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Gesichtssinn

    Das Sehen kommt also durch die Abbildung eines sichtbaren Dinges auf dem weißen, konkaven Schirm der Retina zustande, und was außen rechts ist, wird auf dem linken Teil des Schirmes abgebildet; was links ist, rechts; was oben ist unten; was unten ist, oben. (…) Der Lichteinfall erzeugt auf der Retina ein Umkehrbild. Wie das im Gehirn verarbeitet wird, darüber zu befinden, überlasse ich den Medizinern. Das Bild entsteht erst im Gehirn.
    Johannes Kepler, Astronomiae Pars Optica

    Der Sehsinn bzw. Gesichtssinn oder optischer Sinn ist das wichtigste Sinnessystem des Menschen und das am intensivsten erforschte, denn er liefert die detailreichsten Informationen von bis zu achtzig Prozent über die Außenwelt und beschäftigt ein Viertel des Gehirns. Über das Auge werden demnach optische Eindrücke aus der Umwelt aufgenommen, die anschließend im Gehirn verarbeitet und zugeordnet, wobei dann aufgrund der Erfahrung eine Reaktion oder Handlung erfolgt, etwa genau Hinschauen, Wegschauen, etwas Aufheben, jemanden Begrüßen usw.

    Die Sehkraft des Auges beruht auf physikalischen und chemischen Prozessen, durch die ein wahrgenommenes Lichtsignal in ein elektrisches Signal umgewandelt und dann über den Sehnerv ins Gehirn weitergeleitet wird, wo schließlich ein Bild entsteht. Dabei interpretiert das menschliche Gehirn die Informationen, die es von den Augen erhält, und setzt aus diesen Seheindrücken die sichtbare Realität zusammen. Wenn Lichtstrahlen in das Auge fallen, treffen sie zunächst auf die Hornhaut, wo sie gebrochen werden, und von dort gelangen sie zur Iris, wobei diese ähnlich wie die Blende einer Kamera funktioniert, d. h., in ihrer Mitte befindet sich eine Öffnung (Pupille), die durch Ringmuskeln den Lichteinfall reguliert Bei Dunkelheit weitet sich die Pupille und bei Helligkeit verkleinert sie sich, um so die Lichtempfindlichkeit des Auges zu verringern oder zu erhöhen. Hinter der Pupille liegt die Augenlinse, die flexibel ist und durch Muskelkontraktion ihre Form verändert, sodass Objekte in der Ferne wie in der Nähe immer scharf abgebildet werden (Akkommodation). Linse und Hornhaut brechen die einfallenden Lichtstrahlen gemeinsam und projizieren diese auf die Netzhaut, die aus 100 Millionen Sehzellen besteht, die die einfallenden Lichtimpulse in Nervenimpulse umwandeln, die dann der Sehnerv an das Gehirn weitergibt, wo die Informationen zu einem Bild verarbeitet werden.

    So haben etwa viele Wissenschaftler Theorien des Sehens und speziell des Farbensehens entwickelt, die in ihrem Kern noch immer gültig sind, auch wenn man heute mehr oder minder weiß, dass die gesehene Welt ein Eigenkonstrukt des Gehirns ist, zu dem Physik und Physiologie nur Ausgangsdaten beisteuern. Es ist aber immer noch ein großes Rätsel, wie das menschliche Gehirn aus der schwindelerregenden Flut vi­sueller Informationen, die auf die Netzhaut einprasseln, daraus nahtlose und verständliche visuelle Erfahrungen erzeugen kann. Man vermutet aufgrund zahlreicher Forschungsergebnisse, dass Erwartung und Aufmerksamkeit dabei die zentrale Rolle spielen, denn offenbar verändern Erwartung und Aufmerksamkeit die Kodierung der natürlichen Bild­in­formationen im menschlichen Gehirn.

    Föten im Mutterleib bekommen von der Außenwelt schon sehr viel mit, denn man weiß, dass sich vor allem der Geschmack und das Gehör des Fötus schon sehr früh entwickeln. Etwa ab dem sechsten Monat beginnt dann auch der Sehsinn des Ungeborenen aktiv zu werden, obwohl seine Augen zu diesem Zeitpunkt noch geschlossen sind, doch durch die Lider hindurch nimmt der Fötus bereits Licht wahr. Verantwortlich dafür diese Fähigkeit sind lichtempfindliche Ganglienzellen in der sich entwickelnden Netzhaut, die mit unterschiedlichen Bereichen des Gehirns in Verbindung stehen und anzeigen, ob Licht einfällt oder nicht, sodass Ungeborenen schon einen Tag-Nacht-Rhythmus entwickeln. Caval-Holme & Feller (2019) haben entdeckt, dass diese Ganglienzellen mehr Informationen über den Lichteinfall registrieren als bisher angenommen und möglicherweise sogar untereinander kommunizieren. Im Mausmodell scheinen diese lichtempfindlichen Ganglienzellen in der Retina ein regelrechtes Netzwerk zu bilden, indem sie über Gap Junctions miteinander kommunizieren. Auch wenn diese Erkenntnisse nicht unmittelbar auf den Menschen übertragbar sind, weisen sie doch darauf hin, dass diese Zellen auch für weitere Entwicklungsprozesse von Bedeutung sind. Bisher galt der Sehsinn als Nachzügler bei der Sinnesentwicklung, denn er reift erst weiter aus, wenn sich die Augen des Kindes in der 26. Schwangerschaftswoche öffnen, und selbst nach der Geburt ist ein Säugling zunächst noch extrem kurzsichtig, sieht die Welt um sich herum nur unscharf und erkennt keine Farben.

    Literatur

    Caval-Holme, Franklin & Feller, Marla B. (2019). Gap Junction Coupling Shapes the Encoding of Light in the Developing Retina. Current Biology, 29, doi:10.1016/j.cub.2019.10.025.
    https://www.blickcheck.de/auge/funktion/ (17-03-11)


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