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Aphantasie

    Aphantasie bzw. Afantasie – auch Aphantasia nach Zeman (s. u.) – ist die Bezeichnung für das seltene Phänomen eines fehlenden bildlichen Vorstellungsvermögens, also für den Zustand, in dem keine mentalen Bilder visualisierbar sind. Das Phänomen wurde erstmals 1880 von Francis Galton beschrieben, ist jedoch kaum erforscht. Nach einer Schätzung sind etwa zwei bis drei Prozent der Bevölkerung von Aphantasie betroffen. Aphantasie ähnelt dabei anderen nicht sichtbaren Behinderungen wie der Gesichtsblindheit, Alexie oder Amusie, doch anders als diese wird Aphantasie eher nicht mit Leidensdruck oder Funktionsdefiziten in Verbindung gebracht, sodass unklar bleibt, ob das Phänomen als Erkrankung oder als Normvariante eingestuft werden kann. Betroffene sind dabei nicht in der Lage, sich einen grünen Apfel oder das Gesicht eines Freundes vorzustellen. Beschreibungen von Menschen mit Aphantasie zeigen, dass Aufgaben, die normalerweise mit Hilfe von Verbildlichung bearbeitet werden, wie etwa die Frage „Wie viele Fenster hat das Haus, in dem Sie wohnen?“ durch erworbenes Wissen beantwortet werden, d. h., sie merken es sich als Faktum wie gelerntes Schulwissen und rufen es genauso wieder ab. Betroffene besitzen daher nicht die Fähigkeit, in ihrem Kopf spontan Bilder zu formen, denn wenn sie eine Situation, ein Gegenstand oder ein Lebewesen beschreiben wollen, können sie diese Ereignisse nicht visualisieren, auch dann nicht, wenn sie die Augen schließen und versuchen, sich diese Gegenstände visuell vorzustellen. Dieses Unvermögen, sich etwas bildlich vorstellen zu können, scheint vornehmlich unter Männern verbreitet zu sein, während Frauen und Kinder meist eine sehr lebendige Vorstellungskraft besitzen. Aphantasie kann auch eine vererbare neurobiologische Basis besitzen, denn das Gehirn von Betroffenen verarbeitet Informationen einfach anders und nutzt andere Gehirnregionen, wenn bei Probanden bei Vorstellungsaufgaben andere Gehirnareale aktiviert sind, wenn diese mittels Gehirnscans beobachtet werden.

    Formen der Aphantasie

    Bei Aphantasie kann zwischen totaler und willentlicher Aphantasie unterschieden werden, wobei totale Aphantasie bedeutet, dass Betroffene nichts in ihrem Kopf sehen können, während man bei willentlicher Aphantasie davon ausgeht, dass Betroffene zwar absichtlich kein Bild hervorrufen können, aber manchmal unfreiwillig ein Bild aufblitzen kann, wenn sie sich nicht darauf konzentrieren oder daran denken. Monzel et al. (2021) vermuten, dass es eine totale Aphantasie gar nicht gibt bzw. dass sie nur sehr selten vorkommt. Es könnte sich in diesen Fällen um willentliche Aphantasien handeln, bei denen unfreiwillige Bilder nur noch nicht identifiziert werden konnten. Diese Vermutung kommt daher, dass ein Großteil der Betroffenen bildlich träumen kann, wobei das neuronale Netzwerk für unfreiwillige Bilder und Träume vom neuronalen Netzwerk für freiwillige Bilder unterschieden werden kann. Für eine totale Aphantasie müssten also beide Netzwerke unabhängig voneinander gestört sein, was aber unwahrscheinlicher als die Störung eines einzelnen Netzwerks ist.

    In einer aktuellen Studie untersuchten Monzel et al. (2023) kongenitale Aphantasten und demografisch passende Kontrollpersonen bei einer diesbezüglichen Aufgabe mittels funktioneller Magnetresonanztomographie. Ziel war es, zu untersuchen, wie Schlüsselregionen des Gehirns (d.h. Hippocampus und visuell-perzeptiven Cortex) während des Wiedererlebens von autobiografischen Erinnerungen miteinander interagieren. Alle Teilnehmer wurden zu ihrem autobiografischen Gedächtnis befragt, um ihr episodisches und semantisches Erinnern an bestimmte Ereignisse zu untersuchen. Diejenigen Teilnehmer, die an Aphantasie leiden, berichteten über größere Schwierigkeiten beim Erinnern, waren weniger zuversichtlich bezüglich ihrer Erinnerungen und beschrieben weniger interne und emotionale Details als die Kontrollpersonen. Auf neuronaler Ebene zeigten Aphantasiker während des Abrufs eine geringere Aktivierung des Hippocampus und eine erhöhte Aktivierung des visuell-perzeptiven Cortex im Vergleich zu den Kontrollprobanden. Während der Erinnerungen zeigten sie außerdem eine starke negative funktionelle Konnektivität zwischen dem Hippocampus und dem visuellen Cortex. Die funktionelle Konnektivität im Ruhezustand zwischen diesen beiden Hirnstrukturen sagte bessere Visualisierungsfähigkeiten voraus. Diese Ergebnisse legen nahe, dass visuelles Vorstellungsvermögen für detailreiche und lebendige autobiografische Erinnerungen unerlässlich ist. Diese kognitive Funktion wird durch die funktionelle Verbindung zwischen dem Hippocampus und dem visuell-perzeptiven Cortex unterstützt. Offenbar funktioniert das autobiographische Gedächtnis bei Menschen mit eingeschränkter visueller Vorstellungskraft anders als bei Menschen, die sich leicht bildhafte Vorstellungen machen können.

    Test auf Aphantasie

    Mit Hilfe eines einfachen Tests kann man versuchen, ob die bildliche Vorstellungskraft fehlt. Man stellt sich dabei etwa einen Supermarkt vor, in dem man einkaufen geht und fragt sich: Welche Form und Farbe hat die Eingangstür? Wie sehen die Gänge aus? Wo befindet sich das Gemüse? Wie geht man zu einer Kasse und bezahlt? Wenn man sich diesen Gang durch einen Supermarkt problemlos vorstellen kann, dann hat man vermutlich eine normale Fantasie, auch wenn die Bilder im Kopf dabei weniger detailliert und weniger lebhaft als in der Realität sind. Menschen mit Aphantasie fällt es hingegen schwer sich diesen Einkauf visuell vorzustellen, d. h., sie können nicht vor ihrem geistigen Auge durch den Supermarkt gehen und die verschiedenen Objekte bildlich wahrnehmen.

    Viele Menschen sind sich ihrer Beeinträchtigung aber nicht bewusst und gehen davon aus, dass alle anderen Menschen genauso denken, wie sie selbst. Manche Menschen leiden seit ihrer Geburt unter dieser fehlenden Vorstellungskraft, bei manchen tritt das Phänomen erst nach einem Unfall oder einem Schlaganfall auf. Viele davon Betroffene haben mit der Zeit individuelle Strategien entwickelt, diese Einschränkung zu kompensieren. Immerhin haben die meisten von ihnen nur im Wachzustand Probleme mit der bildlichen Vorstellung, denn ihre Träume sind in der Regel genauso bunt wie bei anderen Menschen. Man vermutet als Ursache für Aphantasie eine Dysfunktion bei der Zusammenarbeit unterschiedlicher Gehirnareale. Zeman et al. (2015) hatten die Gehirnaktivität von Menschen mit Aphantasie, mit Hyperphantasie und Kontrollpersonen mit durchschnittlicher visueller Vorstellungskraft mittels funktioneller Magnetresonanztomografie untersucht. Bei Menschen mit Aphantasie war das Sehzentrum weniger stark mit dem lateralen und medialen präfrontalen Cortex verbunden und damit mit jenen Hirnarealen, die als die Kontrolleure und Impulsgeber für die inneren Bilder gelten. Diese Verringerung der Konnektivität zwischen den relevanten kognitiven Kontrollsystemen und dem visuellen Cortex liefert eine relativ plausible neurologische Erklärung dafür, dass Menschen mit Aphantasie kein Problem mit der Wahrnehmung an sich haben, aber dennoch keine Bilder rein kognitiv entwickeln können. Gleichzeitig beobachtete man eine geringere Aktivierung von Teilen des Scheitellappens, was darauf hindeutet, dass das Gehirn von Menschen mit Aphantasie intern auch weniger Aufmerksamkeit auf visuelle Areale zuwendet, was vor allem die Probleme bei der Gesichtserkennung erklären könnte.

    Ursachen der Aphantasie

    Man vermutet für Aphantasie auch eine erbliche Komponente, wobei eine Erklärung von einer Kommunikationsstörung zwischen dem Frontallappen im vorderen Teil des Gehirns zum Occipitallappen im hinteren Teil des Gehirns ausgeht. Im Frontallappen entsteht der Wunsch, sich einen Apfel vorzustellen, aber das Bild, wenn man einen echten Apfel sieht, entsteht aber erst im Occipitallappen, und nur im Zusammenwirken der beiden Hirnregionen kann eine solche visuelle Vorstellung funktionieren, sodass dieses Zusammenwirken bei Aphantasie durch eine Verbindungsschwäche gestört sein könnte. Bisher ist diese Theorie aber noch nicht abschließend belegt. Der zweiter Erklärungsansatz vermutet eine ständige Überaktivierung im Occipitallappen, was nur auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint, denn schließlich entstehen ja genau dort Bilder im Kopf, doch kann eine solche hohe Aktivität aber andere Signale überdecken, sodass allein der Wunsch, sich etwas visuell vorzustellen, als Hirnsignal nicht ausreicht, um die restliche Aktivität der Hirnregion zu übertönen.

    So kann man das Phänomen mit einem schlechten autobiografischen Gedächtnis in Verbindung bringen – selbst an wichtige Ereignisse wie etwa den Tag der eigenen Hochzeit könnten sie sich schlecht erinnern -, auch scheinen viele Menschen mit Afantasie zusätzlich von Prosopagnosie betroffen zu sein, d. h., sie haben Schwierigkeiten, Gesichter wiederzuerkennen. Die Betroffenen manchmal unterstellte fehlende Empathie gilt nur für erzählte Geschichten, denn wenn man einem Betroffenen erzählt, dass jemand einen schweren Unfall hatte, empfindet dieser deshalb weniger Empathie, weil er sich das Geschehen nicht bildlich vorstellen kann, denn Emotionen werden vor allem in Bildern transportiert. Wenn Menschen mit Aphantasie dieselbe Situation selbst miterleben, zeigen sie hingegen eine normale Empathie.

    Übrigens ist es für Menschen mit Aphantasie gar nicht einfach, sich etwa auf eine Psychotherapie einzulassen, da viele psychotherapeutische Behandlungsmethoden ein gutes visuelles Vorstellungsvermögen voraussetzen, um eine Therapie erfolgreich absolvieren zu können. Daher sträuben sich manche Betroffene, eine solche Hilfe in Anspruch zu nehmen, denn sie fühlen, dass ihnen ein Zugang zur therapeutischen Wirksamkeit fehlt. Manchen gelingt es allerdings, unter dem Einfluss von halluzinogenen Drogen manchmal Bilder vor ihrem inneren Auge zu entwickeln.

    Das Gegenteil der Afantasie ist übrigens die Hyperphantasie, die sich aber viel schwerer definieren lässt, denn während Afantasten Menschen sind, die sich innerlich nichts vorstellen können, gibt es sehr viele Abstufungen davon, wie stark man sich etwas vorstellen kann. Auch ist schwer zu überprüfen, wie konkret jemand etwas vor seinem inneren Auge sieht, etwas hört oder schmeckt, sodass sich nur schwer eine bestimmte Obergrenze festlegen lässt. Menschen mit Hyperfantasie erleben Erinnerungen, Vergangenes, Träume oder auch Gefühle mit starken, fast schon greifbar realistischen Bildern – siehe dazu auch Hypersensibilität. Beide Phänomene sind jedoch keine Krankheiten, denn Aphantasie schränkt die davon Betroffenen bei alltäglichen Aufgaben kaum ein, wobei sie für spezielle Aufgaben manchmal etwas länger brauchen, dennoch können sie die Aufgaben im Normalfall trotzdem lösen.

    Kurioses: Manche Betroffene sehen sogar die Vorteile einer Afantasie, denn sie können über noch so ekelhafte Dinge sprechen, sie stört das überhaupt nicht und können etwa daneben auch in Ruhe essen, ohne von dem Thema irritiert zu sein.


    Erstmals wurde das Phänomen 1880 im Zusammenhang mit Francis Galtons Frühstückstisch-Studie explizit beschrieben, in der dieser im Rahmen einer Untersuchung an erwachsenen Männern diese zu dem Tisch befragte, an dem sie jeden Morgen ihr Frühstück zu sich nehmen. Dabei sollten die Teilnehmer unter anderem Auskunft zu Ausleuchtung, Schärfe und Farbe des in ihrem Kopf entstandenen Bildes geben, wobei zehn der Probanden nur wenig mit seinen Fragen anfangen konnten, denn sie hatten immer angenommen, sich etwas bildlich vorzustellen sei nicht wörtlich gemeint sondern nur eine Phrase.


    Literatur

    Monzel, M., Vetterlein, A. & Reuter, M. (2021). Memory deficits in aphantasics are not restricted to autobiographical memory – Perspectives from the Dual Coding Approach. Journal of Neuropsychology, doi: 10.1111/jnp.12265.
    Monzel, M., Keidel, K. & Reuter, M. (2021). Imagine, and you will find – Lack of attentional guidance through visual imagery in aphantasics. Attention, Perception, & Psychophysics, 83, 1–12.
    Monzel, Merlin, Leelaarporn, Pitshaporn, Lutz, Teresa, Schultz, Johannes, Brunheim, Sascha, Reuter, Martin & McCormick, Cornelia (2023). Hippocampal-occipital connectivity reflects autobiographical memory deficits in aphantasia. eLife, doi:10.7554/eLife.94916.1
    Zeman, A., Dewar, M. & Della Sala, S. (2015). Lives without imagery – Congenital aphantasia. Cortex, 73, 378–380.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Aphantasie (19-12-12)
    https://www.rtl.de/cms/aphantasie-wenn-die-bildliche-vorstellungskraft-fehlt-4519021.html (20-04-07)
    http://kurt.digital/2019/07/06/aphantasie-und-hyperphantasie-schwaerze-oder-bunte-bilder-im-kopf/ (19-07-06)


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