Das menschliche Leibgedächtnis kann als jenes Gedächtnis aufgefasst werden, das alles Können und Wissen umfasst, das im gegenwärtigen Wahrnehmen und Verhalten unwillkürlich wirksam ist, ohne dass man sich dabei aktiv an Vergangenes erinnern muss. Dabei ist der Leib der subjektiv erlebte Körper, der den Menschen wie selbstverständlich trägt, sodass sein Leib als ein latentes Medium gelten kann, mit dem ein Mensch sich in Situationen in der Welt zurechtfindet, d. h., er lebt in einem leiblichen Raum mit Richtungen, Enge und Weite, Nähe und Ferne, Leere und Fülle. Die Entwicklungspsychologie hat nachgewiesen, dass frühe Interaktionen von Säuglingen etwa auf Grund der angeborenen Fähigkeit zur Nachahmung während des ersten Lebensjahrs in das Leibgedächtnis übergehen. In den ersten beiden Lebensjahren gibt es nur das implizite Gedächtnis, da autobiographische Erinnerungen weitgehend vorüberziehen, sodass man sich auch später an diese Zeit nicht mehr erinnern kann. Gewohnheiten werden mit der Zeit von selbst aktiviert, Bewegungsabläufe gehen in Fleisch und Blut über, etwa beim Schreiben, Musizieren oder Zurechtfinden in vertrauten Räumen, wobei das entsprechende Gedächtnis über den Körper vermittelt wird. Nicht von ungefähr rät man Menschen, die nicht sicher sind, wie ein Wort richtig zu schreiben ist, dieses einfach auf ein Blatt Papier zu schreiben, denn die Hand weiß oft mehr als der Verstand 😉
Das psychologische Konzept des Embodiment hat auch gezeigt, dass der Körper an allen kognitiven und emotionalen Prozessen beteiligt ist, denn so fördert etwa eine aufrechte Position eher positiven Erinnerungen, oder wenn Menschen eine emotionsspezifische Haltung, Mimik oder Gestik einnehmen, begünstigt das die dazugehörigen Gefühle. Das Gedächtnis des Leibes tritt dabei in verschiedenen Formen auf, die sich als sensomotorisches, situatives, zwischenleibliches Gedächtnis, aber auch als Schmerz- und traumatisches Gedächtnis beschreiben lassen. Die lebenslange Plastizität des Leibgedächtnisses ermöglicht die Anpassung an die jeweilige natürliche und kulturelle Umgebung, insbesondere auch die Beheimatung im sozialen Raum. Die im Leibgedächtnis niedergelegten Strukturen sind andererseits eine wesentliche Grundlage des Selbsterlebens und der Identität, wobei die individuelle Geschichte und Persönlichkeit eines Individuums auch in seinem leiblichen Habitus und Verhalten zum Ausdruck kommt. Letztlich wird der menschlichen Leib im Verlaufe des Lebens zum zentralen Träger einer personalen Kontinuität.
*** Hier KLICKEN: Das BUCH dazu! *** Nach Ansicht von Thomas Fuchs (Universität Heidelberg) lässt sich das Leibgedächtnis als der eigentliche Träger der Lebensgeschichte betrachten, in gewissem Sinn sogar als der Grund der persönlichen Identität, denn es umfasst nicht nur Wahrnehmen, Verhalten, Fertigkeiten, Fähigkeiten und Vertrautheit mit der Welt, sondern auch Erinnerungseinschlüsse, Gedächtniskerne, die Menschen mit ihrer Vergangenheit verbinden. Alles, was Menschen wahrnehmen und tun, hinterlässt eine Spur, was insofern weitreichende Folgen hat, denn sogar in einer Demenz behält der Mensch sein leibliches Gedächtnis bis in die spätesten Stadien seiner Krankheit. Im Umgang mit demenzkranken Menschen ist das leibliche Gedächtnisses eine große Chance, denn wenn das einfache Erinnern nicht mehr gelingt, kann das Körpergedächtnis genutzt werden, wertvolle Ressourcen zu erschließen. Wenn Menschen, die sonst kaum noch gehen können, plötzlich tanzen, weil für sie der Klang eines vertrauten Tanzes ergreifend ist, sodass sie körperlich und seelisch in Bewegung kommen, dann beweist das die Stärke des menschlichen Leibgedächtnisses
Siehe dazu auch verkörperte Intelligenz.
Studien belegen übrigens, dass der Mensch etwa ab dem 35. Lebensjahr kontinuierlich an Muskelmasse verliert, und zwar rund ein Prozent pro Jahr, wobei sich dieser Abbau ab Mitte 50 sogar noch beschleunigt. Dadurch werden Menschen aber nicht schlanker und leichter, denn anstelle der Muskeln bildet sich schädliches Fettgewebe, das in der Folge Entzündungsprozesse auslösen kann. Diese Entzündungsprozesse sind nach der Ansicht von Experten auch verantwortlich für viele Zivilisationskrankheiten wie Krebs, Diabetes, Arteriosklerose oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Letztlich haben Muskeln auf Grund von Trainings eine entzündungshemmende Wirkung und können vor Krankheiten schützen, denn Muskeln schütten immer dann, wenn sie beansprucht werden, Botenstoffe und Hormone aus, die für den Erhalt der Gesundheit eine zentrale Rolle spielen, und zwar nicht nur der physischen sondern auch psychischen. Menschen, die im mittleren Lebensalter ihre Muskelmasse mit geeignetem Training aufrechterhalten, besitzen ein deutlich geringeres Risiko für Herzkrankheiten.
Literatur
Fuchs, T. (2000). Das Gedächtnis des Leibes. Phänomenologische Forschungen, 5, 71–89.
Sie schreiben :“Das Gedächtnis des Leibes tritt dabei in verschiedenen Formen auf, die sich als sensomotorisches, situatives, zwischenleibliches Gedächtnis, aber auch als Schmerz- und traumatisches Gedächtnis beschreiben lassen (Stangl, 2022).“
Bei dieser Darstellung werden die differenzierten top-down und bottom-up streams mit ihren vielschichtigen back-loops einfach totgeschlagen. Es erscheint so, als wenn der Körper ein Gedächtnis hätte, aber es ist nicht so, denn neuronale Prozesse spielen sich in Neuronen ab. Embodiment thematisiert Vorgänge auf die falsche Art und Weise.
………
Versuch einer Antwort: Ich denke nicht, das in einer solchen Beschreibung etwas „totgeschlagen“ wird, vielmehr handelt es sich bei dem Begriff „Gedächtnis des Leibes“ um eine Metapher oder eine Perspektive, aus der man sich solche Prozesse veranschaulichen kann. Übrigens haben auch Neuronen kein Gedächtnis, sondern es wird ihnen auch nur aus einer bestimmten Perspektive zugeschrieben. Zuschreibungen und Beschreibungen in diesem Sinn können daher nicht „richtig“ oder „falsch“ sein, sondern es geht um die Brauchbarkeit im Diskurs. Und Embodiment ist nun einmal Teil dieses Diskurses, wobei sich dieser Begriff immerhin von allerlei Mystischem oder Esoterischem abgrenzen lässt.
(W.S.)