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Legasthenie

    Zu Beginn des Erlernens der Schriftsprache treten häufig Lese- und Rechtschreibschwächen auf, wobei fast alle Kinder, die Lesen und Schreiben erlernen, anfänglich ähnliche Fehler in unterschiedlich starkem Maße und unterschiedlich lang machen. In einigen Fällen können Probleme bei der visuellen Informationsverarbeitung bestehen, also der Buchstabenunterscheidung, und bei der akustischen Differenzierung, doch sind diese Probleme bei Kindern, die gerade damit beginnen, lesen zu lernen, häufig, und aus diesem Grunde wahrscheinlich nicht ursächlich mit einer mangelnden Lesefertigkeit verknüpft. Der Großteil der Schüler macht jedoch Fortschritte, während bei legasthenen Kindern die Schwächen ausgeprägter sind und über einen längeren Zeitraum auch aufrecht bleiben. Entwicklungsstörungen des Lesens geht meist eine Vorgeschichte von Entwicklungsstörungen des Sprechens oder der Sprache voraus. Die Leseleistungen des Kindes liegen dann unter dem Niveau, das auf Grund des Alters, der allgemeinen Intelligenz und der Beschulung zu erwarten wäre. Dies wird am besten auf der Grundlage eines individuell standardisierten Testverfahrens zur Prüfung des Lesens, der Lesegenauigkeit und des Leseverständnisses beurteilt. In den früheren Stadien des Erlernens einer Schrift kann es Schwierigkeiten geben, das Alphabet aufzusagen, die Buchstaben korrekt zu benennen, einfache Wortreime zu bilden und bei der Analyse oder der Kategorisierung von Lauten trotz normaler Hörschärfe.

    In den ersten Schuljahren wird der Grundstein für die schulische Entwicklung eines Kindes gelegt. Da das Lesen und Schreiben die Voraussetzung für das Verständnis aller anderen Schulfächer bildet, wirken sich Probleme generell immer stärker auf die Leistungsfähigkeit aus. Da manche Kinder ihre Lesebücher auswendig können, fällt ihr Unvermögen zu lesen oft lange Zeit gar nicht auf. Bei manchen Betroffenen besteht auch ein phonologisches Defizit, bei dem die gehörten Laute (Phoneme) nicht korrekt in ihre schriftliche Konvention (Grapheme) überführt werden können, worin sich auch eine kulturelle Vorbedingung des Problems zeigt denn die Schriftform in der westlichen Kultur bildet Laute oft keineswegs logisch und systematisch ab. Für das Lesen- und Schreibenlernen bildet daher die korrekte Erfassung der Phoneme als kleinste Bausteine der gesprochenen Sprache den Schlüssel, sodass man heute vermutet, dass bei Kindern mit Problemen beim Lesen und Schreiben gerade diese Erfassung erschwert ist, etwa weil der Hörreiz nicht lange genug repräsentiert wird. Dadurch können sich auch Verzögerungen der Sprachentwicklung im Kleinkindalter ergeben.

    In der späteren Kindheit und im Erwachsenenalter sind die Rechtschreibprobleme meist größer als Defizite in der Lesefähigkeit. Charakteristischerweise zeigen die Rechtschreibschwierigkeiten Fehler in der phonetischen Genauigkeit, und es scheint, dass Lese- wie Rechtschreibstörungen sich zum Teil von einer Störung in der phonologischen Analyse herleiten. In anderen Fällen kann ein Kind die Sprachentwicklung altersgemäß durchlaufen haben, jedoch noch Schwierigkeiten bei der Informationsverarbeitung akustischer Reize haben, die sich in Problemen der Klangkategorisierung, beim Reimen und möglicherweise in Defiziten der sprachlichen Lautunterscheidung, beim Behalten akustischer Sequenzen und der akustischen Assoziation zeigen. Aufmerksamkeitsschwierigkeiten, oft begleitet von Überaktivität und Impulsivität, sind ebenfalls häufig.

    Begleitende emotionale und Verhaltensstörungen sind ebenfalls während des Schulalters vorhanden. Emotionale Probleme kommen häufiger während der frühen Schulzeit vor, Störungen des Sozialverhaltens und Hyperaktivitätssyndrome treten eher in der späteren Kindheit und in der Adoleszenz auf. Siehe dazu Sekundärlegasthenie.

    Erkennen einer Lesestörung und einer Rechtschreibstörung

    Erste Anzeichen einer Lesestörung äußern sich häufig bereits in den ersten Wochen des Erstleseunterrichts. Betroffenen Kindern fallen die Unterscheidung und das Erkennen von Graphemen- und Phonemen sehr schwer und es sind demnach auch große Probleme beim Einprägen der Graphem-Phonem-Korrespondenzen zu beobachten. Dadurch lesen die Kinder häufig sehr langsam, stockend und fehlerhaft. Im weiteren Verlauf der Leseentwicklung zeichnet sich die Lesestörung oftmals durch ein stark verlangsamtes Lesen aus. Dadurch erreichen die Betroffenen häufig auch kein altersgerechtes Leseverständnis und aus dem Gelesenen können nur schwer Zusammenhänge erkannt werden.

    Eine Rechtschreibstörung tritt ebenfalls häufig gleich mit Beginn des Schriftspracherwerbs auf und kann sich zunächst durch Schwierigkeiten bei der Unterscheidung von Phonemen und Graphemen, der Graphem- und Phonemerkennung sowie der Segmentierung der Sprechwörter in einzelne Phoneme zeigen. Das Erlernen und Einprägen der Phonem-Graphem-Beziehungen ist oftmals erschwert und so kann es zu Schreibungen kommen, die in keinem oder nur geringem lautlichen Zusammenhang mit dem gesprochenen Zielwort stehen. Im weiteren Verlauf sind Schwierigkeiten im Einprägen der korrekten Schreibweise von Wortbestandteilen und Wörtern zu beobachten. Die betroffenen Kinder haben große Schwierigkeiten, orthographische Regelmäßigkeiten zu verinnerlichen und Wörter regelkonform zu schreiben. Die Art der Rechtschreibfehler erlaubt keinen eindeutigen Rückschluss darauf, ob eine Rechtschreibstörung vorliegt.

    Anzeichen für Legasthenie können daher u.a. sein

    • Schwierigkeiten beim Erlernen von Lesen und Schreiben
    • sehr langsames, fehlerhaftes Lesen
    • Auslassen von Vokalen und Endsilben
    • Silben können kaum zu Wörtern zusammengezogen werden
    • häufige Verwechslung der Buchstabenfolgen
    • Undeutliche Aussprache
    • Wörter im Text werden nur aus dem Sinnzusammenhang erraten
    • für Schreibarbeiten wird überdurchschnittlich lange gebraucht
    • Probleme beim Abschreiben von der Tafel
    • Probleme beim Niederschreiben mündlicher Anweisungen

    Bisher wurde bei einer Lese- und Rechtschreibschwäche oft nach Intelligenz unterschieden, d.h., nur wer kognitiv normal oder sogar überdurchschnittlich hoch begabt ist und sich gut artikuliert, wurde als „Legastheniker“ bezeichnet, wobei sich auch mögliche Förderungen danach richteten. Nun wurde in amerikanischen Untersuchungen nachgewiesen, dass Leseschwäche in keinem Zusammenhang mit der Intelligenz der Betroffenen steht, sondern schlecht lesenden Kinder haben vielmehr Probleme damit, den Klang von Sprache zu verarbeiten, gleichgültig, wie intelligent sie sind. Ein großer Teil der Legastheniker und Lese- und Rechtschreibschwäche-Kinder haben nämlich Wahrnehmungs- und Blickfunktionsstörungen, was beides nichts unmittelbar mit Intelligenz zu tun hat. Wenn ein Verdacht auf Legasthenie besteht, muss daher zunächst überprüft werden, ob organische Ursachen, wie z.B. Schwerhörigkeit oder Fehlsichtigkeit vorliegen. Diese müssen zuerst ausgeschlossen werden, wobei auch aktuelle psychische Belastungen etwa auf Grund von Ortswechseln, Trennungen, familiärer Leistungsdruck, schlechte Wohnsituation oder übermäßiger Medienkonsum überprüft werden sollten. Kommt keine dieser Ursachen in Frage, wird für gewöhnlich ein Leistungsprofil erfasst, wofür standardisierte Tests zur Verfügung tehen. Legasthenie wird dann diagnostiziert, wenn bei schwacher schriftsprachlicher Leistung eine deutlich höhere Intelligenzleistung vorhanden ist.

    Von Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb spricht man, wenn Lese- und/oder Rechtschreibleistungen vorliegen, die sich unter dem allgemein bzw. individuell erwartbaren Vergleichsstandard befinden (Diskrepanzkriterium). Diese manchmal auch nur vorübergehend auftretenden Schwierigkeiten können auf verschiedenen Ursachen beruhen, z.B. auf Passungsproblemen zwischen den individuellen Leistungsvoraussetzungen und den schulischen Lernangeboten. Von Lese- und/oder Rechtschreibschwäche im klinisch-psychologischen Sinn (dann meist als „LRS“ oder „Legasthenie“ bezeichnet) wird gesprochen, wenn zugrunde liegende Funktionsstörungen der Informationserfassung, Informationsverarbeitung und Informationswiedergabe angenommen werden können. Sie kann dadurch auffallen, dass die Fehlersymptomatik auch bei Optimierung des schulischen Förderangebotes überwiegend weiter bestehen bleibt (Resistenzkriterium) oder in anderer Form weiter existiert (Persistenz). Abzugrenzen ist die Störung (und damit auch das Förder- und Behandlungskonzept) von anderen rezeptiven Störungen (z.B. Seh- und Hörbehinderungen), expressiven Störungen (z.B. Sprachentwicklungsstörungen), motorischen Störungen, spezifischen psychischen Störungen, die die Kontaktnahme erschweren, allgemeiner geringer intellektuellerLeistungsfähigkeit oder anderen kognitiven Störungen, Lernrückstand, ethnisch/ kulturell bedingten Schwierigkeiten beim Zweitspracherwerb u. a.

    Der Begriff Schwierigkeiten wird zur Kennzeichnung von Symptomen im Bereich des Schriftspracherwerbs verwendet, die durch ein entsprechen des schulisches Förderangebot bewältigbar sind. Manchmal können diese Symptome auch durch vorübergehende innere (z.B. Befindlichkeitsstörungen) oder äußere (systemische Irritationen) Umstände hervorgerufen werden. Das Diskrepanzkriterium besagt, dass erwartbare Leistungen nicht erbracht werden und daher eine Lernschwierigkeit an- genommen werden kann. Die Diskrepanz kann mehr oder minder deutlich (signifikant) aus fallen. Der Vergleich mit den erwartbaren Leistungen bezogen auf die sonstigen Leistungen des Individuums, aber auch auf sonstige Leistungen der Peergroup, ist zeitgemäßer als die Differenz zur Intelligenz, weil die derzeitige Forschung einen allgemeinen Intelligenzquotienten eher problematisiert und die legasthene Symptomatik unabhängig von der Intelligenzhöhe bestehen kann. Im Allgemeinen geht es darum, dass die vorgegebene Zeitabfolge für das Er- lernen des Lesens und Schreibens nicht eingehalten werden kann. Je deutlicher diese Verzögerung auftritt, desto deutlicher fällt das Diskrepanzkriterium aus. Wenn die Schwierigkeiten trotz der speziellen schulischen Förderung – d.h. trotz ressourcenorientierter, kompensatorischer Passung – aufrecht bleiben, d. h. resistent sind (daher Resistenzkriterium) bzw. die Symptome zwar wechseln, aber die grundlegende Schwierigkeit bestehen bleibt (persistiert), dann liegt die Vermutung einer Lese-Rechtschreibschwäche nahe, die sich nicht primär oder ausschließlich auf den schulischen Lernprozess reduzieren lässt, sondern durch endogene Informationsaufnahme und -verarbeitungsstörungen erklärbar ist. Eine spezifische Förderung ist also entweder anzusetzen, wenn die bisherige Förderung nicht greift, oder wenn eine massive Symptomatik besteht.>

    Studien zeigen, dass Kinder mit Legasthenie Schwierigkeiten haben könnten, Stimmen zu verarbeiten, wenn es zusätzliche Geräuschquellen gibt. Wissenschaftler überprüften diese Theorie, indem sie 30 Kindern ein Video mit Hintergrundgeräuschen zeigten wurden gleichzeitig ersucht, die gehörten Sätze zu wiederholen. Das Ergebnis war, dass Kinder mit Legasthenie in lauten Klassenzimmern schlechter als Gleichaltrige hören, da es ihnen bei einem hohen Lärmpegel schwerer fällt, sich Informationen zu merken. Die Fähigkeit, sich wiederholende Elemente herauszufiltern, ist aber für das Hören von Sprache entscheidend, da es ein verbessertes Erkennen der Stimmlage ermöglicht. Abhilfe ließe sich z.B. dadurch schaffen, indem man die Kinder direkt vor die LehrerInnnen setzt oder sie mir Lärm dämmenden Kopfhörern ausstattet.

    Es gibt daher vermutlich auch eine Anzahl von neurologischen Ursachen der Lese-Rechtschreibschwäche, wobei ein zentrale wohl die Tatsache ist, dass das menschliche Gehirn kein eigenes Lesezentrum besitzt. Im Unterschied zum Hören lernt das Gehirn, wenn man der Stimme eines Menschen zuhört, dessen Eigenheiten und das erleichtert es, das Gesprochene zu verstehen. So lernt man beim ersten Mal etwas, das die Verarbeitung des Gehörten bei zweiten Mal vereinfacht, was etwa an einer verringerten neuronalen Aktivität erkennbar ist. Bei Legasthenikern ist nach neueren Untersuchungen dieser Anpassungseffekt deutlich geringer als bei Menschen ohne diese Einschränkung, wobei dieses Defizit schon bei Kindern im Grundschulalter nachweisbar ist. Dieses neuronale Anpassungsdefizit kann zumindest einige der Probleme von Legasthenikern erklären, denen es manchmal schwerer fällt, gesprochene Wörter korrekt zu verstehen oder Buchstaben zu erkennen, wobei je nach Situation das Gehirn die fehlende Anpassung zwar kompensieren kann, sich dabei aber mehr anstrengen muss, was nicht immer gelingt. Auch beim Lesen eines komplexen Textes macht sich diese Zusatzbelastung des Gehirns besonders bemerkbar, denn beim Lesen muss man die Buchstaben erkennen, sie zu Worten zusammenfügen und diese dann auch noch mit einer Semantik verknüpfen. Eine mangelnde Fähigkeit zur neuronalen Anpassung erhöht die Belastung des Gehirns bei diesem Prozess (Perrachione et al., 2016).

    Bei vielen Legasthenikern zeigt sich eine verringerte Aktivität bestimmter Hirnwellen im linken auditorischen Cortex, wobei diese niedrigen Gammawellen mit einer Frequenz von 30 Hertz abgeschwächt sind, während Hirnwellen höherer Frequenzen besonders aktiv sind. Marchesotti et al. (2020) haben gezeigt, dass eine gezielte Stimulation der Hörrinde Lese- und Worterkennungsprobleme von Legasthenikern Verbesser kann. Eine transkranielle Hirnstimulation gleicht dabei offenbar typische Defizite in der Hirnaktivität aus und verbessert damit auch die Lesefähigkeiten der Betroffenen. Diese Ergebnisse bestätigen auch, dass die niedrige Gammawellen-Aktivität in der Hörrinde eine wichtige Rolle bei der Legasthenie spielt.

    Da Lesenlernen daher keineswegs nur die Funktion der Großhirnrinde verändert, sondern tiefgreifende Umstrukturierungen in Bewegung gesetzt werden, die bis in die evolutionär alten Hirnteile des Thalamus und des Hirnstamms reichen, könnte bei einer Lese-Rechtschreib-Schwäche eine angeborene Fehlfunktion im Thalamus eine Rolle bei der Entwicklung einer Legasthenie spielen. Bisher ging man davon aus, dass sich Veränderungen beim Lesenlernen vorwiegend auf die äußere Großhirnrinde beschränken, die dafür bekannt ist, sich schnell an neue Herausforderungen anpassen zu können. Es kommt aber beim Lesenlernen zu einer Art Recyclingprozess im Gehirn, wobei Areale, die eigentlich von der Evolution für die Erkennung komplexer Objekte wie Gesichtern konzipiert waren, nun durch die Fähigkeit besetzt werden, Buchstaben in Sprache zu übertragen. Dadurch entwickeln sich einige Regionen des visuellen Systems zu Schnittstellen zwischen Seh- und Sprachsystem (Skeide et al., 2017). Die Hypothese aber, dass  Fehlfunktionen des Thalamus zu grundlegenden Defiziten in der visuellen Aufmerksamkeit führen könnten, und daher als eine mögliche angeborene Ursache von Störungen vermutet werden, wurde durch diese Untersuchungen zumindest in Frage gestellt, da man entdeckt hat, dass sich der Thalamus bereits nach wenigen Monaten Lesetraining grundlegend verändern kann. Es könnte daher sein, dass Betroffene nur deshalb Auffälligkeiten im Thalamus zeigen, weil ihr visuelles System weniger trainiert ist. Das bedeutet letztlich, dass Auffälligkeiten im Thalamus nur dann als angeborene Ursache infrage kommen, wenn diese sich schon vor der Einschulung zeigen.

    In einer Studie von Tschentscher et al. (2019) wurden bei Menschen mit Legasthenie und einer Kontrollgruppe Verhaltenstests durchgeführt und kernspintomographische Aufnahmen des Gehirns gemacht, wobei mit speziellen Analyseverfahren aus den kernspintomografischen Aufnahmen die Faserverbindungen zwischen dem auditorischen Thalamus und dem Planum Temporale rekonstruiert wurden. Bei den Menschen mit Legasthenie waren weniger Faserverbindungen zwischen auditorischem Thalamus und Planum temporale in der linken Gehirnhälfte vorhanden als bei der Kontrollgruppe. Im Vergleich dazu, war die Verbindung zwischen auditorischem Thalamus und Planum Temporale besonders stark bei den Menschen der Kontrollgruppe, die sehr schnell und gut im Lesetest waren. Das deutet darauf hin, dass die neuronalen Funktionen schon vor der Großhirnrinde weniger stark entwickelt sind, was für die zukünftige Forschung bedeutet, sich auf bisher weniger beachtete Gehirn Areale zu fokussieren.

    Die Fähigkeit, geschriebene Texte zu verstehen, d.h., eine kohärente mentale Repräsentation von Textinhalten zu erstellen, ist eine notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche schulische und außerschulische Entwicklung. Es ist daher ein Anliegen jedes Bildungssystems, Leseschwierigkeiten frühzeitig zu diagnostizieren und mithilfe zielgerichteter Interventionsprogramme zu fördern. Dies erfordert ein umfassendes Wissen über die kognitiven Teilprozesse, die dem Leseverstehen zugrunde liegen, ihre Zusammenhänge und ihre Entwicklung. Dabei leisten sowohl phonologische Rekodier- als auch orthographische Dekodierfertigkeiten zum Satz- und Textverstehen signifikante und eigenständige Beiträge zum Leseverstehen, wobei sich ihr relativer Beitrag über die Klassenstufen hinweg kaum verändert. Darüber hinaus zeigt sich, dass bereits ZweitklässlerInnen den Großteil geschriebener Wörter in altersgerechten Texten über orthographische Vergleichsprozesse erkennen, aber dennoch offenbar kontinuierlich phonologische Informationen nutzen, um die visuelle Worterkennung zu optimieren.

    Buchstabenabstand und Wortabstand helfen bei Leseschwierigkeiten

    Zorzia et al. (2012) konnten zeigen, dass eine einfache Anpassung in der Textformatierung durch eine Vergrößerung des Abstands zwischen den Buchstaben eines Textes Kinder mit Legasthenie hilft, schneller und fehlerfreier als zuvor zu lesen. Kinder im Alter von 8 bis 14 Jahren erhielten jeweils ein Blatt mit 24 kurzen Sätzen und sollten diese laut vorlesen, wobei in einem Teil die Sätze mit normalem Buchstaben- und Zeilenabstand gedruckt waren, im anderen Buchstaben- und Zeilenabstand verdoppelt waren bzw. die Wörter durch jeweils drei Leerzeichen voneinander abgesetzt. In einem zweiten Test sollten jeweils fünf zusammen präsentierte Buchstaben unter den selben Bedingungen identifiziert werden. Unabhängig davon, ob die Kinder zuerst den normal formatierten Text oder den mit doppeltem Abstand gesehen hatten, sie lasen den weit formatierten mit nur halb so vielen Fehlern und das Lesetempo stieg im Durchschnitt um 20 Prozent an. Dabei profitierten schlechtere Kinder mehr vom erweiterten Buchstabenabstand. Kindern einer Kontrollgruppe ohne Dyslexie schnitten bei dem weiter gesetzten Text sogar insgesamt schlechter ab als mit dem normal formatierten. Vermutlich lassen sich die positiven Ergebnisse auf eine Verringerung des Crowding-Effekts zurückführen, dass Kinder größere Probleme haben, benachbarte Buchstaben visuell voneinander zu trennen, was zu Störeffekte und damit zu Lesefehlern führt, wobei sie aber auch das Lesetempo verlangsamen. Der weitere Abstand zwischen den Buchstaben beeinflusst also die visuelle Wahrnehmungsverarbeitung positiv.

    Hörhilfen helfen beim Lesenlernen

    Wie amerikanische Studien zeigen, kann eine einfache Hörhilfe Kindern mit Legasthenie das Lesenlernen wesentlich erleichtern, denn diese hilft ihrem Gehirn dabei, wichtige Sprachinformationen aus dem Gehörten herauszufiltern und zu verarbeiten. Ein Teil der Kinder trug bei dieser Studie  ein Jahr lang während des Unterrichts einen kleinen Empfänger am Ohr, der die Stimme des mit einem Mikrofon ausgerüsteten Lehrers verstärkte, wobei sich nach der einjährigen Versuchszeit sowohl bei der Sprachverarbeitung im Hörzentrum dieser Kinder als auch in ihrer Leseleistung deutliche Fortschritte feststellen ließen. Die Hörhilfe hat vermutlich dazu beigetragen, die für die Legasthenie typischen Beeinträchtigungen beim Verstehen von Sprachlauten zu bessern. Da bei Kinder mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche ihr Hörzentrum wichtige Sprachlaute weniger effektiv umwandelt als bei Kindern ohne diese Störung, fällt es davon betroffenen Kindern unter anderem schwer, ähnlich klingende Wörter und Laute zu unterscheiden, wie etwa „Katze“ und „Tatze“. Solche Kindern lernen dadurch langsamer, Laute mit bestimmten Buchstaben zu verbinden, wobei es für Legastheniker generell schwieriger fällt, sich bei Störgeräuschen auf eine Stimme zu konzentrieren.


    Definitionen von Legasthenie

    Legasthenie ist eine Lese- und Rechtschreibschwäche, die beide Kompetenzen kombiniert oder einzeln betreffen kann. Hauptsymptome sind extrem langsames Lesen bzw. eine fehlerhafte Rechtschreibung. Vier bis sechs Prozent der Bevölkerung haben eine Legasthenie. Eine genetische Grundlage wird angenommen, d. h. sind Eltern oder Geschwister betroffen, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit auf 50 Prozent.

    Eine Lese-Rechtschreibstörung bezeichnet anhaltende und bedeutsame Schwächen im Erlernen des Lesens und/oder Rechtschreibens, wenn diese nicht auf das Entwicklungsalter, eine weit unterdurchschnittliche Intelligenz, eine nicht ausreichende Beschulung, unzureichende Beherrschung der Unterrichtssprache, widrige psychosoziale Umstände, unkorrigierte Seh- oder Hörstörungen, neurologische oder psychische Erkrankungen zurückzuführen sind.

    Wörtlich bedeutet Legasthenie Leseschwäche (legere = lat. lesen; Asthenie = griech. Schwäche).
    In Quelle 1 findet man eine allgemeine, sehr kurze Definition des Begriffs Legasthenie. „Lese- und Rechtschreibschwäche“ (Duden 2000, S. 599; Stichwort: legasthen)
    Legasthenie ist eine Teilleistungsstörung. Das Wort Legasthenie wurde von Ranschburg bereits 1916 geprägt. Er kommt aus dem Griechischen und setzt sich zusammen aus „legein“ für Lesen, „a“ für ohne und „sthenia“ für Kraft/Stärke („asthenia“ = Schwäche). Gemeint sind daher Probleme mit dem Lesen und Schreiben. Es ist aber möglich, daß nur ein Bereich von dieser Schwäche betroffen ist (Lohaus, Domsch & Fridrici 2007, S. 89)
    Wenn ein Kind trotz intensivem Üben einzelne Buchstaben nicht lesen oder schreiben kann, gewisse Buchstaben immer wieder verwechselt und das Lesen jedes Mal zu einer großen Strapaze wird und der Sinn des gelesenen auch durch große Anstrengung kaum oder nur teilweise verstanden wird, ist die Wahrscheinlichkeit daß eine Lese- Rechtschreibschwäche/-störung vorliegt sehr hoch. Diese LRS macht es einem Kind unmöglich im gleichen Tempo wie ihre Klassenkameraden das Lesen und Schreiben zu erlernen (vgl. Kamke 2003, S. 9).
    Legasthenie wird als umschriebene Entwicklungsstörung des Lesens und Schreibens definiert. Die Ursache liegt im biologischen Bereich (vgl. Rainsborough 2002, S. 75).
    „Wenn Minderbegabte beim Lesen und Schreiben Probleme haben, ist das nicht Legasthenie, sondern ganz „normale Dummheit““ (Rainsborough 2002, S. 75).
    „Die Legasthenie entspricht nicht einem allgemeinen Mangel an Intelligenz sondern betrifft spezifische Schwierigkeiten im bereich des Lesens und Schreibens. Hierdurch ist die Legasthenie nicht nur ein unterrichtliches, sondern auch ein erzieherisches Problem, da das legasthenische Kind unter seinem Nichtkönnen leidet und sich als Versager erlebt“ (Schröder 2001, S. 202).

    Siehe auch diese Definitionen Legasthenie.


     

    Ursachen der Legasthenie

    1. Erbfaktoren scheinen in vielen Fällen eine Rolle zu spielen. Verbindungen mit Chromosom 6 und 15 sind nachgewiesen, weitere werden gegenwärtig erforscht. Nach einer in der Zeitschrift „Molecular Psychiatry online“ veröffentlichten Studie des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München, des Instituts für Humangenetik der Universität Bonn, des Life and Brain Zentrum in Bonn sowie der Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitäten Marburg und Würzburg beteiligt, könnte das Gen SLC2A3 eine zentrale Rolle für die Gehirnfunktionen bei der Legasthenie spielen. Das Gen steuert die Regulation eines Glukosetransporters im Gehirn, und ist es in einer speziellen Ausprägung vorhanden, steht zu wenig Glukose zur Verfügung, was einen wesentlichen Einfluss auf die Sprachverarbeitung hat. Man vermutet einen direkten Zusammenhang zwischen diesem Gen und den beeinträchtigten Gehirnfunktionen bei Legasthenie. Geplante Studien sollen untersuchen, ob Kinder mit Legasthenie anhand biologischer Merkmale frühzeitig erkannt werden können, bevor die Symptome auftreten. Die gegenwärtigen Diagnoseverfahren der Legasthenie beruhen fast ausschließlich auf schriftlichen und anderen sprachbasierten Tests, die aber erst relativ spät durchgeführt werden können, meist kurz vor oder nach Schulbeginn. Da ein Kind aber wesentliche Grundlagen des Schrift- und Spracherwerbs bereits ab der Geburt erwirbt, geht wertvolle Zeit für die Therapie verloren.
      Neben neurobiologischen Aspekten wie Wahrnehmungsproblemen und sozialen Merkmalen spielen daher vermutlich auch genetische Aspekte eine Rolle, wobei jüngst Neef et al. (2017) mit einem Gehirn-Scan im Vorschulalter mit einer Trefferquote von 75 Prozent zeigen konnten, ob ein Kind am Ende der ersten Klasse an einer Lese-Rechtschreibschwäche leiden wird. Bei weit über hundert Kindern untersuchten man die Expression von Genen in bestimmten Hirnregionen, die beim Lesen- und Schreibenlernen eine wichtige Rolle spielen, und entdeckte, dass Kinder mit einer bestimmten Variante des Gens NRSN1, dass für die Entwicklung der Nervenzellen wichtig ist, strukturelle Unterschiede in einer Hirnregion aufweisen, die man als Visual Word Form Area bezeichnet. Dieses Areal ist für das Erkennen von Buchstaben und Wörtern zuständig, wobei sich hier Kindern schon im Kindergarten, also bevor man das Lesen überhaupt lernt, mit und ohne spätere Legasthenie voneinander unterscheiden. Daher sollten schon früh Screening-Verfahren zum Einsatz kommen, noch bevor die Schwächen beim Lesen und Schreiben bereits offensichtlich sind.
    2. Legasthenie steht in Verbindung mit Normabweichungen neuroanatomischer und hirnfunktioneller Merkmale. Es zeigte sich bei der Untersuchung von Kindergartenkindern, das diese in den gleichen Hirnregionen strukturelle Veränderungen und eine verminderte Aktivität wie ältere Kindern und Erwachsenen mit Legasthenie haben. Besonders betroffen ist dabei die Verbindung zwischen dem Occipitallappen, der hintersten Region des Großhirns und dem Temporallappen. Das macht deutlich, dass Legasthenie nicht erst mit dem Eintritt in die Schule beginnt, denn die Gehirnareale zum Verarbeiten von Sprache waren schon vorher weniger aktiviert. Diese angeborenen hinrfunktionellen Merkmale machen deutlich, dass Kinder schon ab dem Säuglingsalter auf das Lesenlernen vorbereitet werden, etwa wenn Babys die ersten Wörter, Lieder oder Geschichten hören, später als Kleinkinder anfangen zu sprechen und im Kindergartenalter hochmotiviert mit den ersten erlernten Buchstaben ihren Namen schreiben wollen.
      In einer Studie von Karin Landerl (Universität Graz), hat man nun mittels Eyetracking (Erhebung der Augenbewegungen und Elektroenzephalografie) festgestellt, dass auch Legastheniker sich zwar Wörter und Wortteile merken können und diese im Gehirn abspeichern, jedoch erfolgt der Zugriff darauf bei ihnen wesentlich langsamer. Dabei zeigten sich im Gehirn der betroffenen Kinder klare Auffälligkeiten in Struktur und Funktion, die schon vor der Geburt angelegt worden waren.
    3. Derzeit gibt es gesicherte Hinweise für eine ganze Reihe von Fehlleistungen, die mit Lese-Rechtschreibschwächen verbunden sind. Darunter sind phonologische Schwächen, Schwierigkeiten bei der zeitlichen Verarbeitung visueller und auditorischer Reize sowie deren Abhängigkeit von Aufmerksamkeitsprozessen und Schwächen der motorischen Steuerung.

    4. Unregelmäßigkeiten der Blicksteuerung und binokuläre Instabilität werden mit Lese-Rechtschreibschwächen verbunden.
    5. Seh- und Hörschwächen können bei der Entstehung von Lese-Rechtschreibschwächen ein Rolle spielen.
    6. Methoden zur Bestimmung verschiedener Verarbeitungsprozesse bei Lese-Rechtschreibschwäche wurden entwickelt.

    „Die“ Legasthenie gibt es nicht

    Nach Maryanne Wolf gibt es „die“ Legasthenie nicht, denn es wird nie eine einzige Hypothese geben, die alle möglichen Formen von Leseschwächen, insbesondere über mehrere Sprachen hinweg, erklären kann, denn nicht zuletzt entscheiden bestimmte Charakteristika der jeweiligen Landessprache darüber, an welcher Stelle Lese-Neulinge am ehesten Probleme bekommen werden. Daher muss sich jede Förderung auf all diese Unterschiede einstellen, wenn sie wirken soll, denn in Sprachen, wo die Rechtschreibung relativ verständlich ist, wie etwa im Deutschen oder im Italienischen, ist weniger das Entziffern einzelner Wörter schwierig als das zusammenhängende, flüssige Lesen ganzer Texte. Maryanne Wolf : „Was mich und meine Kollegen in der Legasthenieforschung frustriert, ist, dass dieser Kreislauf des Misserfolgs großenteils vermeidbar wäre“. Dazu ist es nötig, schon bei Kindergartenkindern Besonderheiten zu erkennen, ehe daraus Probleme entstehen, denn es gibt zahlreiche Prozesse im Gehirn bei Menschen, die sich beim Lesen schwer tun, welche anders ablaufen können. Es gibt zeitliche Verzögerungen bei jedem Verarbeitungsschritt, vom visuellen Erkennen der Buchstaben bis zur Verarbeitung von Bedeutungen, es werden in einigen Fällen wohl aber auch andere, untypische und vor allem weniger effektive Leseschaltkreise im Gehirn angelegt. Vieles beginnt schon weit vor dem ersten Schultag, also an Tagen, in denen Kinder Sprache hören, sprechen lernen, vorgelesen bekommen, Erfahrungen mit Reimen und Sprachspielen sammeln, erste Buchstaben malen. Wenn der Mensch lesen lernt, gehen in seinem Gehirn gewaltige Um- und Anbaumaßnahmen vor sich, wobei Menschen dabei die angestammte und von alters her dringend gebrauchte Fähigkeit unserer Gehirne, Gegenstände zu repräsentieren nutzen, in sie nur auf Symbole umgemünzt werden. Unser Gehirn kann lesen lernen, weil es in der Lage ist, neue Verbindungen zwischen Schaltkreisen und Strukturen herzustellen, die ursprünglich für lebenswichtige Prozesse wie das Sehen oder auch das Sprechen zuständig waren. Im Lauf der Zeit spezialisieren sich ganze Gruppen von Nervenzellen, wobei dieser Prozess automatisch abläuft. In der Folge ist es wichtig, dass die Schriftzeichen rasch und automatisch mit einem Laut verbunden und zu Wörtern zusammengesetzt werden, woraus sich allmählich die Bedeutungen herausbilden. Das Gehirn hat 100 bis 200 Millisekunden Zeit, um zu verstehen, was ein Wort ist, sodass Leseanfänger noch keine Zusammenhänge erfassen können, denn sie sind zu sehr mit dem Vorgang des Lesens selbst beschäftigt.

    Kritiker

    monieren, dass auf den einschlägigen Kongressen und Veranstaltungen zum Thema “Legasthenie“ und auch „Rechenschwäche“  medizinisch-psychologische Beiträge eines begrenzten Expertenkreises dominieren, wobei die Ursachen der Lernschwierigkeit direkt im Individuum, also im Kind angesiedelt werden. Die Lernschwierigkeiten werden also mit den speziellen genetischen und (neuro-)pyhsiologischen Merkmalen des Kindes erklärt, doch liegen maßgebliche und ursächliche Faktoren für die Entwicklung einer “Leserechtschreibschwäche” oder auch “Rechenschwäche” allerdings nicht nur im Kind selbst. Daher ist es notwendig, auch den anderen Disziplinen wie der Pädagogischen Psychologie, der Didaktik oder der Schulforschung mehr Gewicht zukommen zu lassen. Die Entstehung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten ist unbestritten multifaktoriell, d.h., es spielen unterschiedliche Bedingungen eine Rolle. Treffen mehrere erschwerende Faktoren zusammen, wird das betroffene Kind größere Probleme bis hin zu einer starken Beeinträchtigung seiner Lese- und Schreibfähigkeiten entwickeln:

    • genetische Voraussetzungen
    • Entwicklung von Vorläuferfähigkeiten wie der phonologischen Bewusstheit und der Benennungsgeschwindigkeit
    • die Sprachentwicklung eines Kindes
    • die Hörverarbeitung
    • die Sehverarbeitung
    • die Aufmerksamkeit
    • die soziale Rolle eines Kindes in der Schule und in der Familie
    • die Qualität des Bildungsangebots
    • die didaktischen Fähigkeiten der Lehrkraft
    • die mehr oder weniger anregende Lernumgebung zu Hause

    u.v.m. Es ist daher bei jedem Kind individuell herauszufinden, welche dieser Faktoren eine Rolle spielen, um eine entsprechende Unterstützung für das Kind bzw. die Familie oder die schulische Umgebung leisten zu können.

    Linktipps

    Reines Lese- und Rechtschreibtraining ist für Legasthenie-Betroffene der falsche Weg, denn trainiert werden müssen Sinneswahrnehmung und Konzentrationsfähigkeit. Der Österreichische Dachverband für Legasthenie stellt online mehr als 15000 Arbeitsblätter von diplomierten Legasthenietrainern zur Verfügung, wobei diese allerdings nicht nur für LegasthenikerInnen sondern auch für viele andere Kinder hilfreich sein können, die etwa unter Konzentrationsproblemen leiden: http://www.arbeitsblaetter.org/
    Münchner Forscher sammelten in einer Metaanalyse alle Informationen über wissenschaftlich fundierte Methoden gegen die Lese-Rechtschreib-Schwäche, wobei sie nicht nur weltweit Fachmagazine durchforsteten, sondern ForscherInnen auf dem Gebiet auch baten, ihnen Informationen zu Trainings zu schicken, die sich in Versuchen als unbrauchbar herausgestellt hatten. Darunter fanden sich Trainings, die sich vor allem auf die optische Wahrnehmung konzentrieren, d. h.,denn man vermutet vor allem Auffälligkeiten in der visuellen Wahrnehmung und Verarbeitung bei legasthenen Kindern. Wort- und Buchstabeninformationen werden demnach bei ihnen verzögert wahrgenommen und ineffektiv verarbeitet, und die für die Sprachverarbeitung zuständigen Bereiche im Gehirn werden deutlich weniger aktiviert als bei anderen Kindern. Andere Methoden konzentrieren sich hingegen eher auf eine Förderung des Gehörs oder die Schulung des Zusammenhangs von Buchstaben und bestimmten Lauten, denn auch die Fähigkeit, lautliche Segmente der Sprache zu unterscheiden und verlässlich im Gedächtnis zu speichern, ist bei Kindern mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche meist messbar beeinträchtigt. Wie Studien zeigen, werden die Gehirnareale für die Unterscheidung von Lauten bei den Betroffenen geringer aktiviert als bei anderen Kindern. Therapeuten, die auf eine Schulung des Hörens allein setzen, spielen den Kindern Töne vor und verringern nach und nach die Abstände zwischen ihnen, wobei die Idee dahinter ist, dass das Hören der Unterschiede zwischen zwei Tönen verfeinert wird. Es zeigte sich bei der Metaanalyse, dass alle wirksamen Methoden, die bisher zur Verfügung stehen, nur bis zu einem gewissen Grad effektiv sind. Eindeutig belegbare Erfolge konnte demnach nur eine Methode vorweisen, die mehrere Elemente kombiniert: die sogenannte „phonics instruction“. Hierbei geht es vor allem um das intensive Üben der Laut-Buchstaben-Zuordnung, zusammen mit einem kontinuierlichen Training des Leseflusses. Dazu gehört etwa die Zerlegung von Wörtern in Silben und deren einzelne Laute sowie das Zusammenziehen von mehreren Lauten zu Worten. Bei allen anderen Programmen gelang entweder der Transfer zum Lesen und Schreiben nicht richtig, oder die Technik war für einen solchen Transfer ungeeignet, etwa beim Hörtraining. Denn die pure Tonunterscheidung ist bei Legasthenie offensichtlich gar nicht das Problem, daher kann ein solches Training auch nicht wirksam helfen. Alle Ansätze, die die Laut-Buchstaben-Zuordnung trainieren, waren dagegen hilfreich, wobei längere Förderungszeiten nachhaltiger sind als kürzere Trainings.

    Link: http://www.kjp.med.uni-muenchen.de/forschung/legasthenie/ueberblick.php (13-12-21)

    Kurioses zu Lese-Rechtschreib-Schwäche

    Es werden auch Homöopathika zur Behandlung einer Lese-Rechtschreib-Schwäche von einer hier nicht genannten Quelle empfohlen:

    • Agaricus: Das Kind ist lebhaft, zappelig und nervös, langsame Entwicklung mit spätem Laufen- und Sprechenlernen, albernes, kindisches Verhalten, mag nicht angesehen oder angesprochen werden.
    • Argentum nitricum: Das Kind ist zappelig und unruhig, es hat große Angst vor Klassenarbeiten oder Auftritten, zeigt Stottern, Wortfindungsstörungen, Konzentrationsschwäche, kann sich nichts merken.
    • China officinalis: Das Kind neigt zu Tagträumen, es hat hochfliegende Träume, die es aber nicht umsetzen kann, sowie Schwierigkeiten, sich einzelne Buchstaben und deren Aussprache zu merken. Schnell erschöpft beim Lesen, verwechselt Buchstaben in Wörtern oder lässt Buchstaben aus.
    • Lycopodium: Das Kind neigt zu prahlerischem und dominantem Verhalten gegenüber Schwächeren, macht viele Flüchtigkeitsfehler, verwechselt Buchstaben und lässt Wörter aus. Lässt sich trotz offensichtlicher Fehler nicht belehren, hat große Angst, sich vor der Klasse zu blamieren.
    • Stramonium: Das Kind leidet unter starken Ängsten und plötzlichen, unkontrollierten Wutausbrüchen, es ist ungern allein und fürchtet sich vor Hunden sowie in der Dunkelheit. Beim Lesen verschwimmen die Buchstaben vor den Augen, verwechselt beim Schreiben Buchstaben und lässt Wörter aus, hinzu kommt ausgeprägtes Stottern.

    Literatur

    Duden (2000). Duden. Die deutsche Rechtschreibung. 22. Auflage. Mannheim: Dudenverlag.
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    http://www.zeit.de/wissen/2010-07/proust-lesen-gehirn (10-07-16)
    http://www.welt.de/gesundheit/psychologie/article125594187/Nur-eine-Methode-hilft-bei-Legasthenie-wirklich.html 814-03-10)
    https://www.news4teachers.de/2018/04/legasthenie-und-dyskalkulie-an-den-rand-gedraengt-warum-teilleistungsstoerungen-zu-wenig-beachtung-finden/ (18-04-30)
    https://www.kleinezeitung.at/karriere/5490104/Legasthenie_Neue-Erkenntnisse_Lernschwaeche-bei-Volksschuelern (18-09-05)


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