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Reziprokes Handeln

    Es ist schlimm, erst dann zu merken,
    dass man keine Freunde hat,
    wenn man Freunde nötig hat.
    Plutarch

    Ein Freund ist ein Mensch,
    vor dem man laut denken kann.
    Ralph Waldo Emerson

    Für mich ist es das Wichtigste,
    überall Freunde zu finden und möglichst ein italienisches Restaurant.
    Um den Tisch herumsitzen, Unsinn reden,
    essen, trinken, lachen – das ist die Hauptsache.
    Marcello Mastroianni

    Reziprokes Handeln bzw. reziprokes Verhalten beschreibt in der Sozialpsychologie ein Handeln nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit, bei dem in dieser Form der Interaktion ein möglichst gleichwertiges Geben und Nehmen beim Erbringen von Leistungen und Gegenleistungen stattfindet (Gütertausch).

    In den Stufen der sozial-kognitiver Entwicklung nach R. L. Selman (1984) wird das im Alter von sechs bis zwölf Jahren erreicht, wobei sich ein reflexives Verständnis der Subjektivität entwickelt, d. h., das eigene Handeln wird aus dem Blickwinkel des anderen reflektiert und umgekehrt dessen Reaktion auf das eigene Handeln vorweggenommen. Voraussetzung für enge Freundschaften ist dabei die Fähigkeit zur Koordination von Perspektiven und die Fähigkeit zur Selbstreflexion, was bedeutet, die Möglichkeit das Selbst mit den Augen eines anderen zu sehen. Erst auf diesem Entwicklungsniveau entsteht die Einsicht, dass in einer Beziehung die Bedürfnisse beider Partner koordiniert werden müssen, um gemeinsame Ziele zu erreichen.

    Aus den ethnographischen Untersuchungen geht hervor, dass sich die Menschen oft auch auf Beziehungen außerhalb ihrer eigenen Gruppe verlassen müssen, um Zugang zu nicht-lokalen Ressourcen zu erhalten, doch weiß man wenig darüber, wie die Menschen solche Kooperationspartner außerhalb ihrer eigenen Gruppe auswählen. Die Wahl der von gruppeninternen Partnern beruht meist auf Merkmalen, die mit einer besseren Zusammenarbeit verbunden sind, also etwa Vertrauenswürdigkeit und Produktivität. Daher stell sich die Frage, ob die Auswahl von Partnern außerhalb der eigenen Gruppe auf denselben Kriterien wie innerhalb der Gruppe beruht. Pisor & Gurven (2018) haben an einer kleinen bolivianischen Stichprobe untersucht, nach welchen Kriterien diese ihre Freunde auswählt, die einer anderen Gruppe angehören. Es zeigte sich dabei, dass Menschen ähnliche Kriterien anwenden wie bei der Auswahl von Freunden innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft, denn in beiden Fällen zählen vor allem individuelle Eigenschaften, die die Kooperation fördern können. Es zeigte sich aber auch, wenn es darum geht, begrenzte Ressourcen aufzuteilen, spezielle vorurteilshafte Gruppeneigenschaften diese Wahl beeinflussen. Offenbar können Gruppengrenzen nur dann überwunden werden, wenn zwei Gruppen eine gemeinsame Basis finden.

    Studien legen auch nahe, dass die Menschen glauben, sie hätten mehr soziale Unterstützung von jener Gruppe von Freunden oder Familienmitgliedern, die sich alle untereinander kennen und freundschaftlich miteinander verbunden sind, als von einer gleich großen Anzahl von anderen Freunden, die nicht miteinander freundschaftlich eng verbunden sind. Offenbar ist ein Netzwerk von Menschen allein, an das man sich anlehnen kann, nur ein Teil dessen, was soziale Unterstützung für einen Menschen vorteilhaft macht, vielmehr je mehr Zusammenhalt unter diesen besteht, also je dichter dieses Netzwerk ist, desto mehr hat man das Gefühl, dass man sich auf ihre Unterstützung verlassen kann. Es ist also auch wichtig, dass die eigenen Freunde sich aufeinander verlassen können, so wie man sich auf sie verlässt. Auch spielt die Dichte eines sozialen Netzwerks in einer bestimmten Situation, in der Menschen Hilfe brauchen, eine wichtige Rolle. Offenbar ist nicht nur die Anzahl der Freunde und der Familie, die man in seinem Netzwerk hat, wichtig, sondern auch wie stark diese Freunde untereinander verbunden sind.

    Die meisten Menschen entwickeln in ihrem Leben daher das Bedürfnis, sich für einen Gefallen erkenntlich zu zeigen, d. h., Menschen sind motiviert, für eine ihnen erbrachte Leistung später eine Gegenleistung zu erbringen. Rein ökonomisch erscheint reziprokes Handeln auf den ersten Blick unvernünftig, denn man hat zunächst keine Garantie, dass man jemals etwas für sein Geben zurückbekommt. Vermutlich hat sich reziprokes Handeln aber aus evolutionstheoretischer Perspektive als vorteilhaft erwiesen, indem es den Austausch von Ressourcen und Ideen gefördert hat, sodass sich Systeme gegenseitiger Unterstützung und Handelns entwickeln konnten. Des weiteren kann auf der Beziehungsebene durch eine solche Reziprozität Vertrauen und Respekt aufgebaut werden.

    Reziprokes Handel ist nach neueren Untersuchungen (Schweinfurth & Taborsky, 2018) auch in der Tierwelt verbreitet, denn so betreiben Ratten einen Tauschhandel mit Dienstleistungen. Man konnte experimentell nachweisen, dass weibliche Wanderratten Artgenossinnen helfen, indem sie ihnen entweder Futter beschafften oder Fellpflege betreiben. Dabei konnten sie, wenn sie vorher von der Partnerin Futter bekommen hatten, diese im Gegenzug putzen, oder sie konnten diese mit Futter versorgen, nachdem sie von ihr geputzt worden waren. Die Ratten machten dabei ihre Hilfsbereitschaft von der Erfahrung abhängig, ob ihnen zuvor von genau jener anderen Ratte geholfen worden war.

    Siehe auch Reziprozität.

    Literatur

    Pisor, A. & Gurven, M. (2018). When to diversify, and with whom? Choosing partners among out-group strangers in lowland Bolivia. Evolution and Human Behavior, 39, 30-39.
    Schweinfurth, M. K. & Taborsky, M. (2018). Reciprocal Trading of Different Commodities in Norway Rats. Current Biology, doi: 10.1016/j.cub.2017.12.058.
    Selman, R. L. (1984). Die Entwicklung des sozialen Verstehens. Frankfurt: Suhrkamp.


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