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prozedurales Gedächtnis

    Das prozedurale bzw. implizite oder nicht-deklarative Gedächtnis beinhaltet Fertigkeiten, die automatisch, ohne Nachdenken eingesetzt werden. Dazu gehören vor allem motorische Abläufe (Fahrradfahren, Schwimmen, Tanzen, Skifahren, Klavierspielen, Zähneputzen, Schreiben, Stuhlgangbeherrschung etc.). Der Inhalt des prozeduralen Gedächtnisses kann nur im Kontext einer bestimmten Prozedur, eines bestimmten Verhaltens abgerufen werden. Das Sitzen auf einem Fahrrad löst, falls man Radfahren gelernt hat, bestimmte motorische Aktivitäten aus, die bei anderen Verhaltensweisen, etwa beim Klavierspielen, nicht verwendet werden. Menschen wissen, dass sie diese Informationen besitzen, erinnern sich aber meist nicht daran, wie genau sie erworben wurden. Hierarchisch folgt das prozedurale Gedächnis dem Priming als der untersten Gedächtniskategorie.

    Das prozedurale Gedächtnis besteht aus vielen im Nervensystem vorliegenden Einheiten, „Agenten“, motorischen Programmen, „neuronale Ensembles“ bzw. „Schemata„, die bei einer in einem bestimmten Kontext gegebenen Reizsituation ein bestimmtes Verhalten auslösen. Das Konzept des prozeduralen Gedächtnisses ist leicht auf Tiere und sogar auf künstliche Systeme anwendbar, während dies beim deklarativen Gedächtnis nicht so einfach möglich ist.

    Einmal gelerntes sequentielles Verhalten wie Fahrradfahren oder Klavierspielen kann in der Regel auch nach langer Zeit wieder aktiviert werden. Dieses sequentielle Verhalten besteht dabei aus mehreren Einzelbewegungen, die in einer bestimmten zeitlichen Reihenfolge angeordnet sind und einen Anfangs- und einen Endpunkt haben. In eine Studie (Herrojo et al., 2014) wurde untersucht, welche neuronalen Prozesse der Basalganglien beim Menschen Einfluss auf das sequentielle Verhalten ausüben, wofür die neuronale Aktivität bei Parkinson-Patienten gemessen wurde, die mit einer tiefen Hirnstimulation in einem Teilbereich der Basalganglien, dem Nucleus subthalamicus, therapiert werden. Bei dieser Therapie werden Elektroden im Gehirn implantiert und über einen Stimulator elektrische Impulse in die Zielregion geleitet, womit die Parkinson-Symptome erfolgreich gelindert werden. Für die Studie sollten die Probanden kurze Musiksequenzen an einem Klavier einüben, während die elektrischen Signale aus dem Nucleus subthalamicus aufgezeichnet wurden. Es zeigte sich, dass die Basalganglien eine entscheidende Funktion bei der Kodierung der Anfangs- und Endpunkte von Handlungsabfolgen einnehmen, und welche Modulation von elektrischen Schwingungen (Oszillationen) dafür verantwortlich ist. Bei Patienten, die die Musiksequenzen besser spielen konnten, haben vor dem ersten und letzten Element der Sequenz, die sogenannten Beta- Oszillationen, im Frequenzbereich 13-30 Hz abgenommen. Bei Patienten, die Schwierigkeiten hatten, die Übung auszuführen, haben die Oszillationen hingegen innerhalb der Sequenz nachgelassen. Die Basalganglien bestimmen mit der Kodierung von Anfangs- und Endpunkten offensichtlich die innere Beschaffenheit der gelernten Sequenz und sind somit maßgeblich dafür verantwortlich, ob automatische Verhaltensweisen sich im Gehirn festigen.

    Frank et al. (2017) haben untersucht, dass einmal Gelerntes vermutlich ein Leben lang stabil im Gedächtnis bleiben kann. Dafür wurde in einem Versuch an einer visuellen Aufgabe geübt, bei der es galt, komplexe Bewegungsmuster voneinander zu unterscheiden. Während der Aufgabe wurde die Gehirnaktivität mittels funktioneller Magnetresonanztomographie gemessen, wobei mit dem Erlernen der Aufgabe Veränderungen in sensorischen Arealen der Großhirnrinde einhergingen. Drei Jahre später mussten die Probanden die gleiche Aufgabe nochmals auszuführen, wobei sich keinerlei Anzeichen von Vergessen zeigten, denn das vor drei Jahren Erlernte war stabil und unmittelbar abrufbar wie am Ende des Trainings. Auch zeigte sich, dass die aufgetretenen Veränderungen in der Gehirnaktivität erhalten geblieben waren, was vermutlich vor allem für motorisches und sensorisches Lernen gelten dürfte, denn Fahrradfahren und Schwimmen werden ebenfalls kaum verlernt.

    Nach neuesten Untersuchungen (Goerke et al., 2014) können Medikamenten, die den REM-Schlaf unterdrücken, also die Schlafphasen, in denen die meisten Träume stattfinden und die Erinnerungen im Gedächtnis verfestigt werden, Gedächtnisstörungen hervorrufen. Vor allem Antidepressiva beeinflussen die kognitiven Leistungen, indem in den REM-Schlafphasen Erinnerungen im Langzeitgedächtnis nicht verfestigt werden können und damit das prozedurale Lernen stören. Man vermutet, dass solche kognitiven Beeinträchtigungen manchmal nicht so sehr Ausdruck einer Erkrankung sind, sondern diese erst durch die Antidepressiva hervorgerufen werden.

    In der Psychologie wirkt das nicht-deklarative Gedächtnis meist mit Wortstammergänzungsaufgaben, Spiegelschriftlesen, Spiegelzeichnen oder Pursuit-Rotor-Tests gemessen. Es hat sich gezeigt, dass ältere Menschen bei solchen Aufgaben in der Regel die gleichen Leistungen erzielen können wie jüngere Probanden und Probandinnen.

    Siehe dazu im Detail Wie funktioniert unser Gedächtnis?


    Das Erlernen von Prognosemodellen zeitlicher und räumlicher Abläufe

    Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass das menschliche Gehirn Regeln oder Prinzipien von prognostizierbaren Abläufen abspeichert, wobei sowohl die Wahrnehmung als auch die Handlung auf internen Modellen basieren, die aus früheren Erfahrungen abgeleitet werden. Solche Vorhersagen zeitlich-räumlicher Abfolgen sind für Menschen sehr wichtig, etwa im Straßenverkehr oder bei Mannschaftssportarten, wo es wichtig ist, die Bewegungen von Menschen und Objekten zu antizipieren, denn nur so kann man auch bei hohen Geschwindigkeiten auf Unvorhergesehenes angemessen reagieren. Die Bildung interner Modelle, die Regeln in den äußeren Geschehnissen finden und entsprechend abbilden, erleichtert es Menschen, unerwartete Ereignisse zu registrieren und aus ihnen zu lernen. Die modernen Umwelten unterliegen einem stetigen Wandel, und um sich schnell zurechtzufinden, benötigt man effiziente interne Modelle, die komplexe Regelmäßigkeiten abbilden und gleichzeitig die Flut der auf uns einwirkenden Reize sinnvoll vereinfachen. Allerdings weiß man wenig darüber, wie solche Vorhersagen aus zuvor erworbenem Wissen generiert und über längere Perioden vorgehalten werden. Lutz et al. (2018) haben nun untersucht, ob Schlaf zur Bildung, Festigung und der Abstraktion solch interner Modelle einfacher Abläufe beiträgt. Dazu ließen sie zwei Probandengruppen an einem Bildschirm festgelegte Sequenzen von visuellen Mustern lernen und prüften nach entweder einer Schlafphase oder einer Wachphase, wie die Probanden auf Abweichungen in den gelernten Abläufen reagierten. Dabei zeigte sich, dass die Gruppe mit einer Schlafphase nach dem Lernen die Abläufe stärker verinnerlicht hatte und sicherer beherrschte, auch wenn die Sequenzen in schnellerer Abfolge präsentiert wurden. Die Ergebnisse deuten also darauf hin, dass Schlaf die Bildung interner Prognosemodelle unterstützt.


    Die Unterscheidung zwischen deklarativem und nicht-deklarativem Gedächtnis stammt übrigens von Squire (1992). Das deklarative Gedächtnis speichert Ereignisse und Fakten, die in der Regel verbalisierbar sind und mit einer bewussten Erinnerung einhergehen, und wird in episodisches und semantisches Gedächtnis unterteilt. Während das episodische Gedächtnis Ereignisse in ihrem raum-zeitlichen autobiographischen Kontext speichert, enthält das semantische Gedächtnis Wissen über Wortbedeutungen, allgemeines Faktenwissen über die Wirklichkeit. Als elementare Wissenseinheiten werden Begriffe und semantische Relationen angenommen, die auch komplexere Konfigurationen (Schemata, Frames, Scripts) bilden. Es ist jedoch fraglich, ob episodisches und semantisches Gedächtnis unterschiedliche Gedächtnissysteme darstellen oder einem einheitlichen System zuzuordnen sind, das lediglich unter unterschiedlichen Bedingungen funktioniert. Das semantische Gedächtnis kann als Ansammlung vieler Episoden aufgefasst werden und repräsentiert die Merkmale, die diesen Episoden gemeinsam sind. Im deklarativen Gedächtnis werden verschiedene Formate mentaler Repräsentationen angenommen: Vorstellungen (mental images) als analoge, wahrnehmungsbasierte Form der Wissensrepräsentation, Zeitketten (temporal strings) als Kodierung der physikalisch determinierten Abfolge von Ereignissen in Form linearer Ordnungen, Propositionen (propositions) als Kodierung der Bedeutung von Sachverhalten in amodaler Form, wobei offen bleibt, ob die Repräsentationsformate unabhängig und dauerhaft existieren und ob Propositionen ein psychologisch angemessener Beschreibungsformalismus für amodale Repräsentationen sind.
    Unter nicht-deklarativem oder prozeduralem Gedächtnis wird eine heterogene Klasse von Phänomenen zusammengefasst, denen gemeinsam ist, dass sie sich im Verhalten manifestieren und dem bewussten, verbalisierbaren Gedächtnis schwer zugänglich sind. Sie werden mit verschiedenen Lernprozessen wie implizitem Lernen und Konditionierung in Verbindung gebracht. Es kann sich um perzeptive, perzeptiv-motorische oder kognitive Fertigkeiten handeln, d.h. um Handlungen sowie Regeln und deren Anwendung, die durch ihre Modalitäts- und Reaktionsspezifität, ihre geringe Beeinflussbarkeit durch semantische Faktoren und ihre relative Isolation vom übrigen Wissenssystem gekennzeichnet sind.

    Literatur

    Frank, S. M., Greenlee, M. W. & Tse, P. U. (2017). Long time no see: enduring behavioral and neuronal changes in perceptual learning of motion trajectories three years after training.  Cerebral Cortex, doi:10.1093/cercor/bhx039.
    Goerke, M., Cohrs, S., Rodenbeck, A. & Kunz, D. (2014). Differential effect of an anticholinergic antidepressant on sleep – dependent memory consolidation. Sleep, doi:10.5665/sleep.3674.
    Herrojo, R. M., Rusconi, M., Brücke, C., Haynes, J.-D-, Schönecker, T. & Kühn A. A. (2014). Encoding of sequence boundaries in the subthalamic nucleus of patients with Parkinson’s disease. Brain, doi: 10.1093/brain/awu191.
    Lutz, N. D., Wolf, I., Hübner, S., Born, J. & Rauss, K. (2018). Sleep strengthens predictive sequence coding. The Journal of Neuroscience, 38, 8989-9000.
    Squire, Larry R. (1992). Declarative and Non-Declarative Memory: Multiple Brain Systems Supporting Learning and Memory. Journal of Cognitive Neuroscience, 4, 232-243. https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/gedaechtnis/5545 (18-08-05)
    Stangl, W. (2018, 10. Jänner). Unterscheidung deklaratives und nicht-deklaratives Gedächtnis. arbeitsblätter news.
    https:// arbeitsblaetter-news.stangl-taller.at/unterscheidung-deklaratives-und-nicht-deklaratives-gedaechtnis/
    https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/gedaechtnis/5545 (18-08-05)


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    Ein Gedanke zu „prozedurales Gedächtnis“

    1. Manuela Macedonia

      Normalerweise lernt man nach Ansicht der Linzer Kognitionspsychologin Manuela Macedonia etwa eine Einkaufs- oder Vokabelliste ohne Beteiligung des Körpers, indem man sie oftmals hinauf und hinunterliest und versucht, sich die einzelnen Worte einzuprägen. „Verknüpft man die einzelnen Wörter aber mit einer Bewegung, lernt man sie besser und vergisst sie langsamer.“ Dann schalten sich nämlich zwei Gedächtnissysteme für die Aufgabe zusammen: Jenes für das „Wissen“ (das deklarative Gedächtnis) und jenes für das „Können“ (das prozedurale Gedächtnis). Das deklarative Gedächtnis ist gemeinhin für Wörter, Namen, Listen und Fakten wie historische Daten zuständig. Wie Schüler bei Vokabeltests und Erwachsene beim Einkaufen im Supermarkt oft leidvoll erfahren, braucht es massive Anstrengungen beim Auswendiglernen, und es ist trotzdem nicht sehr verlässlich. Man vergisst schnell und leicht, was man sich rein durch geistige Aktivität zu merken versuchte. Wenn das prozedurale Gedächtnis beim Lernen dazugeschaltet wird, etwa indem man eine Bewegung zu den Wörtern und Fakten ausführt, hat man eine Steigerung der Lernleistung und eine Minderung des Vergessens. „Information, die prozedural gelernt wurde, ist weniger anfällig für Verfall“. Deshalb würde man über Jahrzehnte etwa das Radfahren, Schwimmen und Schilaufen nicht verlernen, selbst wenn man diese Aktivitäten in der Zwischenzeit gar nicht ausgeführt hat.

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