Das narrative Interview ist eine qualitative Methode der Sozialwissenschaften, um Daten eines Interviewpartners in einer bestimmten Art und Weise zu erhalten und auszuwerten. Es handelt sich dabei um ein erzählendes Interview, somit um eine weitgehend nichtstandardisierte Erhebungsform, die zur Analyse von Ereignisverläufen wie biographischen Prozessen (Bewältigung von Arbeitslosigkeit, Krankheitsverhalten, Ehescheidungen, Berufswahlen und Bildungskarrieren, Statuspassagen u.a.), aber auch zur Analyse von konflikthaften Gruppenprozessen, Familienkonstellationen oder kollektiven Entscheidungen dienen kann. Das narrative Interview wird auch als narratives Gruppeninterview praktiziert.
Das narrative Interview ist dabei ein ursprünglich von Fritz Schütze entwickeltes sozialwissenschafthehes Erhebungsverfahren, das nicht dem sonst üblichen Frage- und Antwortschema von Interviews folgt. Das narrative Interview basiert auf der Annahme, dass Erzählungen eine inhärente, quasi natürliche Struktur aufweisen, die sich nur dann entfalten kann, wenn man einen Menschen die entsprechende Geschichte erzählen lässt. Nachfragen, so wird angenommen, stören diesen Erzählfluss eher, sodass ein narratives Interview stark von der befragten Person gesteuert werden soll. Ausgangspunkt sollte daher ein identischer Erzählanreiz von ’narrativer Generierungskraft‘ (F. Schütze) sein, der der Stegreiferzählung Bedeutung und Richtung gibt, die sich von Zuhörer ungestört auf der Basis seiner Erzählkompetenz und entlang der Relevanzstrukturen des Erzählers entfalten soll. Das narrative Interview produziert meist einen Text mit großen Anforderungen an die Transkription und die Textanalse (Erzählschichten, Ereignisse und Deutungen, Tiefenstrukturen), die zu eigenständigen inhaltsanalytischen und hermeneutischen Methoden geführt haben.
Im narrativen Interview wird der Informant bzw. die Informantin gebeten, die Geschichte eines Objektbereichs, an der er bzw. sie teilgehabt hat, in einer Stegreiferzählung zu erzählen. In freundschaftlicher Atmosphäre und mit einem weichen bis neutralen Interviewstil wird versucht, biographische Erzählungen der Befragten anzuregen, wobei der Detaillierungsgrad der Ausführungen vollkommen den interviewten Personen überlassen bleibt. Im Idealfall beginnen die ForscherInnen die Datenerhebung ohne ein im Vorhinein festgelegtes wissenschaftliches Konzept und entwickeln dieses induktiv aus den Äußerungen der Befragten.
Der Hauptteil eines narrativen Interviews besteht also aus der Erzählung selbst erlebter Erlebnisse. Aufgabe des Interviewers bzw. der Interviewerin ist es vorwiegend, die Erzählerin oder den Erzähler zu bewegen, die Geschichte des interessierenden Objektbereichs als eine zusammenhängende Geschichte zu erzählen. Das narrative Interview zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass der Verlauf des Interviews weitgehend offen ist und der bzw. dem Interviewten genügend Zeit gegeben wird, über besonders entscheidende Punkte ihres bzw. seines Lebens zu erzählen.
Man spricht deshalb auch oft vom erzählenden Interview. Es wird dabei eine Stegreiferzählung angestrebt, während die bzw. der Erzählende nicht unterbrochen werden darf und die sie oder er selbst beendet. Im Unterschied zu anderen qualitativen Interviews dient das narrative Interview nicht dem Zweck, vorher aufgestellte Hypothesen mit Hilfe des Interviews zu prüfen. Die Hypothesen werden nicht vor dem Interview, sondern erst zusammen mit dem Interviewpartner aufgestellt, da sie sich erst durch seine Erzählung ergeben. Das narrative Interview hängt eng mit der Biografieforschung zusammen, die eine besondere Unterform des narrativen Interviews darstellt, das zur Erfassung speziell von Lebensgeschichten eingesetzt wird.
Bei der Auswertung narrativer Interviews ist die Unterscheidung zwischen tatsächlichen Ereignissen und im Interview rekonstruierten Ereignissen von zentraler Bedeutung, denn in der Regel werden nicht die tatsächlichen Ereignisse erzählt, sondern die subjektiv verarbeiteten, erinnerten und rekonstruierten Ereignisse. Das Interesse der ForscherInnen bei der Auswertung richtet sich also nicht nur auf die Erfassung vergangener Ereignisse, sondern häufig auf die Differenz zwischen Ereignis und dessen Rekonstruktion, in der die spezifisch subjektive Verarbeitung seitens der befragten Person zum Ausdruck kommt.
Das narrative Interview eignet sich vor allem zur Erfassung der subjektiven Repräsentation und Verarbeitung von Ereignissen, die sich am besten in Geschichtenform wiedergeben lassen. Das narrative Interview ist eine interdisziplinäre Methode, die keineswegs nur in der Psychologie Anwendung findet, sondern etwa in der Geschichtsforschung (oral history) verankert ist.
Phasen eines narrativen Interviews
Das narrative Interview wird in fünf Phasen eingeteilt:
- Erklärungsphase: Dem Befragten wird erklärt, dass es sich nicht um ein Frage-Antwort-Interview handelt, sondern er erzählt und der Interviewer wird ihm aufmerksam zuhören.
- Einleitung: Der Interviewer erklärt, welcher Aspekt ihn besonders interessiert, da es dem Interviewten nicht möglich sein wird, sein ganzes Leben bis ins kleinste Detail zu schildern. Er stellt dabei die Einstiegsfrage.
- Erzählphase: Der Befragte erzählt so lange, bis er die Erzählung selbst beendet. Pausen sollten vom Interviewer ohne zu frühes Nachfragen ausgehalten werden.
- Nachfragephase: Ist etwas unklar geblieben, so kann der Interviewer jetzt nachfragen. Zusätzlich kann er Themen ansprechen, die er sich auf seinem Interviewleitfaden notiert hatte.
- Bilanzierung: Interviewer und Interviewter können sich über den Verlauf des Interviews austauschen, wobei in der Schlussbetrachtung darauf zu achten ist, dass sie bei den befragten Personen keinen Rechtfertigungsdruck erzeugen.
Siehe Beispiel für einen Fragenkatalog (Narratives Interview) zum Thema „Erziehungsprobleme“.
Quellen
Stangl, W. (1997). Narratives Interview.
WWW: http://paedpsych.jk.uni-linz.ac.at/internet/arbeitsblaetterord/ERZWISSENSCHAFTEMPIRISCH/NarrativesInterview.html (97-11-14)
Lamnek, S. (2005). Qualitative Sozialforschung. Weinheim, Basel: Beltz PVU.
Atkinson, P. & Delamont, S. (Eds.) (2005). Narrative methods. London: SAGE.