehmung von räumlicher Tiefe vom Gehirn unterdrückt werden, wenn dieses dafür genügend Zeit hat. Die Forschungsergebnisse liefern Details für eine seit langem diskutierte Hypothese über die Zusammenarbeit der verschiedenen visuellen Zentren im Gehirn.

    Beim Sehen werden die von den Augen aufgenommenen Daten im primären visuellen Cortex verarbeitet, bevor ein kleiner Bruchteil von ihnen in höhere Sehzentren weitergeleitet wird, wobei unterschiedliche Neuronen im primären visuellen Cortex für die Wahrnehmung von „nah“ und „fern“ zuständig sind: Manche Neuronen reagieren stark auf scheinbar nahe Punktepaare, andere auf scheinbar ferne Paare. Wenn jedoch ein schwarzer und ein weißer Punkt zusammen ein Paar bilden, tauschen diese Neuronen die Rollen: Für Neuronen im primären visuellen Cortex kehrt sich die Tiefenwahrnehmung um, wenn die Punkte miteinander kontrastieren. Um zu verstehen, welche Rolle die höheren Sehzentren für die Tiefenwahrnehmung spielen, ließ man Versuchspersonen verschiedene Random-Dot-Stereogramme mit weißen und schwarzen Punkten anschauen, auf denen jeweils eine zentrale Scheibe vor (oder manchmal hinter) einem umgebenden Ring dargestellt war. Doch in einigen Stereogrammen änderten die Wissenschaftler die Schattierungen mancher Punkte in der Scheibe, so dass manche Paare schwarz-weiß gemischt waren. Da die Tiefenwahrnehmung sich bei schwarz-weißen Paaren umkehrt, führte die Mischung von einfarbigen und schwarz-weißen Paaren dazu, dass der primäre visuelle Cortex widersprüchliche Signale an die höheren Sehzentren schickte. Es wäre also zu erwarten, dass die zentrale Scheibe schwieriger zu erkennen sein sollte. Doch erstaunlicherweise war die Tiefenwahrnehmung nur dann beeinträchtigt, wenn die Versuchspersonen die Stereogramme nur kurz anschauen konnten, denn hatten sie genügend Zeit, erschwerten die sonst verwirrenden schwarz-weißen Paare die Tiefenwahrnehmung nicht mehr.

    Diese Ergebnisse stützen eine in der Sehforschung seit langem diskutierte Hypothese, dass wenn der primäre visuelle Cortex widersprüchliche Daten weitergibt, in diesem Fall stimmt die Information der schwarz-weißen Paare nicht mit der Information der anderen Punktpaare überein, werden die Signale von den schwarz-weißen Punkten zunächst einfach zu den anderen Signalen addiert. Daher hatten die Versuchspersonen in den Experimenten mit voneinander abweichenden Signalen und kurzer Sehdauer Schwierigkeiten, die Scheibe zu erkennen. Mit genügend Zeit kommen jedoch die höheren Sehzentren ins Spiel und stellen auf Basis des visuellen Inputs Mutmaßungen über die tatsächliche visuelle Szenerie an, wobei sie mit einem internen Modell der Realität ein synthetisches Input-Bild erstellen. Dieses Bild wird dann an den primären visuellen Cortex zurückgemeldet, um die Originaldaten zu korrigieren und zu vervollständigen. Man könnte sagen, dass die höheren Sehzentren zum primären visuellen Cortex sagen: ‚So würde eine Scheibe im Vordergrund aussehen – bitte vergleiche, ob das mit deinem Input übereinstimmt.‘ Um eine stimmige räumliche Weltsicht zu konstruieren, werden also das synthetische und das tatsächliche visuelle Bild verglichen, wobei dieser Abgleich entweder die Mutmaßungen der höheren Sehzentren bestätigt oder Veto gegen sie einlegt, und die bestätigten Mutmaßungen sind das, was wahrgenommen wird. Im Fall der unstimmigen Stereogramme schaltet dieses Feedbackmodell die verwirrenden Signale der schwarz-weißen Punktepaare aus, so dass die Scheibe deutlich wahrgenommen wird. Man hat dabei sogar einige andere Fälle entdeckt, in denen das Gehirn die schwarz-weißen Paare nutzen kann, um eine verbesserte Tiefenwahrnehmung zu konstruieren.

    Literatur

    Zhaoping, L. (2021). Contrast-reversed binocular dot-pairs in random-dot stereograms for depth perception in central visual field: Probing the dynamics of feedforward-feedback processes in visual inference. Vision Research, 186, 124-139.
    https://nachrichten.idw-online.de/2021/10/06/wie-das-gehirn-sich-selbst-ueberlistet-um-tiefe-wahrzunehmen/ (21-10-05)


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