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Negativitätsbias

    „Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, wehzutun, bleibt im Gedächtnis“—das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten (leider auch allerlängsten) Psychologie auf Erden.
    Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, 1887.

    Der Negativitätsbias (Negativity Bias), auch Negativitätseffekt oder Negativitätsdominanz, beschreibt das sozialpsychologische Phänomen, dass sich negative Gedanken, Gefühle oder Erlebnisse psychisch stärker als neutrale oder positive auswirken, auch wenn diese in gleicher Intensität auftreten. Ein Negativitätsbias bezieht sich somit auf die innere Einstellung, in den meisten Situationen die Aufmerksamkeit eher auf die negativ erscheinenden und negativ bewertete Faktoren zu richten, während positive nicht oder nur sehr eingeschränkt wahrgenommen werden. Es handelt sich dabei um eine weit verbreitete menschliche Neigung, sich von negativen Ereignissen und Emotionen stärker beeinflussen zu lassen als von positiven. Während manche Menschen ein Wort der Kritik zu irritieren kann, kann es sie durchaus unberührt lassen, wenn sie jemand mit Lob überschüttet.

    Der Negativitätseffekt verweist auf die Vorstellung, dass selbst bei gleicher Intensität Dinge negativer Natur wie unangenehme Gedanken, Emotionen oder soziale Interaktionen, aber auch schädliche bzw. traumatische Ereignisse einen größeren Einfluss auf den psychischen Zustand und die menschlichen Denkprozesse besitzen als neutrale oder positive Dinge. Daher hat in der Regel etwas sehr Positives weniger Einfluss auf das Verhalten und die Kognition eines Menschen als etwas ebenso Emotionales dafür aber Negatives. Diese Negativitätsverzerrung wurde in vielen Bereichen untersucht und nachgewiesen, etwa im Zusammenhang mit Aufmerksamkeit, Lernen und Gedächtnis sowie Risikoüberlegungen und Entscheidungsfindungen. Forschungsergebnisse der Kognitionspsychologie zeigen deutlich, dass menschliches Schließen für eine optimale Lösung nicht nur mit Hilfe rationaler Mechanismen erfolgt, vielmehr spielen auch jene Teile des Gehirns, die für Emotionen zuständig sind, eine wichtige Rolle. Und das vor allem dann, wenn schnelle und dennoch optimale Entscheidungen gefällt werden müssen.

    LaFreniere & Newman (2020) haben in einer Studie gezeigt, dass die Menge der negativen Emotionen, die Menschen mit sich herumtragen, in der Regel unverhältnismäßig hoch ist. Es hat sich in der Studie gezeigt, dass 91,4 Prozent der Sorgen, die sich Menschen täglich machen, völlig nutzlos sind, da die Probleme, um die sie kreisen, niemals eintreten. Manchmal sieht es sogar so aus, als fiele es den Menschen schwer, Positives auszuhalten.


    Beispiel

    Ist es wirklich so, dass Radfahrer die Verkehrsregeln etwas lockerer auslegen? Natürlich gibt es sie, die Radrowdys, die über den Gehsteig preschen, als seien sie bei der Tour de France, doch sie sind nicht die Mehrheit. Aber es kommt einem so vor, weil Negatives einfach länger im Gedächtnis bleibt als Positives. Man kann 30 Jahre lang mit dem Zug zur Arbeit fahren und immer geht alles gut. Der eine Tag, an dem der Zug wegen einer Bombendrohung zwei Stunden vor dem Bahnhof steht, bleibt ewig im Gedächtnis.


    Der Negativitätsbias führt vor allem bei sozial ängstlichen Menschen dazu, dass sie etwa Erfolge eher extern attribuieren, ihre Aufmerksamkeit auf vermeintliche eigene Mängel zentrieren, negative Reaktionen ihrer Interaktionspartner selbst dann erwarten, wenn sie sich angemessen verhalten. Im übrigen schätzen sie sich weniger attraktiv ein als Nicht-Ängstliche, überschätzen die Sichtbarkeit ihrer Angst und unterschätzen ihre Leistungen in sozialen Bewertungssituationen im Vergleich zum Fremdurteil. Es gibt daher auch Menschen, die fürchten sich regelrecht vor dem Glücklichsein, wobei vor allem Menschen mit Depression einen Negativitätsbias zeigen, d. h., sie nehmen die unschönen Seiten des Lebens intensiver wahr und bleiben länger an negativen Gefühlen hängen. Mit der Zeit entsteht daraus bei manchen Betroffenen eine regelrechte Furcht vor positiven Emotionen, denn wenn man etwa befürchtet, dass Verliebtsein in der Regel im Liebeskummer endet, lernt man mit der Zeit, allen Glücksgefühlen zu misstrauen. Diese Aspekte sind besonders in der Psychotherapie zu beachten, denn wenn man bei der Auswahl einer Behandlung auf die Wünsche der Betroffenen eingeht, so könnte das in diesem Fall problematisch sein, denn gerade diejenigen Depressiven, die gute Gefühle fürchten, könnten möglicherweise am meisten von einem speziell darauf abzielenden Programm profitieren.

    Das führt auch zu einer Prävalenz für negative Nachrichteninhalte. Soroka et al. (2019) haben die physiologischen Reaktionen (Puls und Hautleitfähigkeit) auf zufällig ausgewählte TV-Nachrichten der BBC in den verschiedensten Ländern gemessen, wobei die schlechten Nachrichten deutlich mehr Körperreaktionen auslösten. Doch gibt es deutliche Unterschiede zwischen den Ländern, denn etwa in Brasilien, Ghana und den USA ist die Erregung bei schlechten Nachrichten besonders deutlich ausgeprägt, in Italien und Schweden ist diese viel geringer. Dieses Prinzip wird vor allem von Boulevardmedien genutzt.

    Evolutionär bedingt

    Dieser Negativitätsbias war vor tausenden von Jahren überlebenswichtig, denn für diese Menschen war es damals wichtig, sich zu merken, welche Früchte schwer verdaulich oder sogar giftig waren, wo Bären hausten oder Raubtiere auf Jagd gingen. Aus diesem Grund wurden alle Erfahrungen und Sinneseindrücke genauestens analysiert und für die Zukunft gespeichert. Vermutlich liegt es auch an diesem evolutionären Erbteil, dass auch heute noch Menschen in ihrer Erinnerung an negativen Erinnerungen kleben bleiben, auch wenn dies manchmal die Menschen eher behindert. Obwohl die Evolution Menschen offenbar anfällig für das Negative gemacht hat, da es eine primitive Region im Gehirn regiert, sie hat aber auch die anspruchsvolleren Regionen des menschlichen Gehirns mit kognitiven Fähigkeiten ausgestattet, die es den Menschen erlauben, der Negativität Paroli zu bieten oder sich ihrer konstruktiv zu bedienen.

    Daher muss der Negativitätseffekt nicht das letzte Wort haben, denn obwohl die Bewertung schlecht stärker ist, kann die Bewertung gut dennoch die Oberhand gewinnen, wenn man versteht, womit man es mit dieser Negativität zu tun hat. Indem man also den Negativitätseffekt durchschaut und sich über diese angeborene Reaktion hinwegsetzt, kann man bewusst destruktive Muster durchbrechen und positiver und somit effektiver in die Zukunft blicken. Man kann sich also die durchaus bemerkenswerten Vorteile dieser verzerrenden Tendenz zunutze machen, doch es braucht Weisheit und ein gutes Stück Arbeit, dieser Negativität zu entgehen. Baumeister & Tierney (2020) versuchen in ihrem Buch zu vermitteln, wie man die Macht des Negativen nutzen kann, sofern sie förderlich ist, und man sie überwinden kann, wenn sie schadet. Anstatt also nach einem Rückschlag zu verzweifeln, kann man nach Wegen suchen, von der erlittenen Schlappe zu profitieren. Anstatt unbedingt die perfekten Eltern, die perfekten Paare sein zu wollen, kann man versuchen, die fundamentalen Fehler zu vermeiden, die eine weit größere Rolle spielen als alles, was man anderen Gutes tut. Man kann in jeder Beziehung lernen, einem Streit ein Ende zu machen, bevor er beginnt, dass er nicht aus dem Ruder läuft, indem man erkennt, wie leicht ein kleiner Affront falsch interpretiert, wie leicht aus einer Mücke ein Elefant werden kann, zumal wenn Partner einander nicht zu lesen vermögen.

    Literatur

    Baumeister, Roy F.  &  Tierney, John (2020). Die Macht des Schlechten. Frankfurt: Campus.
    LaFreniere, Lucas S. & Newman, Michelle G. (2020). Exposing Worry’s Deceit: Percentage of Untrue Worries in Generalized Anxiety Disorder Treatment. Behavior Therapy, 51, 413-423.
    Rozin, Paul & Royzman, Edward B. (2001). Negativity bias, negativity dominance, and contagion. Personality and Social Psychology Review, 5, 296–320.
    Soroka, Stuart, Fournier, Patrick & Nir, Lilach (2019). Cross-national evidence of a negativity bias in psychophysiological reactions to news. Proceedings of the National Academy of Sciences, doi:10.1073/pnas.1908369116.


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    Ein Gedanke zu „Negativitätsbias“

    1. Schlechte Nachrichten sind gleichsam sexy

      Der Mensch hat den Drang, negative Nachrichten zu genießen. Wäre es nicht so, würden die Boulevardmedien nicht gelesen. Die Rechnung mit der Erfolgsformel «Tränen, Blut, Sperma» scheint auch bei der Regenbogenpresse aufzugehen. Der Mensch kann Negatives «besser» aufnehmen. Dieses Phänomen lautet als Fachbegriff «Negativity Bias».

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