Zum Inhalt springen

Behavioral Finance

    Grundregel an der Börse:
    Das Geld ist nicht weg,
    das haben jetzt einfach nur andere.
    Matthias Deutschmann

    Kurzdefinition: Behavioral Finance beschäftigt sich mit der Psychologie der Anleger, um zu zeigen, wie Anlageentscheidungen zustande kommen und welche Fehler dabei gemacht werden.

    Behavioral Finance, als ein Teilgebiet der Verhaltensökonomie geht davon aus, dass psychologische Einflüsse und Verzerrungen das Finanzverhalten von Anlegern und Finanzfachleuten beeinflussen. Darüber hinaus können Einflüsse und Verzerrungen die Quelle für die Erklärung aller Arten von Marktanomalien und insbesondere von Marktanomalien auf dem Aktienmarkt sein, wie z. B. starke Kursanstiege oder -rückgänge.

    Behavioral Finance liegt an der Schnittstelle zwischen Psychologie und Wirtschaftswissenschaft und untersucht z.B. das Anlegerverhalten bzw. das generelle Verhalten auf den Börsen und Märkten, wobei man über den allgemeinen Gemeinplatz „Die Börse ist Psychologie“ hinausgehen möchte. Behavioral Finance ist eine noch junge interdisziplinäre Wissenschaft, die vor allem das Fehlverhalten der Marktteilnehmer untersucht, indem wirtschaftliche und psychologische Aspekte berücksichtigt werden. Langfristig erfolgreiche Anleger wissen, dass die menschliche Psyche und nicht die allgemein zugänglichen Analysemethoden das eigentliche Problem darstellen. Beha­vio­ral Finance beschäf­tigt sich also mit dem ratio­na­len und vor allem auch dem irra­tio­na­len Ver­hal­ten von Mark­teil­neh­mern an den Finanz– und Kapi­tal­märk­ten der Welt. Daniel Kah­ne­mann und Amos Tver­sky erhielten 2002 für ihre Stu­dien auf dem Gebiet der Beha­vio­ral Finance den Nobel­preis.

    In Behavioral Finance werden bekannte psychologische Standpunkte und Theorien – etwa Lerntheorien, Emotionstheorien, Motivationstheorien, Tiefenpsychologie, sozialpsychologische Theorien, aber auch Theorien zur Suchentstehung – auf das Anlegerverhalten übertragen und zeigt die Grenzen, die wirtschaftliches Handeln an der Börse einschränken. Dadurch kann man ein tieferes Verständnis von typischem Anlegerverhalten erhalten, um eine Grundlage für daraus ableitbare mögliche Prognosen zu bilden. Was beeinflusst das Anlegerverhalten? Worauf sind bestimmte typische Verhaltensweisen der an Wertpapiermärkten agierenden Personen zurückzuführen? Was bildet die Grundlage von Marktanomalien? Wieso verkaufen die meisten Kleinanleger immer zu früh, kaufen zu spät oder gar am Höchststand? Warum ist es so schwer, eine Verlust-Position glatt zu stellen? Weshalb steigen Aktien, die fundamental offensichtlich völlig überbewertet sind, während günstig bewertete am Boden bleiben? Warum verliert die große Mehrheit der Anleger langfristig?

    Die Behavioral Finance vereint somit die klassische Ökonomie mit der Psychologie und anderen Entscheidungswissenschaften, d.h., sie untersucht, wie Investoren systematisch Fehler bei ihren Urteilen begehen, wobei zwei grundlegende theoretische Annahmen gelten: dass die Preisnivellierung durch Arbitrage beschränkt ist und Investoren anstatt bayesianischen Wahrscheinlichkeiten verschiedene andere Heuristiken verwenden, um ihre Entscheidungen zu treffen (investor sentiment). Diese beiden Annahmen basieren weitgehend auf einem von der Kognitionspsychologie geprägten Menschenbild, wobei im Gegensatz zur Ökonomie dem Entscheidungsprozess große Aufmerksamkeit gewidmet wird und auch die Rückkoppelungen zwischen den getroffenen Entscheiden und dem Prozess berücksichtigt werden. So wurde in einer Studie nachgewiesen, dass gut nachvollziehbare oder emotional gefärbte Nachrichten von AnlegerInnen wesentlich stärker gewichtet werden als abstrakte Daten, d. h., wenn etwa ein Ölkonzern ein Umsatzwachstum meldet, so wird diese Nachricht von den Anlegern wesentlich schwächer bewertet als ein emotionaler, anschaulicher Bericht über die Umweltschäden, die dieser Konzern bei der Erschließung neuer Ölfelder verursacht hatte, die aber gerade die Voraussetzung für dieses Wachstum bildeten.

    In der Anfangsphase der Behavioral Finance tendierte man dazu, Anomalien direkt mit einzelnen psychologischen Verhaltensmustern zu erklären, während heute die Markteffizienzhypothese auf drei Ebenen in Frage gestellt wird. Zunächst wird das rationale Menschenbild durch das vom investor sentiment geprägte Menschenbild ersetzt, wodurch die Marktteilnehmer nicht zwischen richtigen und vermeintlichen Informationen (noise) unterscheiden können und eine aktive Anlagestrategie verfolgen anstatt das Marktportfolio zu halten. Auch ist das Verhalten der Marktteilnehmer nicht zufällig ist und das irrationale Verhalten verschiedener Marktteilnehmer hebt sich nicht gegenseitig auf, sondern die Investoren folgen aktuellen Moden (fads) und handeln oft im gleichen Zeitpunkt die gleichen Aktien (herding). Letztlich ist Arbitrage in der realen Welt riskant und daher nur beschränkt erfolgreich. Die Behavioral Finance fügt den Faktor Mensch verstärkt in die ökonomischen Modelle ein, um die Ergebnisse der Realität der Märkte mit den Ergebnissen der Theorie in Einklang zu bringen, auch wenn für manche Ökonomen solche Erklärungen oft geradezu metaphysischen Charakter haben. Behavioral Finance steht daher im Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Psychologie, und beschreibt das nur wenig effiziente Verhalten von Menschen auf den Finanzmärkten und deren Verhaltensmuster bei fallenden und steigenden Kursen. Da Menschen gar nicht alle auf sie einwirkenden Informationen aufnehmen können, nach Experentemeinung höchstens zwei bis drei Prozent, entlarvt behavioral finance das Idealbild des „Homo oeconomicus“, der theoretisch alles perfekt bewerkstelligen kann. Die Menschen suchen immer den sozialen Vergleich, was in der Regel zu fehlender Selbstkontrolle, zu starkem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten (overconfidence) und mangelnder Disziplin führt. Die Überzeugung, alles kontrollieren zu können, führt zwangsläufig zur Selbstüberschätzung. Durch die selektive Wahrnehmung wird oft nur das realisiert, was zum eigenen Wohlbefinden führt, denn fast immer werden Verluste schwerer bewertet als Gewinne in gleicher Höhe. Das Bestreben, sich bei seinen Entscheidungen gut zu fühlen, verhindert häufig rationales Verhalten, denn Menschen fühlen sich stets besser, wenn sie stolz sein können oder recht gehabt zu haben. Menschen sehen sich in ihrer Meinung grundsätzlich gerne bestätigt und suchen daher bevorzugt nach solchen Informationen, die ihrer bereits gefassten Meinung nicht entgegenlaufen (Confirmation Bias). Ein Beispiel hierfür ist Facebook, denn dort bekommen NutzerInnen aufgrund der Algorithmen vorwiegend nur solche Nachrichten angezeigt, die ihre Meinungen und Interessen widerspiegeln. Wenn jemand etwa denkt, dass die Kriminalität durch Flüchtlinge gestiegen ist, dann erhält er vermehrt Meldungen zu Einbrüchen und Flüchtlingskriminalität angezeigt.

    Der Kanadier Hersh Shefrin, einer der führenden Experten für Behavioral Finance, lehrt an der Universität von Santa Clara (Kalifornien), beschäftigt sich mit der Urteilsbildung von privaten und institutionellen Anlegern im Hinblick auf die Risiken von Wertpapieren sowie mit psychologischen Fallen bei der Arbeit von Analytikern. In einem Interview mit der NZZ vom 24. Juli 2014 erläutert er die wichtigsten Ergebnisse seiner Forschung. So hat er herausgefunden, dass professionelle Anleger Entscheidungen treffen, die nur zum Teil die Fundamentaldaten widerspiegeln, sondern es gibt zahlreiche psychologische Einflussfaktoren. Umgekehrt spiegeln Märkte fast immer einen Mix aus Fundamentaldaten und psychologischen Effekten, denn bei der Prognose künftiger Cashflows neigen Analytiker dazu, den mittelfristigen Verlust an Wettbewerbsvorteilen von Unternehmen zu unterschätzen, sind also tendenziell zu optimistisch bei ihrer Firmenbewertung.

    Zwar handeln die meisten Menschen rational, haben Ziele und überlegen sich, wie sie diese erreichen können, jedoch werden Menschen von psychologischen Fehlern beeinflusst, wobei es entscheidend ist, diese Einflüsse richtig zu messen und zu versuchen, die Emotionen zu berücksichtigen. Fehlerhaft rational zu sein, bedeutet, man will zwar das Beste für sich selbst tun, aber manchmal kommen die Emotionen dazwischen, oder man hat nicht die mentale Rechenkapazität, um seine Ziele zu erreichen. Einige wenige Menschen kennen die Risiken, doch reich zu werden, ist für sie ein so wichtiges Ziel, dass sie eine schlechte Wette eingehen, weil es dadurch eine geringe Chance gibt, das Ziel zu erreichen. Diese Menschen handeln, selbst wenn sie spielen, durchaus nicht irrational, denn sie kennen auch die Risiken, doch ist es ähnlich wie bei Staatslotterien, denn auch diese bieten nichts anderes als schlechte Wetten an, also solche mit negativem Erwartungswert. Trotzdem sind Lotterien beliebt, weil man mit wenig Geld eine geringe Chance auf eine riesige Auszahlung erhält, wobei das manche Menschen auch deshalb machen, weil sie arm sind und es für sie der einzige Ausweg aus der Armut ist, d. h., sie wollen lieber ein bisschen ärmer sein, dafür aber die Chance auf einen grossen Gewinn haben.

    Privatanleger sollten daher verstehen, dass es sehr viele psychologische Fallen bei der Umsetzung des Wunsches nach hoher Rendite gibt. Man sollte sich beim Spekulieren an der Börse aber stets fragen, welche Ziele man hat: Sind die Ziele rein finanzieller Natur, oder hat man psychologische Bedürfnisse, etwa Spaß an der Spekulation? Bei finanziellen Interessen kommt es darauf an, wie klug man ist und welchen Zugang zu Informationen man besitzt. Für die meisten Investoren ist es jedoch sinnvoll, höchstens die Marktrendite anzustreben und sich nicht für zu besonders schlau zu halten. Man sollte also im Aktienbereich ein global diversifiziertes Wertpapier-Portfolio mit einer Tendenz zu kleineren Unternehmen und solchen mit hohem Kurs-Buchwert-Verhältnis haben. Zudem lohnt es sich, auf die Profitabilität zu achten. Da man seine Emotionen grundsätzlich nicht abstellen kann, sollte man sich die Regeln wenigstens aufschreiben und diese ab und zu lesen.

    Die Behavioral Finance beschäftigt sich auch wesentlich mit Verhaltensweisen, die Anlageentscheidungen zugrunde liegen, und untersucht, welche Fehler dabei resultieren und sich wiederholen. Sie untersucht, warum Menschen wiederholt Fehlentscheidungen fällen, obwohl in Zeiten des Internets die Welt doch weitestgehend transparent ist. Ein entscheidender Faktor ist der Stresslevel, denn während ein gewisser Druck sogar aufmerksamer und produktiver macht, entwickeln sich bei starkem Stress häufig Ängste und die rationale Entscheidungsfähigkeit wird gestört. Solche Ängste und Unsicherheiten führen oft zu einem Herdentrieb, denn Herden vermitteln ein Gefühl von Sicherheit. Dadurch werden auch unabhängige, rationale Menschen in kritischen Momenten zum Herdentier und folgen einem allgemeinen Trend. Dadurch kommt es zu Panikverkäufen an den Börsen, wobei vor allem in schwierigen Marktphasen, wie etwa der Corona-Pandemie, es wichtig ist, ruhig Blut zu bewahren und nicht einfach der Masse zu folgen.

    Siehe dazu auch Spekulation als Glücksspiel, Finanzpsychologie, Aktien werden psychologisch veranlagt

    Literatur

    http://www.isb.uzh.ch/publikationen/diplomarbeiten/ lbdipl_heldstab_michael.pdf (08-01-01)
    http://www.nzz.ch/finanzen/der-beste-weg-zum-finanziellen-selbstmord-1.18349540 (14-07-24)


    Impressum ::: Datenschutzerklärung ::: Nachricht ::: © Werner Stangl :::

    2 Gedanken zu „Behavioral Finance“

    1. Psychofallen an der Börse

      Psychofallen an der Börse haben haben mit der Funktionsweise des menschlichen Gehirns bei (Anlage-)Entscheidungen zu tun, wobei bei jeder Entscheidung der analytische Teil mit dem emotionalen Teil und der reflektive Teil mit dem reflexiven Teil des Gehirns kämpft. Bei jeder Anlageentscheidung und den daraus resultierenden Konsequenzen, die sich im Laufe der Zeit diametral ändern können, durchläuft der Mensch eine Achterbahn der Gefühle, wobei vor allem Gier, Angst, Erwartung, Selbstvertrauen, aber auch Neid, Überschwang oder Panik eine Rolle spielen.
      Wer eine Aktie kauft, rechnet fest damit, dass der Kurs steigen wird, es sei denn, er setzt auf Hedgefonds, die auf fallende Kurse wetten. Beim Kauf feuern die Neuronen im reflektorischen Teil des Gehirns, dem Nucleus accumbens oder Belohnungszentrum, aber wenn der Kurs dann tatsächlich steigt, geht diese Aktivität zurück, was auch für die Börse bedeutet: Vorfreude ist die schönste Freude.

    2. Behavioral Finance

      Die Behavioral Finance, also die verhaltensorientierte Finanztheorie, begreift das Anlegerverhalten nicht rein rational, sondern bezieht explizit psychologische und soziologische Aspekte mit ein. Anleger haben nach diesem Ansatz längst nicht immer alle Informationen für eine Entscheidungsfindung vorliegen und handeln oft nicht effizient, sondern sie entscheiden und handeln oft sogar irrational. Die Grundlage für diese Theorie unter dem Oberbegriff Verhaltensökonomik, einem Teilbereich der Wirtschaftswissenschaft, lieferten in den 1970er Jahren die beiden Psychologen Daniel Kahnemann und Amos Tversky, wobei in dieser Theorie der Mensch nicht als rationaler Nutzenmaximierer gilt, sondern seine Entscheidungen auf Basis unvollkommener Informationen und kognitiver Verzerrungen trifft.

    Schreibe einen Kommentar

    Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert