Nicht die Zukunft ist die Zeit der Liebe.
Was der Mensch wirklich will, will er jetzt.
Octavio Paz
Kurzdefinition: Selbstkontrolle ist die menschliche Fähigkeit, innere Impulse zu unterdrücken oder zu steuern und damit das eigene Verhalten zu kontrollieren. Studien zeigen, dass Menschen, die sich gut selbst kontrollieren können, mehr Erfolg und stabilere soziale Beziehungen haben und sich einer besseren körperlichen und psychischen Gesundheit erfreuen.
Selbstkontrolle ist somit eine Form willentlicher Steuerung, bei der eine Absicht (kognitive Präferenz) gegen konkurrierende Impulse, Bedürfnisse und Wünsche aus dem Selbst (emotionale Präferenzen) abgeschirmt wird. Selbstkontrolle gleicht damit einer inneren Diktatur, weil alle Stimmen, die nicht unmittelbar hilfreich für die aktuelle Zielverfolgung sind, unterdrückt werden. Selbstkontrolle beruht in der Regel auf bewussten, sprachnahen und sequentiell-analytischen Verarbeitungsprozes-sen (Baumann & Kuhl, 2013, S. 264). Siehe dazu auch das Konzept der Selbstregulation.
Der Begriff Selbstkontrolle bezeichnet generell die Einflussnahme höherer kognitve Prozesse auf das Ich bzw. das Selbst, oder aber auch auf sich wechselseitig kontrollierende Mechanismen innerhalb von biologischen oder sozialen Netzwerken. Nach neueren Untersuchungen ist eine Struktur im Stirnlappen des Gehirns, der dorsolaterale präfrontale Cortex, für die Selbstkontrolle zuständig. In einem Experiment hatte man diese Hirnregion für ein Experiment mit einem Diktatorspiel kurzfristig ausgeschaltet, worauf sich die Probanden und Probandinnen egoistischer und weniger anpassungsfähig verhielten. Probanden mit gehemmter Gehirnregion handelten egoistischer und waren schlechter darin, ihr Verhalten drohenden Sanktionen anzupassen, als wenn der dorsolaterale präfrontale Cortex aktiv war, und das, obwohl die Probanden genau wussten, dass ihr unfaires Verhalten zu einer Geldstrafe führen würde, konnten sie offensichtlich aufgrund der eingeschränkten Aktivität der Hirnstruktur nicht mit angemessenen Strategien reagieren. Nach Aussagen der ForschrInnen sei es erstaunlich, dass sich ein solch komplexes Verhalten möglicherweise auf eine einzige Gehirnstruktur zurückführen läss, denn normgeleitetes Verhalten sei eine wichtige Voraussetzung für funktionierende Gesellschaften (Strang et al., 2014).
Zielgerichtetes Verhalten hängt entscheidend von der Fähigkeit ab, Impulse und vorherrschende Verhaltensreaktionen zu unterdrücken, wobei sich diese Fähigkeit der hemmenden Kontrolle in der frühen Kindheit entwickelt und sich deutlich zwischen 3 und 4 Jahren verstärkt. Erwachsene besitzen meist die Fähigkeit, die eigenen Gedanken, Emotionen und ihr Verhalten zu kontrollieren, was sie in Entscheidungssituationen innehalten lässt und ihnen ermöglicht, auch langfristige Ziele zu erreichen. Selbstkontrolle beruht auch auf Mechanismen, die am Planen von Handlungen beteiligt sind, etwa indem sie helfen, einer sofortigen Befriedigung zu widerstehen, um dafür in Zukunft einen grösseren Nutzen zu haben (Bedürfnisaufschub). Daran ist nach neueren Untersuchungen auch ein weiteres Areal im Gehirn beteiligt, und zwar eine Hirnregion am Übergang zwischen dem Temporal- und dem Parietallappen des Großhirns. Nach experimenteller Ausschaltung dieser Gehirnregion durch transkranielle Magnetstimulation trafen Probanden eher impulsive und egoistische Entscheidungen, d. h., sie wählten vermehrt eine sofortige Belohnung und sind weniger in der Lage, sich in die Perspektive anderer Menschen hineinzuversetzen. Daher vermutet man, dass ein Nutzen für das zukünftige Selbst vom Gehirn wie der Nutzen für eine andere Person behandelt wird. Das bedeutet, dass der gleiche Gehirnmechanismus wirksam sein könnte, um Geduld für einen künftigen Nutzen aufzubringen, wie um mit anderen Menschen zu teilen (Soutschek et al., 2016).
Selbstkontrolle beim Individuum bezieht sich psychologisch betrachtet sowohl auf Gedanken als auch auf Gefühle, denn Menschen können sich zumindest teilweise dahingehend kontrollieren, damit ein negativer oder ein positiver Gefühlszustand hergestellt, aufrecht erhalten oder auch wieder aufgegeben wird. Meist geht es im Alltag aber darum, negative Gefühle zu lindern bzw. Unlust zu vermeiden. Die Kontrolle über die eigenen Gefühle kann etwa dadurch beeinflusst werden, dass man die Umwelt entsprechend auswählt, indem man bestimmte Orte, Objekte oder Personen meidet bzw. aufsucht. Gefühle lassen sich manchmal durch selektive Aufmerksamkeit und gedankliche Uminterpretation kognitiv beeinflussen, was sich verschiedene Psychotherapierichtungen zunutze machen. Einige Studien (Hofmann et al., 2014) zeigen auch, dass Menschen, die schon als Kind eher diszipliniert handeln, auch als Erwachsener gesünder leben, weniger finanzielle Probleme haben und seltener in Konflikt mit dem Gesetz kommen. Selbstkontrolle führt offenbar dazu, dass Menschen mehr positive Gefühle erleben und auch zufriedener mit ihrem Leben sind, wenn sie sich selber gut im Griff haben und ihre Bedürfnisse aufschieben können, um wichtigere Ziele zu erreichen. Dabei wenden selbstdisziplinierte Menschen offenbar intuitiv den Trick an, Situationen zu vermeiden, die sie in Verlegenheit bringen könnten. Menschen mit guter Selbstkontrolle organisieren offenbar ihr Leben so, dass Konflikte relativ selten auftreten. Selbstkontrolle verhindert oder minimiert Probleme und macht daher wohl deshalb glücklicher. Selbstkontrolle lässt sich bis zu einem gewissen Grad steigern, indem man Aufgaben, die diese Eigenschaft erfordern, übt.
Der Oberbegriff für Selbstkontrolle lautet Selbstregulation, womit eine die Veränderung der eigenen Reaktionen generell gemeint ist, also sowohl bewusst als auch automatisch ablaufende Regulationen, die dem Erreichen eines Ziels dienen. Selbstkontrolle meint meist die zielgerichtete bewusste Unterdrückung unerwünschter Reaktionen, wozu als spezifische Komponente die Selbstdisziplin zählt, die auf erwünschte Ziele hin ausgerichtet ist. Im alltäglichen Leben ist die Selbstkontrolle eine Quelle fortlaufender Konflikte im Individuum, wobei man die menschliche Fähigkeit zur Selbstkontrolle auch als zentral für das menschliche Funktionieren etwa in einer Gemeinschaft betrachtet, wenn es darum geht, unangemessene Reaktionen zu unterdrücken bzw. zu kompensieren. Probleme der intraindividuellen Kontrollfunktionen sind daher häufig an der Entstehung von psychischen Probleme wie Essstörungen oder Süchten beteiligt.
Selbstkontrolltrainings basieren meist auf dem Ressourcenmodell der Selbstkontrolle und dass diese sich üben lässt, d. h., je häufiger eine Tätigkeit, die Selbstkontrolle erfordert, gezielt ausübt wird, desto stärker wird die Fähigkeit und desto mehr Kontrollressourcen entwickeln sich. Wirksamkeitsstudien untersuchen dabei, inwiefern solche geübten Selbstkontrollfähigkeiten auch auf andere Lebensbereiche übertragen werden. Eine Metaanalyse (Friese et al., 2017) legt nahe, dass sich Selbstkontrolle durch Übung zumindest kurzfristig stärken lässt, wobei sich im Durchschnitt kleine bis mittlere Trainingseffekte nachweisen lassen, die allerdings von Studie zu Studie stark schwanken. Offen bleibt vor allem die Frage, wie lange die Effekte anhalten bzw. warum die Trainings effektiv sind. Es lässt sich nämlich vermuten, dass zumindest ein Teil des Trainingserfolgs auf eine Placebowirkung zurückgehen könnte, in dem Sinne, dass Trainingsteilnehmer Erwartungen aufbauen und dass ihnen die Übungen dabei helfen.
Aus der Forschung
Berger, Wyss & Knoch (2018) haben in einer Studie gezeigt, dass Menschen mit niedriger Fähigkeit zur Selbstkontrolle eher dazu neigen, unmittelbar auf Signaltöne ihres Smartphones zu reagieren. Für eine Studie lud man Probanden ein, an einem «Experience-Sampling» teilzunehmen, einer Methode, bei der die Testpersonen mehrfach täglich eine Nachricht auf das Smartphone erhalten, um einige Fragen zur aktuellen Befindlichkeit zu beantworten. Im konkreten Fall ging es um Konsumerfahrungen. Das eigentliche Ziel des Forscherteams war es jedoch, die Zeit zu messen, wie lange eine Person benötigt, um auf die Nachricht zu reagieren. Von insgesamt 1620 Signalen in der Studie (15 pro Testperson, verteilt über 3 Tage) wurden 1493 beantwortet. Hiervon wurden 335 innerhalb der ersten Minute beantwortet. Kernaspekt der Studie war, die Antwortzeiten mit der Fähigkeit zur Selbstkontrolle der Testpersonen zu verbinden, die in standardisierten Tests Wochen zuvor gemessen worden war. Menschen mit geringerer Selbstkontrolle fiel es deutlich schwerer, nicht unmittelbar auf das Smartphone-Signal zu reagieren, wobei dieser Effekt stabil blieb, selbst wenn man andere Persönlichkeitsmerkmale berücksichtigte.
Untersuchungen zeigen, dass sich strenge Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung auf Menschen und ihr Befinden und ihre Lebenszufriedenheit auswirken. Kokkoris, Hoelzl & Alós-Ferrer (2019) zeigten in insgesamt elf Studien mit über dreitausend Probanden, dass Selbstkontrolle nicht immer zu mehr Zufriedenheit mit einer Entscheidung führt. Viel eher kommt es dabei darauf an, was eine Mensch als Grundlage für seine Entscheidungen sieht. In den experimentellen Studien mussten sich etwa Studierende, die auf Diät waren, in einem Labor zwischen Schokolade und Karotten entscheiden, und wurden anschliessend zu ihren Gefühlen bei der Entscheidung befragt. Menschen, die sich bei Entscheidungen eher auf ihr Gefühl verließen, empfanden sich selbst beim Verzichten weniger authentisch, d. h., sie hatten das Gefühl, ihre Bedürfnisse und ihr Verlangen zu unterdrücken und sich damit selbst zu betrügen. Menschen erfahren demnach eine höhere Zufriedenheit bei der Zurückhaltung, je mehr sie sich auf die Vernunft und weniger auf ihre Gefühle verlassen. Paradoxerweise bedeutet demnach für sie der Verlust der Selbstbeherrschung gleichzeitig auch ein gewisses Maß an Selbstfindung. Selbstbeherrschung ist daher nicht nur als Fähigkeit zu sehen, sondern auch als bewusste Entscheidung und Präferenz einer Person.
Die Fähigkeit zur hemmenden Kontrolle entwickelt sich in der frühen Kindheit und verbessert sich deutlich zwischen 3 und 4 Jahren. Kinder lernen dann, auf bestimmte Dinge zu warten und können sich bereits für eine Weile auf eine Sache konzentrieren. Um diese Entwicklungssprünge zu untersuchen, nutzten Berger et al. (2022) verschiedene Aufgaben, mit denen die unterschiedlichen Formen der Selbstkontrolle getestet werden können. Im „Bär-Drachen-Spiel“ erfasste man die Fähigkeit der Kinder, bestimmte Handlungen zu unterdrücken, wobei die Kinder dabei zunächst mit zwei Kuscheltieren bekannt gemacht werden: Dem „lieben Bär“ und dem „bösen Drachen“. Während des Spiels erhalten die Kinder verschiedene Anweisungen der beiden Figuren, wie „Klatsch in die Hände!” oder “Berühre deine Nase!”. Diese Anweisungen sollten sie jedoch nur dann umsetzen, wenn der “liebe Bär“ sie aufforderte, nicht aber, wenn der „böse Drache“ die Anweisung gab. Die andere Aufgabe war der bekannte “Marshmallow-Test”, der wiederum die Fähigkeit der Kinder erfasste, einen emotionalen Impuls über längere Zeit hinweg zu unterdrücken. Die Ergebnisse zeigten, dass die kortikale und subkortikale Struktur von Kernregionen des kognitiven Kontrollnetzwerks von Erwachsenen, einschließlich des präfrontalen Cortex, des Thalamus und der der beiden inferioren parietalen Cortexe, mit der frühen inhibitorischen Funktion bei Vorschulkindern in Verbindung steht. Es zeigte sich dabei ein Zusammenhang zwischen frontoparietalen (d. h. dem superioren longitudinalen Faszikel) und thalamokortikalen Verbindungen und der frühen Hemmungsfähigkeit. Bemerkenswert war, dass diese Assoziationen zur Hirnstruktur für verschiedene Facetten der frühen Hemmungskontrolle, die oft als motivationale („heiße“) und kognitive („kalte“) Hemmungskontrolle bezeichnet werden, unterschiedlich waren. Die unterschiedlichen Aufgaben zur Selbstkontrolle, der „Bär-Drache“- und der Marshmallow-Test, standen mit unterschiedlichen Regionen innerhalb des kognitiven Kontrollnetzwerks in Verbindung, denn schnitten Kinder in ersterem gut ab, war der präfrontale Cortex weiter ausgebildet, der bei Erwachsenen insbesondere für die Planung und Steuerung von Handlungen zuständig ist, waren die Kinder besser im Marshmallow-Test, war der supramarginalen Gyrus im Reifeprozess stärker vorangeschritten, der eher mit der Steuerung von Aufmerksamkeit verbunden ist.
Ein typisches Beispiel für die manchmal überhöhte Selbstkontrolle ist das sogenannte „schlechte Gewissen„. Die Familientherapeutin Birgit Salewski empfiehlt in einem Beitrag in „Wir in Bayern“ Strategien, um ein schlechtes Gewissen loszuwerden: „Hinterfragen Sie die einzelnen Situationen und übernehmen SieVerantwortung für Ihr eigenes Verhalten. Wenn die Verantwortung nicht bei Ihnen liegt, dann weisen Sie Vorwürfe oder Schuldzuweisungen klar zurück. Blicken Sie optimistisch in die Zukunft und nehmen Sie sich kleine Schritte vor, wenn Sie ihr Verhalten ändern wollen und wieder mehr im Einklang mit Ihren Werten leben wollen. Wenn sich Werte und moralische Vorstellungen als nicht mehr passend erweisen sollten, dann hinterfragen Sie diese und bilden Sie so behutsam einen neuen Wertekompass aus, der Ihnen Ihren Alltag leichter macht. Damit meine ich nicht, dass Sie sich nachträglich Legitimationen für Ihr Verhalten zusammenbasteln sollen, aber mit manchen Werten empfiehlt sich im Laufe der wachsenden Lebenserfahrung ein anderer Umgang.“
Literatur
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Baumann, N. & Kuhl, J. (2013). Selbstregulation und Selbstkontrolle. In W. Sarges (Hrsg.), Management-Diagnostik (S. 263–270). Göttingen: Hogrefe.
Berger, S., Wyss, A. & Knoch, D. (2018). Low self-control capacity is associated with immediate responses to smartphone signals, Computers in Human Behavior, https://doi.org/10.1016/j.chb.2018.04.031.
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https://www.cbs.mpg.de/wie-sich-selbstkontrolle-im-gehirn-entwickelt (22-10-24)