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Schmerzgedächtnis

    „Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, wehzutun, bleibt im Gedächtnis“—das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten (leider auch allerlängsten) Psychologie auf Erden.
    Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, 1887.

     

    Kurzdefinition: Die Entstehung des Schmerzgedächtnisses ist ein komplexer, andauernder und häufig nicht eindeutig definierbarer Prozess, wobei am Anfang häufig starke, akute Schmerzreize stehen, die bei unzureichender Behandlung Spuren im Nervensystem hinterlassen können, und zwar sowohl im Rückenmark als auch im Gehirn. Solche lang anhaltenden Veränderungen oder Schmerzspuren machen nozizeptive Nervenzellen empfindlicher für Schmerzreize, was zu einer Schmerzempfindlichkeit (Hyperalgesie), als Schmerzauslösung durch sonst harmlose und nicht schmerzhafte Reize (Allodynie) oder als spontane Schmerzen äußern kann. Eine Behandlung ist häufig deshalb schwierig, weil die Ursachen nachträglich oft nur schwer festgestellt werden können. Hat sich einmal ein Schmerzgedächtnis ausgebildet, ist aus dem Symptom Schmerz ein eigenständiges Krankheitsbild geworden.

    Andauernde Schmerzsignale verändern die Nervenzellen und bilden damit ein Schmerzgedächtnis aus, sodass selbst leichte Reize wie Berührung, Wärme oder Dehnung als Schmerz empfunden werden. Über eine lange Zeit empfundener intensiver Schmerz kann die schmerzleitenden Nervenfasern so überreizen, dass biochemische Vorgänge stattfinden, die Schaltkreise im Gehirn dahingehend verändern, dass sich ein anhaltend gesteigertes Schmerzempfinden ausbildet, sodass bei manchen Betroffenen schon die Berührung der Haut mit Watte eine intensive Schmerzreaktionen auslösen kann. Offenbar können starke Schmerzreize die synaptische Übertragung von Schmerzinformationen vom peripheren auf das Zentralnervensystem anhaltend potenzieren. Erhalten schmerzverarbeitenden Neuronen häufig immer dieselbe Information, verändert das die Steuerung, sodass am Ende bereits schwache Reize das System aktivieren und prompt die zugehörige Antwort liefern. Das kann letztlich so weit gehen, dass gar kein äußerer Reiz mehr notwendig ist, um Schmerz zu erzeugen.

    Die synaptischen Veränderungen sind dabei denen im Hippocampus ähnlich, die beim Lernen und an der Bildung des kognitiven Gedächtnisses beteiligt sind. Um diesen Prozess des Erlernens eines Schmerzes aufzuhalten, müssen Schmerzimpulse frühzeitig durch eine geeignete Therapie unterdrückt werden. Die Möglichkeit zur präventiven Vermeidung eines Schmerzgedächtnisses besteht allerdings in der Regel nur bei voraussehbaren Schmerzereignissen. Neurobiologische Konzepte über das Schmerzgedächtnis bieten derzeit Ansätze zur Vermeidung und Behandlung chronischer Schmerzen an.

    Nervenzellen, die ständig durch Schmerzreize aktiviert werden, bilden eine Gedächtnisspur für den Schmerz, die sich nicht mehr zurückbildet. Chronische Schmerzen führen vor allem im Gyrus Cinguli zu einer leichteren Erregbarkeit der Nervenzellen, wobei in neueren Untersuchungen diese Veränderung auf einen bestimmten Ionenkanal zurückgeführt werden konnten (Nevian et al., 2015). Dabei handelt es sich um ein Eiweißmolekül in der Membran einer Nervenzelle, die ihre elektrischen Eigenschaften bestimmt, wobei diese Funktion des Ionenkanals bei chronischen Schmerzen reduziert ist. Das führt dazu, dass Nervenimpulse leichter ausgelöst werden und somit das Schmerzempfinden steigern. Man versuchte in Tierversuchen, diesen Ionenkanal zu manipulieren und dessen Funktion wieder herzustellen, indem man einen bestimmten Rezeptor für den Botenstoff Serotonin aktivierte. Dadurch gelang es, die normalen Eigenschaften der Nervenzellen wieder herzustellen und die Schmerzwahrnehmung zu reduzieren.

    Ursache bei der Entstehung chronischer Rückenschmerzen: Die umfangreiche Aufgabe der Wirbelsäule als Stütz- und Bewegungsorgan mit ein- und ausgehenden Nerven für den gesamten Körper führt zu zahlreichen und ständigen Empfindungen, die bei Regulationsstörungen z. B. durch Stress oder Angst bevorzugt zu chronischen Schmerzen führen. Hinzu kommt noch, dass der Rücken im Gehirn nicht so gut repräsentiert ist, sodass man den Schmerz im Rücken oft nicht so genau lokalisieren kann wie etwa an den Fingern.

    Schmerzlindernde Medikamente spielen eine wichtige Rolle, wobei diese anders als normale Schmerzmittel mit Wirkstoffen wie Ibuprofen, Paracetamol und Acetylsalicylsäure wirken, die an die Schmerzrezeptoren andocken und das Schmerzempfinden blockieren. Die eingesetzten Medikamente sollen eher die Nervenmembranen und Nervenstränge stabilisieren und die Leitungsbereitschaft drosseln, sodass diese weniger reizbar sind. Auch Antidepressiva werden manchal gegen solche Schmerzen verordnet, da diese eine schmerzdistanzierende und dadurch schmerzreduzierende Wirkung besitzen. Antidepressiva finden auch deshalb Anwendung, weil Betroffene mit chronischen Schmerzen anfälliger für psychische Erkrankungen wie Angststörungen und Depressionen sind. Durch den Versuch, schmerzverursachende oder schmerzverstärkende Handlungen zu vermeiden, kann es bei manchen Betroffenen zu einem ausgeprägten Vermeidungsverhalten kommen, das sich auf den Antrieb, die Stimmung, das Denken und die persönliche Einstellung und Wahrnehmung auswirkt. Viele ziehen sich zunehmend aus dem sozialen Umfeld zurück, sodass durch den Schmerz Anspannungszustände entstehen können, die in psychischen Erkrankungen münden.


    Die Luft anzuhalten kann eine wirksame Methode zur Schmerzlinderung sein, denn wenn man die Luft anhält, sendet der Körper ein Signal an das Gehirn, dass der Sauerstoff knapp wird. Das Gehirn reagiert darauf, indem es die Aktivität der Nerven im Körper reduziert und dadurch weniger Informationen vom Körper an das Gehirn und vom Gehirn an den Körper gesendet werden, einschließlich der Informationen über die Schmerzen. Um Schmerzen durch Luftanhalten zu lindern, atmet man daher tief ein, hält die Luft so lange wie möglich an und atmet erst dann wieder aus, wenn Schwindel oder andere Symptome auftreten.


    In einer aktuellen Studie (Sens et al., 2012) ließ sich die Wirksamkeit eines Bewegungstrainings (Taubsches Bewegungstraining) zusätzlich deutlich steigern, indem die Sensitivität eines bewegungseingeschränkten Gliedes (Arm) während des Trainings durch ein Anästhetikum herabgesetzt wurde. Untersuchungen mit dem Magnetenzephalogramm zeigten, dass das temporäre Ausschalten der Nervenreize aus dem Glied dazu führt, dass auch die Aktivität in den Hirnarealen abnimmt, die diese Reize verarbeiten. Gleichzeitig kommt es aber zu einer stärkeren Aktivierung benachbarter Hirnregionen, wobei das Gehirn auf ausbleibende Reize aus dem Glied mit einer gesteigerten Sensitivität des benachbarten Körperteils (Hand) reagiert, in deren Folge sich auch die motorischen Fertigkeiten verbessern, wobei dieser Prozess innerhalb von Minuten einsetzt.

    Auch Phantomschmerzen sind Schmerzen, bei denen man von Schmerzgedächtnis sprechen kann, denn beim Phantomschmerz nehmen Menschen Schmerzen in einem amputierten Körperteil wahr, obwohl dieses nicht mehr vorhanden ist. Phantomschmerzen zeigen sehr deutlich, wie das Gehirn Schmerz lernt und abrufen kann, auch wenn der Schmerzauslöser nicht mehr besteht.

    Nicht jeder Schmerz birgt das Risiko eines Schmerzgedächtnisses, wobei die Wahrscheinlichkeit etwa bei intensiven, anhaltenden Nervenschmerzen (neuropathischen Schmerzen) erhöht ist, wie sie nach Nervenverletzungen oder -durchtrennungen auftreten können, etwa aufgrund eines schweren Unfalls. Auch im Rahmen einer Polyneuropathie, bei der die peripheren Nerven in Armen und Beinen nicht mehr richtig funktionieren, kann sich ein Schmerzgedächtnis ausbilden. Ursachen für eine Polyneuropathie können unter anderem Infektionen, Autoimmunerkrankungen, Krebs oder Diabetes sein.

    Schmerz und Kognition

    Whitlock et al. (2017) sind in einer populationsbasierten Kohortenstudie (Health and Retirement Study) der Frage nachgegangen, ob es bei älteren Menschen (über 60 Jahre) einen Zusammenhang zwischen dauerhaften Schmerzen und dem Nachlassen kognitiver Fähigkeiten gibt. Es zeigte sich über die Studienzeit bei Menschen mit Dauerschmerz gegenüber einer Vergleichsgruppe ein im Mittel um neun Prozent schnellerer Gedächtnisabbau, wobei sich zehn Jahre nach Studienbeginn für dieses Defizit das relative Risiko um sechzehn Prozent steigerte. Allerdings ist der Schluss, dass der chronische Schmerz direkten Einfluss auf die Kognition hat, eher problematisch, denn mit dem Schmerz verschlechtert sich die etwa Aufmerksamkeit, die wiederum im Zusammenhang mit Gedächtnisverlusten steht. Hinzu kommt auch die durch Schmerzen verursachte Stressbelastung, die über kortisolbasierte Stoffwechselprozesse möglicherweise einen kognitiven Abbau beschleunigt.

    Erwarteter Schmerz wird stärker empfunden

    Michalska et al. (2018) haben in einer Studie bestätigt, dass nicht nur Erwachsene sondern auch Kinder Schmerzen als stärker empfinden, wenn sie mit diesen rechnen müssen. Man hatte dabei die Schmerzempfindlichkeit von gesunden Kindern, Kindern mit Angststörungen und Erwachsenen mit Temperatursonden ermittelt, die Wärme zwischen 34 und 47 Grad erzeugen. Danach wurde den Probanden mit zwei verschiedenen Tönen eine vermeintlich unterschiedliche Schmerzbelastung angekündigt, doch gaben die Sonden immer die gleiche, mittel-schmerzhafte Temperatur ab. Trotzdem empfanden die Testgruppen mehr Schmerzen, wenn der Ton zuvor starke Schmerzen angekündigt hatte, wobei dieser Zusammenhang bei Kindern mit Angststörungen besonders stark war, gefolgt von gesunden Kindern und Erwachsenen.

    Literatur

    Landzettel, A.-K. (2022). Wenn sich Schmerzen ins Gehirn brennen.
    WWW: https://www.t-online.de/gesundheit/krankheiten-symptome/kopfschmerzen/id_100064230/schmerzgedaechtnis-wenn-sich-schmerzen-ins-gehirn-brennen.html (22-10-13)
    Michalska, Kalina J., Feldman, Julia S., Abend, Rany, Gold, Andrea L., Dildine, Troy C., Palacios-Barrios, Esther E., Leibenluft, Ellen, Towbin, Kenneth E., Pine, Daniel S. & Atlas, Lauren Y. (2018). Anticipatory effects on perceived pain: Associations with development and anxiety. Psychosomatic Medicine.
    Nevian, T. et al. (2015). Dysfunction of cortical dendritic integration in neuropathic pain reversed by serotoninergic neuromodulation . Neuron, doi: 10.1016/j.neuron.2015.03.003
    Sens, E. et al. (2012). Effects of Temporary Functional Deafferentation on the Brain, Sensation, and Behavior of Stroke Patients, Journal of Neuroscience Vol. 32 (34): 11773-11779, DOI: 10.1523/JNEUROSCI.5912-11.2012.
    Whitlock, E. L., Diaz-Ramirez, L., Glymour, M., Boscardin, W., Covinsky, K. E. & Smith, A. K. (2017). Association between persistent pain and memory decline and dementia in a longitudinal cohort of elders. JAMA Internal Medicine, 177, 1146-1153.
    https://bomedus.com/wissen/leitartikel/27_der-koerper-vergisst-nicht-wie-das-schmerzgedaechtnis-entsteht/ (16-03-03)


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