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kritische Phase

    Als kritische Phase bezeichnet man in der Psychologie jenen optimalen Zeitraum oder Zeitpunkt, zu dem ein Organismus bestimmten Reizen oder Erfahrungen ausgesetzt werden muss, damit ein angemessener Entwicklungsprozess in Gang gesetzt wird. Dabei handelt es sich in der Regel um die Annahme, wichtige Lernprozesse wären daran gebunden, dass sie innerhalb bestimmter Phasen in der Gehirnentwicklung stattfinden, weil sie nach Abschluss dieser Phasen entweder gar nicht mehr oder nur noch unter großen Mühen nachgeholt werden können.

    Das Konzept der kritischen Phase ist innerhalb der Psychologie allerdings äußerst umstritten, und viele ExpertInnen bezeichnen solche Phasen eher als Neuromythos. Tatsächlich gibt es keine Untersuchungen, die die Existenz von kritischen Phasen in dem Sinne belegen, dass bestimmte Lernprozesse nach Abschluss dieser Phasen gar nicht mehr oder nur noch unter großen Mühen nachgeholt werden können. Bestenfalls lassen sich in Bezug auf die Entwicklung grundlegender motorischer und sprachlicher Fähigkeiten sensible Phasen nachweisen, in denen manche Lernprozesse wie etwa das Identifizieren von Sprachlauten besonders begünstigt werden. Hingegen gibt es keine Belege dafür, dass es grundsätzlich nicht möglich ist, zum Beispiel eine Fremdsprache auch im Erwachsenenalter noch akzentfrei sprechen zu lernen, denn selbst wenn dies vielen Menschen nicht gelingt, so bleibt doch offen, ob diese nicht mit entsprechender Motivation diese Leistung nicht trotzdem erbringen könnten.

    Aus der Perspektive des Gehirns betrachtet stellen sich kritische Phasen als jene Zeiträume dar, in denen im jungen Gehirn die Verschaltungen zwischen Nervenzellen reorganisiert und optimiert werden, wobei für die Reifung von Verschaltungen zwischen den Hauptnervenzellen der Hirnrinde (Pyramidenzellen) die zahlreich vorhandenen stillen Synapsen (neu entstandene Synapsen) eine wichtige Rolle spielen. Wie genau Hirnfunktionen während dieser kritischen Phasen etabliert werden und welche spezifischen zellulären Prozesse dafür entscheidend sind, ist noch weitgehend unklar. Favaro et al. (2018) haben nun am Mausmodell die bedeutende Rolle der Balance zweier Signalproteine für die Reifung der stillen Synapsen in einer Studie detailliert untersucht. Es zeigte sich, dass zwei sehr ähnliche Proteine entgegengesetzte Funktionen bei der Umwandlung von Synapsen von einem unreifen in einen aktiven Zustand besitzen. Beide Proteine, PSD-95 und PSD-93, sind Teil der Postsynapse und in der Evolution durch Duplikation eines einzelnen Urgens entstanden. Während das Protein PSD-95 die Synapsenreifung fördert, bremst PSD-93 diesen Prozess. Als Folge davon reifen bei Tieren, denen das Protein PSD-93 fehlt, Synapsen schneller und die Anzahl stiller Synapsen nimmt schneller ab. Auch eine kritische Phase der Sehrindenentwicklung endet bei diesen früher als bei genetisch unveränderten Tieren. Mäuse ohne PSD-95 zeigen eine lebenslange Lernfähigkeit im Sinne von Plastizität in der Sehrinde, wie sie sonst nur während der kritischen Phase beobachtet werden kann, d. h., ihre Synapsen bleiben unreif und der Anteil stiller Synapsen ist extrem hoch. Außerdem hatten Mäuse, die entweder kein Protein PSD-95 oder kein Protein PSD-93 herstellen konnten, eingeschränkte visuelle Wahrnehmungsleistungen. Nach Ansicht der AutorInnen ist eine ausbalancierte Funktion der beiden Proteine somit nicht nur für das Timing kritischer Phasen in der Gehirnentwicklung wichtig, sondern auch für die normale Synapsenreifung und optimale Funktionsfähigkeit des Gehirns. Möglicherweise könnten bei Läsionen durch die künstliche Wiedereröffnung von kritischen Phasen unbeschädigte Areale, die in ihrer Funktion bereits verfestigt sind, wieder leichter lernen und somit Aufgaben beschädigter Bereiche zu übernehmen.

    Neue Erkenntnisse zu stummen bzw. stillen Synapsen

    Als man vor Jahrzehnten erstmals stumme Synapsen entdeckte, wurden sie vor allem in den Gehirnen junger Mäuse und anderer Tiere beobachtet, wobei angenommen wurde, dass diese Synapsen dem Gehirn während der frühen Entwicklung helfen, die riesigen Mengen an Informationen aufzunehmen, die Babys benötigen, um ihre Umwelt kennenzulernen und mit ihr zu interagieren. Man nahm auch an, dass diese Synapsen bei Mäusen im Alter von etwa 12 Tagen – das entspricht den ersten Monaten des menschlichen Lebens – verschwinden. Vardalaki et al. (2022) haben nun aber entdeckt, dass auch das erwachsene Gehirn Millionen von stillen Synapsen enthält, also unreifen Verbindungen zwischen Neuronen, die inaktiv bleiben, bis sie zur Bildung neuer Erinnerungen herangezogen werden. Bisher ging man davon aus, dass stille Synapsen nur während der frühen Entwicklung vorhanden sind, wenn sie dem Gehirn helfen, die neuen Informationen zu lernen, denen es in den ersten Lebensjahren ausgesetzt ist. Die am Mausmodell durchgeführten Studien könnten nun auch erklären, wie das erwachsene Gehirn in der Lage ist, ständig neue Erinnerungen zu bilden und neue Dinge zu lernen, ohne bestehende konventionelle Synapsen verändern zu müssen. Diese stillen Synapsen suchen nach neuen Verbindungen, und wenn wichtige neue Informationen präsentiert werden, werden die Verbindungen zwischen den entsprechenden Neuronen verstärkt, sodass das Gehirn neue Erinnerungen schaffen kann, ohne die wichtigen Erinnerungen zu überschreiben, die in den reifen Synapsen gespeichert sind, die schwieriger zu verändern sind. Das MIT-Team war übrigens gar nicht speziell auf die Suche nach stummen Synapsen ausgerichtet, sondern man versuchte, die Neurotransmitterrezeptoren in verschiedenen dendritischen Verzweigungen zu messen, um herauszufinden, ob dies dazu beitragen würde, die Unterschiede in ihrem Verhalten zu erklären. Dabei fand man zahlreiche Filopodien, also dünne Membranausstülpungen, die von Dendriten ausgehen, die normalerweise mit herkömmlichen bildgebenden Verfahren schwer zu erkennen sind.
    Literatur

    Brewer, J. (2003). Der Mythos der ersten drei Jahre. Beltz.
    Blakemore, S. J. & Frith, U. (2006). Wie wir lernen. Was die Hirnforschung darüber weiß. DVA.
    Favaro, P.D., Huang, X., Hosang, L., Stodieck, S., Cui, L., Liu, Y.-Z., Engelhardt, K.A., Schmitz, F., Dong, Y., Löwel, S. & Schlüter, O.M. (2018). An opposing function of paralogs in balancing developmental synapse maturation. PLoS Biol, 16, doi:0.1371/journal.pbio.2006838.
    Stangl, W. (2022, 10. Dezember). Stumme Synapsen auch im erwachsenen Gehirn . arbeitsblätter news.
    https:// arbeitsblaetter-news.stangl-taller.at/stumme-synapsen-auch-im-erwachsenen-gehirn/
    Vardalaki, Dimitra, Chung, Kwanghun & Harnett, Mark T. (2022). Filopodia are a structural substrate for silent synapses in adult neocortex. Nature, 612, 323-327.
    http://www.educ.ethz.ch/forschung-und-literatur/lehr-lern-forschung-neurowissenschaften/neuromythen/gehirn-kritische-phasen.html (16-05-21)


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