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Neurodidaktik

    Neurodidaktik ist der Versuch, neurobiologische und psychologische Erkenntnisse fürs Lehren und Lernen zu nutzen, wobei zwar die Gehirnforschung heute einiges darüber sagen kann, was auf dieser physiologischen Ebene im Gehirn pasiert, wie Menschen lernen. Im Grunde liefert die Neurodidaktik inhaltlich nichts Neues, denn ein guter Lehrer weiß seit zweieinhalbtausend Jahren oder viel länger, was er richtig macht. Die Hirnforschung kann gegenüber der Psychologie und beide gegenüber dem guten Lehrer nun aber erklären, warum ein guter Lehrer gut ist und ein schlechter Lehrer schlecht ist, wobei es auch für die guten Lehrer nützlich sein kann zu erfahren, warum sie das gut machen.

    Manche Gehirnforscher gehen so weit zu behaupten, es bedürfe einer umfassenden Kenntnis über die im Gehirn ablaufenden Prozesse, um Lernumgebungen, also letztlich die Schule, effizient gestalten zu können, und dass nur ein Lehrer, der weiß, wie das Gehirn funktioniert, besser lehren kann. Dahinter steckt die äußerst verkürzende Vorstellung, dass ein Kind gleich seinem Gehirn ist, doch ein Mensch ist mehr als das Gehirn, in dem die Denkprozesse stattfinden. Manche Neurowissenschaftlern denken, dass die Pädagogik zur Neuropädagogik umfunktioniert werden muss. Dabei gehen bei genauerer Betrachtung die Erkenntnisse aus der Gehirnforschung über die Bedingungen des Lernens und Lehrens sowohl theoretisch als auch praktisch nicht über die bisherigen Erkenntnisse der psychologischen Forschung hinaus. Zentrale These der Neurodidaktiker ist die vom gehirngerechten Lernen, das in den Bildungseinrichtungen praktiziert werden sollte.

    Es empfiehlt sich in diesem Zusammenhang die Lektüre des Artikels „Die Stunde der Propheten“ von Martin Spiewak in der Zeit. Er kritisiert in fundierter Weise den aktuellen Hype um Neuropädagogik oder Neurodidaktik an drei immer wieder in den Medien auftauchenden Forschern, die teilweise gar nicht mehr in der Forschung tätig sind, aber ihre übergeneralisierten Hypothesen als Tatsachen einem staunenden Publikum präsentieren. Spiewak schreibt unter anderem: „Wann immer Gerald Hüther (Jedes Kind ist hoch begabt), Jesper Juul (Schulinfarkt) oder Richard David Precht (Anna, die Schule und der liebe Gott. Der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern) ein Buch übers Lernen schreiben, ist der Verkaufserfolg sicher. Dabei senden diese Bücher eine unheilvolle Botschaft aus. Sie erklären unsere Schulen für irreparabel krank und beleidigen damit unzählige Lehrer, die sich anstrengen, den Schulalltag zu verbessern.“ – Der „Verweis auf die Hirnforschung spielt bei all den neuen Bildungspropheten eine zentrale Rolle. Doch was kann die Verknüpfung von Neurowissenschaft und Didaktik leisten? Und wie ist es um die Expertise der so dramatisch auftretenden Bildungskritiker bestellt? Das lässt sich an ihrem bekanntesten Vertreter Gerald Hüther – der auch anderen wie Precht die Stichworte liefert – exemplarisch zeigen. Als Mitbegründer von „Schule im Aufbruch“ ist Hüther deren wissenschaftliches Aushängeschild. Tatsächlich ist die Universität Göttingen eine gute Adresse für die Neurowissenschaften. Dort gibt es sowohl ein Exzellenzcluster als auch eine Graduiertenschule zum Thema. An keiner dieser Einrichtungen aber ist Hüther beteiligt. Auch in den anderen neurowissenschaftlichen Instituten taucht sein Name nicht auf – dafür aber an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie als einer von drei Dutzend „wissenschaftlichen Mitarbeitern“. Hinter seinem Professorentitel verbirgt sich eine außerplanmäßige (apl.) Professur. Mit ihr dekorieren Universitäten habilitierte Mitarbeiter, die ohne reguläre Hochschullehrerstelle bleiben. Dabei gibt es weder eine Disziplin namens „neurobiologische Präventionsforschung“ noch eine entsprechende Forschungseinrichtung. Wer in Göttingen danach sucht, findet am Ende eines langen Flures nur Raum E105 – das Zimmerchen von Gerald Hüther. Bis vor Kurzem suggerierte die Homepage der „Zentralstelle“, sie sei eine Einrichtung der Hochschule. Das jedoch ist falsch. Laut Universität war sie allein ein „Projekt von Herrn Prof. Hüther“. Das Gleiche gilt für seine Vorträge, Stiftungsaktivitäten und Bücher.“

    Gehirngerechtes Lernen?

    Unter dem Deckmantel neurobiologischer Forschung breitet sich in den letzten Jahren eine Ökonomie des Lernens aus, wobei neurobiologische Ansätze jedoch von einem rudimentären Verständnis der Sachverhalte wie Lernen und Bildung ausgehen. Durch diese wissenschaftstheoretisch bedenkliche kausale Übertragung von Hirnaktivität auf ein solch rudimentäres segmentiertes Verständnis von Lernen entstehen Ergebnisse, die nur trivial sein können, weil sie dem Alltagsverständnis der Probanden und Probandinnen und der NeuroWissenschaftler und Wissenschaftlerinnen entspringen. Das Problem der Neurowissenschaften ist nicht, dass sie zu den vergleichsweise noch jungen Wissenschaften zählen, von denen also mit der Zeit weiterhin größere Erkenntnisse auf den humanwissenschaftlichen Gebieten zu erwarten sind, sondern ihr Problem ist ein genuin begriffliches. Sie sind nämlich stets darauf angewiesen, dass bereits außer ihrer selbst geklärt sein muss, was Bildung und Lernen überhaupt sind, wenn sie anfangen, diesen Gebrauchsweisen ein neuronales Korrelat zuzuweisen. Nur weil wir bereits Vorstellungen haben, was wir unter Lernen verstehen oder verstehen wollen, können sich Neurowissenschaftler auf die Suche nach einem neuronalen Korrelat machen. Dabei aber entsteht zwangsläufig eine semantische Differenz, denn nur auf den ersten Blick erscheint es so, als redeten sie von Gleichem, auf den zweiten Blick wird hingegen ersichtlich, dass es einer operationalen Zurichtung der Begriffe bedarf, damit die Transformation in das neuronale Sprachnetzwerk überhaupt gelingt. Dies führt dazu, dass Ergebnisse präsentiert werden, die einer Übersetzung bedürfen, um verständlich zu machen, was nun tatsächlich ausgesagt werden kann und was vor allem nicht. Die Ausrichtung von Lernprozessen an neurobiologische Reduktionen schafft nur noch Filterblasen, die am Ende nur die eigenen Bedürfnisse und Hinsichten perpetuieren (Dörpinghaus, 2019).

    Literatur

    Dörpinghaus, A. (2019). Die Hirnforschung soll neue Erkenntnisse zum Phänomen der „Bildung“ liefern. Doch greift das zu kurz.
    WWW: https://www.forschung-und-lehre.de/forschung/mein-gehirn-lernt-aber-nicht-ich-1957/ (19-07-16)
    Spiewak, M. (2013). Die Stunde der Propheten.
    WWW: http://www.zeit.de/2013/36/bildung-schulrevolution-bestsellerautoren (13-11-21)


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    2 Gedanken zu „Neurodidaktik“

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