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Lernlandschaft

    Der Mensch lebt bekanntlich in Wechselwirkung mit dem Raum, denn er benötigt ein Dach über dem Kopf, eine schützende Struktur. Kinder haben schon sehr früh Spaß am Häuserbauen, denn ob mit Karton, Decken, Regenschirmen oder Tüchern bis hin zum Baumhaus, es fällt ihnen immer wieder etwas Neues ein. In ihren Häusern können sie sich verstecken, sich schützen, Erwachsene haben Eintrittsverbot. Diese selbst verfertigten Gebäude sind ihr Schlupfwinkel, eine schützende Höhle, ein Ort zum Alleinsein, ein Spielraum für eine kleine Gruppe. Auch in der Schule sollte diesem Bedürfnis Rechnung getragen werden, d. h., eine Schule soll den Kindern ein zweites Zuhause sein. Schulen sind in diesem Sinn einer Behausung gebaute Umwelten und stellen die Rahmenbedingungen für Lernen dar. So können bestimmte schulische Raumstrukturen unterschiedliche Atmosphären erzeugen und dabei Ausprägungen von Interaktionen und Aggressionen begünstigen oder erschweren. Schule ist somit weit mehr als nur eine Behausung von Unterricht, sondern Schule ist ein Lern- und Lebensort für Kinder. Architektur sollte die Schule daher nicht als einen maschinellen Betrieb definieren, in dem Lernen auf Knopfdruck und in hintereinander aufgereihten Sitzreihen stattfindet. Schulen sollten demnach ansprechende und anregende Umgebungen sein, denn nur ein Gebäude, das Anreiz zum Lernen gibt, kann zu dauerhafter Leistungsbereitschaft und nachhaltiger Lernfähigkeit führen. Die ästhetische Gestaltung des Schulalltags muss also über das Potenzial verfügen, Eindruck zu hinterlassen, denn wenn Lernumwelten nicht zu beeindrucken vermögen, dann ist auch die Nachhaltigkeit des Lernens gefährdet. Heranwachsende begreifen ihre Umgebung bekanntlich mit allen Sinnen, d. h., die Entwicklung der sensorischen Areale im Gehirn ist von der Stimulation der Sinne abhängig. Auch ein Schulgebäude sollte mit allen Sinnen erfahrbar sein, denn eine reizarme Umwelt ist eine ermüdende Umwelt. Raum, Farbe, Material, Licht und Akustik stellen in diesem Zusammenhang daher wichtige Gestaltungsmittel dar und können effektiv eingesetzt eine anregende und nachhaltige Lernatmosphäre erschaffen (Rogger, 2012).

    Schule ist heute aber noch immer ein mehr oder minder geschlossener Raum, der von der realen Lebenswelt isoliert wird, sodass sich Schule als pädagogischer Machtraum darstellt. Das bedeutet, dass entweder die Kinder und Jugendlichen zu einer Weltflucht gezwungen oder im regelpädagogischen Sinn kaserniert werden sollen. In diesen Raumentwürfen wird an der Einschließung von Kindern und Jugendlichen im schulischen Raum und damit an der bestehenden Schulpflicht festgehalten. Die Beibehaltung der Schulpflicht ist entweder Schutz der Kinder und Jugendlichen vor den Einflüssen der modernen Kultur im außerschulischen Raum oder eben ein Schutz der Gesellschaft vor denen, die noch nicht erwachsen sind und damit auch noch keine Aufenthaltsgenehmigung in der Erwachsenenkultur besitzen (Böhme & Herrmann, 2011, S. 143).

    Lernlandschaften sind große Räume in Schulen ohne konventionelle Klassenzimmerstrukturen, wobei das Konzept der heute vorzufindenden teiloffenen Lernlandschaften auf die Open Space-Schulen der 1970er-Jahre zurückgeht. Die Open Space-Schulen verzichteten ursprünglich radikal auf alle fest eingebauten Wände zu Gunsten einer vollständig offenen großen Fläche. Um das akustische Störpotenzial, das mit dieser vollständigen Offenheit entstand, zu reduzieren, wurde dieses Konzept inzwischen weiterentwickelt und enthält nun auch teiltransparenten Gliederungselemente und feste Einbauten. Entscheidend für das Konzept der teiloffenen Lernlandschaft ist, dass das Konzept nicht mehr auf die soziale Einheit Klasse ausgerichtet ist, sondern vielmehr auf die gewandelten pädagogischenAnforderungen zu reagieren versucht, d. h., einerseits ein hoher Grad der Individualisierung der Arbeitsformen, andererseits temporäre Gruppenbildungen wie altersgemischte Projektgruppen, wechselnde themen- oder niveaudifferente Kurse unterschiedlicher Größe.

    Die Idee der Lernlandschaften ist daher ein pädagogisches Grundkonzept – „Der Raum ist der dritte Pädagoge„, das eine konkrete räumliche Umsetzung benötigt, wobei neben der individuelleren Wissensvermittlung Lernlandschaften die Stärkung von überfachlichen Kompetenzen wie Selbstkompetenz und Sozialkompetenz von SchülerInnen ermöglichen sollen. Der Unterricht in Lernlandschaften hat theoretisch das Potenzial, abwechslungsreicher, methodenreicher und individueller zu sein, wobei der Anteil der selbstständigen Arbeit durch die SchülerInnen steigt, sobald die räumlichen Gegebenheiten ausgenutzt werden. Das betrifft die einzelne Unterrichtsstunde, aber auch ganze Stoffeinheiten oder die Kooperation zwischen Fächern und Jahrgangsstufen. Basis für Lernlandschaften ist die Annahme, dass selbstständig erarbeitetes Wissen sich im Gehirn besser verankert als vorwiegender Frontalunterricht.

    Das Konzept der Lernlandschaften bedeutet aber nicht, dass ausschließlich in Freiarbeit unterrichtet wird oder Frontalunterricht komplett aus dem Unterrichtsalltag verschwindet, denn LehrerInnen sind und bleiben zentrale Bezugspersonen und Lernbegleiter. Neben den Klassenräumen steht allen Klassen ein gemeinsamer Marktplatzbereich zur Verfügung, in dem Lernen ebenfalls stattfinden kann. Unterrichtsstunden finden daher häufig nicht nur im Klassenzimmer, sondern auch auf dem Marktplatz zwischen den Klassenräumen statt, wo genügend Raum für Einzel- und Partnerarbeiten sowie fächer- und klassenübergreifende Projekte ist. Die Arbeit in den Lernlandschaften erfordert die kollegiale Zusammenarbeit von LehrerInnen, denn nur durch intensive Absprachen kann man Projekte koordinieren und Unterricht bzw. Leistungserhebungen synchronisieren.


    Kritisches: Nehmen wir das selbst organisierte, individualisierende Lernen, etwa die Lernlandschaften. Das wird momentan sehr einseitig gepusht, obwohl längst nicht alle Lehrer, Erziehungswissenschaftler und Kinderpsychologen davon überzeugt sind. So wird daran gezweifelt, dass beispielsweise Neunjährige ihr eigenes Lernen selber managen und über zehn Tage einteilen können. Hier stellt sich auch die Frage, wie weit die teilautonom geleiteten Schulen selber über neuartige Schulversuche entscheiden können, wenn es mehr sein soll als nur ein Schulversuch. Solche abweichenden Modelle gibt es ja bis anhin vor allem an Privatschulen. Für eine Privatschule entscheiden sich Eltern aber bewusst. Wenn aber die Privatschule von gestern die öffentliche Schule von morgen ist, muss vorher eine politische Diskussion stattfinden.


    Ein Lernraum umfasst aber die Summe all jener Faktoren, die das Lernen beeinflussen, wobei sich die Umgebung und deren Gestaltung auf das Lernverhalten auswirkt. Anforderungen an eine optimale Lernumgebung sind Ruhe, d.h., keine Gespräche in der Nähe, keine Unterbrechungen durch Handyklingeln, ausreichend Licht und Luft, d.h., vor dem Lernen den Raum lüften, Übersicht und Klarheit am Arbeitsplatz verhindern, dass ein Chaos am Schreibtisch das Gehirn überfordert und man durch unwichtige Dinge abgelenkt wird. Manche Menschen lernen an ruhigen Orten in der Öffentlichkeit wie an einem leise plätschernden Brunnen oder in einem nicht zu überlaufenen Park am besten.

    Vor allem in der Ganztagsschule verbringen Kinder und Jugendliche den größten Teil des Tages. Deshalb kommt der Gestaltung des Lebens- und Lernraums in der Schule, gepaart mit einer anregenden Schulatmosphäre, eine große Aufmerksamkeit zu. Der Raum als dritter Pädagoge hat neben den anderen beiden Pädagogen, also den MitschülerInnen und den Lehrkräften, eine gewachsene Bedeutung in der Ganztagsschule. Die Ganztagsschule hat auch die Aufgabe, Lernorte zu schaffen, in denen die Räume als didaktisches Element verstanden und entsprechend genutzt werden. Die Ganztagsschule soll aber auch einen Lebensraum schaffen und gestalten, der kinder- und jugendgemäß ist, auch und nicht zuletzt, damit Kinder und Jugendliche ihre zumeist wenig anregenden Wohnverhältnisse kompensieren können. Die Ganztagsschule soll daher ein Erfahrungsraum für Kinder und Jugendliche sein, der für die Persönlichkeitsentwicklung eine wichtige Grundlage darstellt. Zugleich soll die Ganztagsschule aber auch ein Kulturraum sein, in dem Kinder und Jugendliche ihre schöpferische Kraft entfalten und die Bedeutung von kulturellen Fragen für ihr persönliches Leben erkennen können.

    Übrigens wird im Kontext von Schule auch selten von informellem Lernen gesprochen, obwohl etwa die Schulgebäude und im besonderen die Schulhöfe im formellen Setting der Schule sich als prädestinierte Orte hierfür zeigen. Auf Schulhöfen können die Heranwachsenden meist selbstbestimmt innerhalb ihrer Peers agieren und dabei eigenständig wertvolle Lernprozesse vollziehen. Bisher wird jedoch selten ein Bezug zwischen dem sozialräumlichen Konzept der Aneignung und informellen Lernen genommen bzw. auch auf empirischer Ebene fehlt eine derartige Betrachtung gänzlich.


    Kritisches: Kindheit und Jugend findet heute auch in den U-Bahn-Schächten der Großstädte, in der Tristesse der Vororte, auf verwahrlosten Kinderspielplätzen, auf den Freiflächen zwischen Hochhäusern, in schlecht ausgestatteten Jugendhäusern statt. Daher ist die Vorstellung vom vielfältigen, anregungsreichen, phantasievollen Lebensraum und Lernraum für Kinder und Jugendliche in der Nähe der elterlichen  Wohnung von der Lebenswirklichkeit der meisten Kinder und Jugendlichen weit entfernt. Es gibt keinen Wald in der Nähe, wo man Dämme bauen, keine  Wiesen, auf denen man Drachen steigen lassen könnte. Für solche Aktivitäten ist kein Raum vorhanden, andere Kinder und Jugendliche, mit denen man Sinnvolles unternehmen könnte, gibt es in der Straße nicht, am Haus ist kein Garten, in dem man spielen darf. Ein solcher Erfahrungsreichtum ist jedoch Grundlage für erfolgreiches Lernen, d. h., was im privaten sozialen Umfeld nicht vorhanden ist, muss die Schule kompensieren, und zwar auch den Lebensraum.


    Schon Alexej Nikolajew Leontjew (1973, S. 281) ging davon aus, dass der Mensch in einen Raum eindringt und dort, um überleben zu können, sich Werkzeuge sowie symbolische Produkte schafft. Während die Werkzeuge tatsächlich Elemente des täglichen Lebens sind, handelt es sich bei den Symbolen um die gesellschaftliche Realität formende und organisierende Aspekte der Lebenswelt. Der Mensch kreiert sich also etwa neben einem Überlebens- und Ausbildungs- auch ein politisches System, das dann auch Wahrnehmung und Lebensentwurf von Menschen in der Zukunft formt. Das bedeutet also, dass der Zugang eines Menschen zu einem existierenden Werkzeug durchaus persönlicher und individueller Natur sein kann, was etwa bei bereitgestellte Lernumgebungen zu berücksichtigen ist, wenn diese nicht statisch und beliebig sein sondern zur Mitwirkung anregen sollen. Diese Erzeugnisse und Symbole beinhalten die Ergebnisse seiner Fähigkeiten, Erfahrungen sowie Traditionen und prägen so die äußeren Lebensbedingungen des Menschen, die wiederum auf den Menschen zurückwirken.

    In den skandinavischen Ländern gilt der Klassenraum schon seit langem als weiterer Pädagoge, denn ein gut gestaltetes Gebäude sorgt für eine gute Lernatmosphäre. Gut gestaltet heißt dabei nicht nur, dass alte Gebäude sauber und intakt sein sollen, sondern es bedarf auch einer modernen Architektur, die Hand in Hand mit der Pädagogik geht.


    Bei der Präsentation eines Wettbewerbs für Schulbauten („AWARD Bessere Lernwelten“) wurde 2022 betont, dass Bildungsbauten eine besondere Bedeutung für den Stellenwert von Bildung in unserer Gesellschaft und für den Lernerfolg des Individuums haben. Durch architektonische Einflüsse kann die Konzentrationsfähigkeit und damit die Lernerfolg maßgeblich beeinflusst werden. Deshalb ist eine moderne und funktionale Architektur gerade bei Bildungsbauten gefordert. Bildungsbauten von hoher Qualität sind Ausdruck der Wertschätzung, öffentlichen Präsenz und damit auch des Stellenwertes von Bildung in der Gesellschaft. Gleichzeitig manifestieren sie zeitgemäße Lernkultur und moderne Bildungsangebote. Sie verdeutlichen zudem, welchen Mehrwert eine wohlüberlegte Gestaltung für das Wohlbefinden jedes Menschen hat.


    Literatur

    Bollnow, O. F. (1963). Mensch und Raum. Stuttgart.
    Böhme, J. & Herrmann, I. (2011). Schule als pädagogischer Machtraum. Typologie schulischer Raumentwürfe. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
    Höhmann, Katrin (2012). Ganztagsschule als Lern-, Lebens-, Erfahrungs- und Kulturraum (S. 11-18). In Appel, Stefan & Rother, Ulrich (Hrsg.), Schulatmosphäre – Lernlandschaft – Lebenswelt (Jahrbuch Ganztagsschule). Schwalbach, Taunus: Wochenschau Verlag.
    Leontjew, A. N. (1973). Probleme der Entwicklung des Psychischen. Berlin: Volk und Wissen.
    Interview mit Roger von Wartburg in der bz vom 5. Februar 2015.
    Rogger, K. (2012). Ansprechende Lernatmosphäre im Schulbau schaffen: Raum, Farbe, Material, Licht und Akustik (S. 33-43). In Appel, S. & Rother, U. (Hrsg.), Schulatmosphäre – Lernlandschaft – Lebenswelt. Schwalbach, Taunus: Wochenschau Verlag.
    Stangl, W. (2014, 1. Mai). Der Raum ist der dritte Pädagoge. Lerntipps: Die Neuigkeiten.
    https:// lerntipps.lerntipp.at/der-raum-ist-der-dritte-paedagoge.
    WWW: https://www.bzbasel.ch/basel/baselbiet/die-lehrer-haben-bei-der-umsetzung-gesehen-dass-es-da-und-dort-hapert-128799860 (15-11-21)
    http://www.schulentwicklung-net.de/images/stories/Anlagen/OS_Kleines_Schulbaulexikon_171018.pdf (18-12-12)
    http://www.churermodell.ch/images/sampledata/downloads/Schulentwicklung_Ludretikon.pdf (18-12-12)
    https://www.kronberg-gymnasium.de/Lernlandschaften_2671.html?cat120=120 (18-12-12)


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