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Perfektionismus

    Mit all der Mühe, mit der wir manche unserer Fehler verbergen,
    könnten wir sie uns leicht abgewöhnen.
    Michelangelo

    Perfektionismus ist ein psychologisches Konstrukt, das versucht, interpersonelle Differenzen bezüglich des Strebens nach möglichster Perfektion und Fehlervermeidung zu erklären. Für eine gesunde Entwicklung von Kindern ist deren Leben oft viel zu schnell getaktet, denn überall herrscht der Anspruch, dass man etwas Besonderes leisten muss. Damit tappen schon Kinder in die psychologische Falle der Perfektion, wobei meist Erwachsene ihren Anspruch nach Perfektion auf ihre Kinder übertragen. Viele Kinder und Jugendliche haben einen komplett verplanten Tagesablauf, wobei sich eine Verpflichtung an die nächste reiht und Phasen, in denen gar nichts passiert, kommen im Leben von Kindern kaum noch vor, wofür auch moderne Medien verantwortlich sind. Kinder lernen schon früh im Elternhaus und in der Schule, dass von ihnen gute Leistungen erwartet werden und dass diese Leistungen von anderen auch bewertet werden. Manche verinnerlichen diesen Leistungsdruck so sehr, dass sie auch später im Leben alles besonders gut machen wollen. Solange jemand zwar das Beste erreichen möchte, aber sich selbst und anderen auch Fehler zugesteht, profitiert er von seinem Perfektionismus, doch gibt es auch Formen des Perfektionismus, unter denen die Betroffenen, ihr Selbstwert und ihre soziale Umgebung leiden, denn wenn jemand in allen Lebensbereichen extrem hohe Maßstäbe hat und an diesen rigide festhält, weil der eigene Selbstwert davon abhängt, dann wird das zum Problem. Viele Menschen entwickeln dann die Vorstellung, sie würden von anderen nur geliebt und akzeptiert, wenn sie permanent fehlerlose Bestleistungen erbringen, sodass sich die Betroffenen vor allem auf ihre Fehler konzentrieren und die eigenen Erfolge kaum mehr beachten. Können sie dann ihren eigenen hohen Maßstäbe nicht genügen, beginnen sie darunter zu leiden und entwickeln daraufhin Ängste, aber auch Prokrastination ist eine typische Folge dieser belastenden Form des Perfektionismus. Perfektionismus in Verbindung mit Kontrollverlust führt bei manchem Menschen dazu, dass sie zu viel Energie darauf verwenden müssen, um ein Mindestmaß an Kontrolle in ihrem Leben aufzubauen und vor allem zu behalten. Oft werden durch diese Sucht nach Kontrolle dadurch andere Menschen eingeengt, sodass sich die Selbstkontrolle zu einer sozialen Kontrolle mit Furcht vor sozialem Kontrollverlust ausweitet.

    Nach Ansicht mancher Experten streben immer mehr Menschen danach, stets das Optimum aus allem herauszuholen und bauen dadurch  Leistungsdruck auf. Grundsätzlich ist das Streben nach Perfektion nicht per se schlecht oder von vornherein krankmachend, sondern Perfektion hilft vielen Menschen dabei, ihren Alltag bestmöglich zu bewältigen und spornt sie letztlich auch an, erfolgreich zu sein. Doch es gibt zahlreiche negative Facetten dieses Konstrukts. Beim Perfektionismus der Menschen spielen Themen wie Spitzenleistung, Makellosigkeit und Fehlerfreiheit eine zentrale Rolle, wobei man funktionale (perfektionistisches Streben) und dysfunktionale (perfektionistische Besorgnis) Perfektionisten unterscheiden kann. Die erste Gruppe erfreut sich an ihrer Spitzenleistung, die zweite hadert damit, was wieder nicht richtig funktioniert hat. Der normale Perfektionismus kennzeichnet leistungsorientierte Menschen, die einfach ihr Bestes geben wollen und sich dafür auch ins Zeug legen, aber sie machen sich keine übertriebenen Gedanken darüber, wenn das Ergebnis einmal nicht perfekt ist. Dieser Perfektionismus mit einer hohen Ausprägung auf der Dimension des perfektionistischen Strebens und aber eine niedrige Ausprägung auf der Dimension der perfektionistischen Besorgnis wird daher auch als gesunder oder funktionaler Perfektionismus bezeichnet, während eine hohe Ausprägung auf beiden Dimensionen mit einem ungesunden oder dysfunktionalen Perfektionismus in Zusammenhang gebracht wird. Bei dysfunktionalen Perfektionisten ist der Selbstwert stark verknüpft mit der eigenen Leistung und der Anerkennung durch andere, d. h., man wertschätzt sich nicht aus sich selbst heraus, sondern erst aus dem Urteil der anderen. Aus Angst vor negativer Bewertung schieben viele Betroffene schwierige Aufgaben vor sich her und vermeide sie womöglich irgendwann (Prokrastination), was zu Leistungseinbußen und negativem Feedback führt, also genau zu dem, was der Perfektion vermeiden wollte. Für dysfunktionale Perfektionisten ist Anerkennung daher enorm wichtig, daher sollte man sie nicht einfach kritisieren, denn das macht ihre Situation eher schlimmer und kann sie in einen Teufelskreis treiben und psychische Erkrankungen begünstigen. Die Standards eines dysfunktionalen Perfektionisten sind extrem hoch, meist unrealistisch hoch und deshalb kaum zu erreichen, denn er hat gleichzeitig panische Angst, Fehler zu machen und Erwartungen nicht zu erfüllen, wobei  das Prinzip „alles oder nichts“ gilt. Für ungesunde Perfektionisten gibt es keinen Graubereich, denn sie urteilten gnadenlos über eigene Fehler oder Versäumnisse, d. h., entweder ist etwas ein absoluter Erfolg oder ein totales Versagen. Unter Perfektionisten ist eine Neigung zur Rumination häufig anzutreffen.

    Die Grenze zwischen normalem und dysfunktionalem Perfektionismus ist dabei nicht exakt zu ziehen, dennoch gibt es gewisse Warnzeichen wie ständige Unzufriedenheit. Auch ein permanent hoher Stresspegel verbunden mit fehlenden Bewältigungsstrategien können ein Anzeichen sein, wobei nicht zuletzt ist auch das persönliche Umfeld ein guter Spiegel ist, denn dysfunktionale Perfektionisten stellen nicht nur unrealistische Ansprüche an sich selbst, sondern auch an ihre Familie, Freunde und Kollegen, was über kurz oder lang zu Konflikten führt. Im Übermaß kann dysfunktionaler Perfektionismus nicht nur unglücklich sondern auch krank machen und im schlimmsten Fall zu Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen, Burn-out und Alkoholismus führen.

    Perfektionismus ist nach neueren Untersuchungen ein Risikofaktor für Suizid, denn der ständige Druck, perfekt sein zu wollen oder zu müssen, kann bei manchen Menschen zu einem Gefühl von Hoffnungslosigkeit führen, sodass Perfektionisten zu hohem Stress neigen und dazu, Misserfolge zu generalisieren, also von einem ungünstigen Ereignis auf dauerndes Unglück in ihrem Leben zu schließen. Perfektionisten könnten zudem Selbstmordabsichten besser verbergen und präzise und gründlich planen, sodass die „Erfolgsquote“ steigt.

    Wie bei vielen Persönlichkeitsmerkmalen vermutet man eine erbliche Komponente, wobei vor allem aber das Elternhaus eine bedeutsame Rolle spielt, d. h., Perfektionisten stammen meist aus Familien, in denen hohe Standards wichtig sind. Ob sich daraus ein dysfunktionaler Perfektionismus entwickelt, hängt allerdings davon ab, wie die Eltern mit Misserfolgen des Kindes umgehen, ob sie etwa mit Missbilligung oder Strafe reagieren. Solche Kinder versuchen dann immer wieder aufs Neue, sich Anerkennung zu verschaffen, um sich dadurch die Liebe der Eltern zu sichern. Sie lernen, dass das Beste nicht gut genug ist. Man geht daher davon aus, dass ein Grundstein in der famalialen Erziehung gelegt wird, denn wird schon in der Familie ein hohes Maß an Perfektion vorgelebt, bekommt das Kind von klein auf vermittelt, dass es nicht erlaubt ist, Fehler zu machen, d. h., Perfektionismus ist in hohem Maße auch erlernt, was aber auch bedeutet, dass man ihn wieder verlernen kann.

    Die Psychologin Michaela Schöny gibt  einige Ratschläge, wie man der Perfektionismusfalle entkommen kann:

    • Überlegen Sie sich, was passieren würde, wenn Sie diese oder jene Aufgabe nicht perfekt lösen können? Würde wirklich die Welt untergehen?
    • Schauen Sie sich einmal genau an, welche Anforderungen Sie eigentlich an sich selbst und an andere Menschen stellen. Und wägen Sie dann ab: Welche sind wichtig, und wo wäre es vielleicht angebracht, die Standards anders zu definieren. Ist es etwa wirklich so wichtig, dass die Serviette immer genau an diesem oder jenem Punkt zu liegen hat?
    • Lassen Sie am Abend ihren Tag noch einmal Revue passieren und konzentrieren Sie sich dabei auf all das, was Sie geschafft haben und was ihnen gelungen ist. Nicht darauf, was unerledigt geblieben ist oder wo Sie vermeintlich gescheitert sind.
    • Fangen Sie damit an, sich Fehler zu erlauben und sich diese auch zu verzeihen.
    • Versuchen Sie, Stress aktiv zu bewältigen – etwa mit Bewegung, Meditation, Musik – statt ihn zu verdrängen. Hören Sie auf die Signale Ihres Körpers!
    • Bauen Sie Ruhephasen in ihren Alltag ein, und üben Sie sich regelmäßig in Achtsamkeit. Dabei konzentriert man sich ausschließlich auf das Hier und Jetzt und fokussiert sich auf den Moment – ohne die Dinge, die gerade passieren, zu bewerten.
    • Machen Sie sich von Zeit zu Zeit bewusst, dass nicht immer alles zu 100 Prozent toll sein muss, dass es auch einmal chaotisch zugehen darf. Das bringt mehr Genuss und Gelassenheit ins Leben. Kinder sind da ein gutes Vorbild, die sind unbeschwert und auch dann glücklich und zufrieden, wenn nicht alles picobello ist.

    Perfektionismus als Krankheit?

    Nach amerikanischen Untersuchungen (Curran & Hill, 2019) ist der Umstand, dass Menschen sich heute immer stärker unter Druck fühlen und stets das Optimum aus sich herausholen zu wollen, nicht nur eine diffuse Befindlichkeit, sondern Perfektionismus ist heute deutlich stärker ausgeprägt als in früheren Generationen. In einer Meta-Studie an College-Studenten aus den USA, Kanada und Großbritannien wurden Daten (Multidimensional Perfectionism Scale) über einen Zeitraum von fast dreißig Jahren verglichen.
    Demnach gibt es drei Kategorien des Perfektionismus: das selbstorientierte irrationale Begehren, perfekt zu sein, das sozial auferlegte, also das Gefühl, mit exzessiven Erwartungen anderer konfrontiert zu sein, und den andere bezogen bezogenen Perfektionismus, also unrealistische Erwartungen an seine Mitmenschen zu setzen. In allen drei Kategorien nahmen die Scores im Zeitraum zwischen 1989 und 2016 zu, in der ersten und dritten um zehn bzw. sechzehn Prozent, beim sozial auferlegten Perfektionismus betrug der Anstieg sogar dreiunddreißig Prozent.

    Einer der verantwortlichen Faktoren ist vermutlich die vermehrte Nutzung sozialer Medien, was junge Erwachsene unter Druck setzt, sich im Vergleich zu anderen zu perfektionieren, was sie unzufrieden mit ihrem Körper macht und die soziale Isolation verstärkt. Der Drang, Geld zu verdienen, der Druck, eine gute Ausbildung zu erhalten, und das Setzen von hochgesteckten Karrierezielen sind weitere Bereiche, in denen die Jugendlichen von heute Perfektionismus an den Tag legen. Übrigens ist gleichzeitig mit dem Perfektionismus der jungen Menschen auch die Erwartungen der Eltern an ihren Nachwuchs kontinuierlich gewachsen, auch wenn es wohl keinen messbaren direkten Zusammenhang zwischen elterlichen Ansprüchen und dem Perfektionismus bei jungen Menschen gibt. Eher geht der Anstieg des Perfektionismus der jungen Menschen auf den wachsenden gesellschaftlichen Druck in einer globalisierten Welt zurück. Insgesamt stellt die Meritokratie – also die zentrale Gerechtigkeitskonzeption der westlichen Gesellschaften, dass die gesellschaftliche Position wie Bildungsabschlüsse, Einkommen, Prestige von der persönlichen Leistung des Einzelnen abhängt – für junge Menschen ein starkes Bedürfnis dar, sich zu bemühen, Leistung zu erbringen und im modernen Leben etwas zu erreichen, wobei junge Menschen darauf reagieren, indem sie zunehmend unrealistische Erwartungen an sich selbst in Bezug auf Ausbildung und Beruf stellen. Diese Zunahme des Strebens nach Perfektionismus kann sich teilweise auf die psychische Gesundheit der StudentInnen auswirken, also in Form von Depressionen, Angstzuständen und Selbstmordgedanken.

    Eine Metanalyse (Smith et al., 2019) von über siebzig Studien zum Thema hat festgestellt, dass der Perfektionismus seit den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen hat, vor allem in der jüngeren Generation in westlichen Ländern. Die Ursachen für den wachsenden Perfektionismus sind vielfältig, etwa kritische und kontrollierende Eltern, aber auch die Tatsache, dass viel Wert auf Leistung und sozialen Rang gelegt wird und darauf, eigene Interessen durchzusetzen zu müssen. Je älter Perfektionisten werden, desto mehr psychische Probleme zeigen sie und sind nicht selten Burnout-gefährdet. Die Ergebnisse stützen die Theorien, die darauf hinweisen, dass der Perfektionismus neurotische und nicht-neurotische Züge aufweist.


    Pauschal kann man Perfektionismus nicht als schädlich bezeichnen. Ohne Perfektionismus würde unsere Gesellschaft nicht funktionieren. Wo Qualität im Fokus steht und wenn es um Menschenleben geht, zum Beispiel in der Medizin oder Flugzeugtechnik, sind Perfektionisten unabdingbar. Leidet jemand aber unter Versagensangst und dysfunktionalem Perfektionismus, sollte man frühzeitig Hilfe suchen.
    Christine Altstötter-Gleich, Psychologin


    Übrigens empfiehlt Lothar Seiwert einen Urlaub vom Perfektionismus„, wenn er in seinem E-Newsletter No 26,06/2011 schreibt: „Verabschieden Sie sich in den Ferien nicht nur von Ihrer Arbeit, sondern auch von der Erwartung, dass im Urlaub alles 100-prozentig sein muss: das hippe Hotel, der Strand, die Stadt, das Wellnessprogramm und die Familienharmonie. Befreien Sie sich von dem Druck, in der freien Zeit all das nachholen zu müssen, wozu Sie sonst nicht kommen. Nehmen Sie sich zwei oder drei Dinge vor, die Sie im Urlaub gern tun oder sehen würden, und verplanen Sie nicht schon vorher die ganzen Ferien. Lassen Sie auch Ihren Mitreisenden die Freiheit, in den Tag hineinzuleben und spontan das zu tun, wozu sie Lust haben. So wird der Urlaub stressfrei und erholsam für alle.“

    Beispiele für einen ungesund gelebten Perfektionismus, der sich im Nichtloslassenkönnen äußert, fanden sich im zeitblüten-weblog:

    • Der Familienvater, der grundsätzlich den halben Sonntag am Rechner sitzt.
    • Die berufstätige Mutter, die generell nach einem langen Arbeitstag noch die Wohnung putzt.
    • Die Freundin, die nie einfach nur zum Käsebrot einlädt, sondern stets zum 5-Gänge-Menü.
    • Der Partner, der wirklich jeden Abend noch lange von der Arbeit erzählt.
    • Der Nachbar, bei dem es immer aussieht wie im Einrichtungskatalog.
    • Die Mutter, die den ganzen Tag hinter ihren Kindern her ist, damit sie stets die Hausaufgaben machen und pünktlich zum Tennis-/Geigen-/Ballettunterricht kommen.
    • Die Freundin, die tagelang verzweifelt und bedrückt ist, wenn ihr in der Arbeit ein Fehler unterlaufen ist.

    Literatur

    Curran, T. & Hill, A. (2019). Perfectionism Is Increasing Over Time: A Meta-Analysis of Birth Cohort Differences From 1989 to 2016. Psychological Bulletin, 145, 410.
    Smith, M. M., Sherry, S. B., Vidovic, V., Saklofske, D. H., Stoeber, J., & Benoit, A. (2019). Perfectionism and the Five-Factor Model of Personality: A Meta-Analytic Review. Personality and Social Psychology Review, doi:10.1177/1088868318814973.
    Stangl, W. (2019, 20. Dezember). Das Streben nach Perfektionismus bei jungen Menschen und die Folgen. Psychologie-News.
    https:// psychologie-news.stangl.eu/4393/das-streben-nach-perfektionismus-bei-jungen-menschen-und-die-folgen.
    http://www.zeitblueten.com/news/perfektionismus-perfektionisten/ (13-04-20)
    OÖN vom 23. April 2015
    Der Standard vom 2. Jänner 2018


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