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Orthorexia nervosa

    Orthorexia nervosa charakterisiert eine Besessenheit vom gesunden Essen bzw. krankheitswertigem Gesundessen. Dabei handelt es sich um eine Essstörung, bei der die ständige Sorge um Gesundheit zu einer krankhaften Fixierung auf gesundes Essen führt. Die wesentlichen Merkmale ist meist die zwanghafte und rigide Einteilen von Nahrung in „gesund“ und „nicht gesund“ und dieses ganz starke Vermeiden von „ungesundem“ Essen. Etwa in dem Sinn: „Nur noch Gemüse, Salat und Vollkornprodukte, auf keinen Fall, auf gar keinen Fall Pommes, Burger oder Pizza“. Grundsätzlich ist kein Lebensmittel per se „gesund“ oder „ungesund“ ist, sondern es macht immer die Menge, wie viel man von jedem Nahrungsmittel isst. Bei Menschen mit Orthorexie oder Orthorexia nervosa ist es das Extrem, dass sie alles, was nur irgendwie „ungesund“ sein könnte, vermeiden. Neben Fleisch werden häufig grundsätzlich alle Fertigprodukte gemieden, also alles, was industriell hergestellt ist und Zusatzstoffe, Konservierungsstoffe oder künstliche Aromen enthält. Manche essen auch Obst nur noch dann, wenn es nicht länger als vor eine Stunde vom Baum gepflückt worden ist. oder andere essen kein Obst, das gepflückt worden ist, sondern nur was durch die Natur auf auf den Boden gefallen ist. Ein zentrales Merkmal der Betroffenen ist, dass sie kein Störungsbewusstsein haben und auch nicht darunter leiden, denn sie finden ihre Ernährung auch ganz in Ordung, halten sich für ein Vorbild und denken eher, alle anderen müssten ihr Essverhalten ändern. Um bei dem Betroffenen ein Bewusstsein dafür zu erzeugen, dass das, was sie machen übertrieben oder zu extrem, ist wäre, wenn man sie damit konfrontieren kann, dass sie einen extremen Weg eingeschlagen haben und mehr Flexibilität in ihre Ernährung bringen sollten, also  ich grundsätzlich gesund ernähren sollen, aber von der rigiden Fixierung wegkommen und sich ab und zu auch einmal etwas in ihren Augen weniger Gesundes zu erlauben.

    Orthorektisches Essverhalten tritt selten als Hauptsymptom auf, vielmehr scheint es in Kombination mit typischen oder atypischen Störungen und Verhaltensweisen aus den Bereichen der Ess- und Zwangsstörungen einherzugehen. Aufgrund der Definition bzw. der Diagnosekriterien für Essstörungen könnte Orthorexia nervosa sowohl als eigene Essstörung aber auch als Subtyp der Anorexia nervosa angesehen werden, wobei es hier fließende Übergänge etwa zu Zwangsstörungen gibt. Klinisch definiert man diese Symptomatik meist als atypische Anorexia nervosa, wobei man auf die Differentialdiagnose achten sollte und sich fragen muss, ob vielleicht bei einer Anorexie-Diagnose nicht auch orthorektisches Essverhalten zu finden ist.

    Wie auch bei der Anorexie oder Bulimie wird der Nahrungsaufnahme ein übertrieben hoher Stellenwert im Alltag eingeräumt, womit eine große Anzahl an Problemen einhergeht. Es kommt zu einem Genussverlust bei der Nahrungsaufnahme, denn Lebensmittel werden ständig in gut und schecht, gesund und ungesund einteilt, wobei man mit der Zeit immer weniger verschiedene Nahrungsmittel zu sich nimmt. Meist findet man diese Esssucht noch im subklinischen Bereich, aber Orthorektiker mit vollem Krankheitsbild sind besessen davon, ihre Umwelt zu missionieren, denn sie können nicht akzeptieren, dass andere Menschen etwas anderes essen wollen. Jedoch sind die Übergänge häufig fließend, denn es gibt auch viele Menschen, die sich gesund ernähren, auch Vegetarier, die aber noch kein krankheitswertige Orthorexie haben. Die „echten“ die Orthorektiker erkennt man meist an den sozialen Folgen, denn viele, die orthorektisches Verhalten zeigen, meiden Einladungen zu Bekannten oder Freunden, gehen prinzipiell nicht mehr essen, weil sie fürchten, dass das Essen, das ihnen außer Haus vorgesetzt wird, ist nicht „gesund“ oder nicht „rein“ genug ist. Sie ziehen sich dann immer mehr zurück, kochen nur noch für sich selbst. Neben sozialen Folgen kann es auch körperliche, gesundheitliche Folgen geben, wenn die Ernährung sehr einseitig ist, viele Nahrungsmittel vermieden werden, weil sie angeblich „ungesund“ sind, sodass es zu Mangelerscheinungen bzw. Mangelernährung kommt. Es gibt nachgewiesenermaßen auch Menschen, die deutliche gesundheitliche Beeinträchtigungen auf Grund einer längeren, vermeintlich „extrem gesunden“ Ernährung haben, wobei nach Ansicht von Experten etwa ein Prozent der Bevölkerung eine Orthorexia nervosa im eigentlichen Sinn haben. Allerdings ist Orthorexia nervosa keine offiziell anerkannte Krankheit bzw. offiziell anerkannte Störung, ähnlich dem „Burn-Out“. Nicht zuletzt durch Lebensmittelskandale, die viele Menschen dazu bringt, mehr auf ihre gesunde Ernährung zu achten, vermutet man, dass die Anzahl der Betroffenen in nächster Zeit anwachsen wird.

    Orthorexie im Überschneidungsbereich Essstörung, Hypochondrie und Zwang

    Was als gesundes Essverhalten definiert wird, unterliegt nach Ansicht von Experten weniger objektiven Kriterien, die willkürlich gewählt sind oder sich an einer bestimmten Ernährungslehre orientieren. So streichen manche OrthoretikerInnen beispielsweise Fleisch und/oder Milchprodukte von ihrem Ernährungsplan, meiden Lebensmittel mit künstlichen Zusatzstoffen oder orientieren sich an spirituellen Ansätzen. Schon geringe Abweichungen von den festgelegten Regeln können Anspannung, Angst, Schuldgefühle oder Selbsthass auslösen. Durch eine immer eingeschränktere Nahrungsauswahl kann es zu gefährlichen Folgeschäden kommen: Nährstoff- und Energiemangel, Schlafstörungen, Antriebslosigkeit … Die strenge Kontrolle über das Essverhalten und die Lebensmittelwahl erinnert an das selektive Essen bei Anorektikerinnen, denn auch hier wird die Nahrung in erlaubte und verbotene Lebensmittel eingeteilt. Auch das bei Anorektikerinnen häufige Auftreten von Zwangsritualen, wie z.B. das Essen aus immer den gleichen Gefäßen sowie das Essen mit Stäbchen oder das Löffeln von Getränken verdeutlicht den Bezug zu Essstörungen. Doch die Rigidität des Verhaltens bei Orthorexie, das starre Befolgen der selbst auferlegten Regeln sowie die Anspannung und Angst bei Verstoß gegen diese Regeln verdeutlicht die Ähnlichkeit zu Zwangsstörungen, v.a. zwanghafte Persönlichkeitsstörungen.

    Veganer, die aus philosophisch-moralischen Gründen auf tierischen Produkte verzichten, haben langfristig betrachtet kein erhöhtes Risiko für eine Orthorexie, während Veganer, die sich zu dieser Ernährungsweise entschlossen haben, um ihr Risiko für Krankheiten zu verringern, hingegen schon. Gefährdet sind insbesondere Veganerinnen, die mit dieser Ernährungsweise möglichst schlank werden wollen, doch auch all jene, die eine Diät machen, die sehr strengen, spezifischen Regeln folgt, haben ein erhöhtes Risiko, zum Ernährungsfanatiker zu werden. Manchmal wird gesundes Essen zur Ersatzreligion und stabilisiert das Selbstwertgefühl dieser Menschen, d. h., die Betroffenen sind von ihrem Verhalten überzeugt und wollen es auf keinen Fall ändern, obwohl bereits eine mittelschwere Orthorexie einen erheblichen Leidensdruck, eine verringerte Lebenszufriedenheit und geringeres persönliches Wohlbefinden verursach. Therapiebereit sind meist nur diejenigen, die auf Grund ihrer sehr einseitigen Ernährung bereits Mangelerscheinungen haben.


    Amüsantes: Maria Huber hat samstags viel zu tun. Nicht, dass sie werktätig wäre, sie arbeitet daran, alle jene Lebensmittel zu ergattern, die sie für ihre gesunde Ernährung braucht. Gleich in der Früh setzt sie sich ins Auto und fährt zu ihrem Biobauern, von dem sie Äpfel und Apfelsaft bezieht. Weiter führt sie ihr Weg zum Bio-Gemüsehof. Hier kauft sie Erdäpfel und Karotten. Für den Salat, den sie auf ihrer Einkaufsliste stehen hat, besucht sie eine Bäuerin ein paar Kilometer weiter. Fleisch kommt bei Maria immer seltener auf den Tisch, was gut für das Klima ist, aber hin und wieder ein Stück vom Bio-Truthahn, das will sie sich nach wie vor gönnen. Der Bauer, der die Vögel artgerecht hält, wohnt leider recht weit außerhalb. Bis Maria ihre Liste abgearbeitet hat – ein paar Dinge, zum Beispiel Hefe und Soja, kauft sie mangels Alternative doch im Bio-Supermarkt – ist es Abend geworden, gut 100 Kilometer war sie unterwegs. Frau Huber würde nie zugeben, dass ihre Jagd nach guten Lebensmitteln zwanghaft wäre oder gar an Orthorexie grenze, der krankhaften Fixierung auf gesundes Essen. Vielmehr hält sie sich und ihr Verhalten für elitär. Die anderen, die sich mit weiß Gott was abspeisen lassen, die seien das Problem.


    Literatur

    Kunze, Michael, Kiefer, Ingrid & Kinzl, Johann (2004). Besessen vom Essen. Kneipp Verlag.
    Stangl, W. (2011). Essstörungen.
    https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/SUCHT/Essstoerungen.shtml (11-12-12)
    SWR2 Impuls im Gespräch mit Reinhard Pietrowsky.
    http://www.swr.de/swr2/wissen/orthorexie-krankhaft-gesund-essen/-/id=661224/nid=661224/did=11889328/1kfgy2d/index.html (13-08-15)
    http://www.spiegel.de/gesundheit/psychologie/orthorexie-wenn-gesunde-ernaehrung-zum-zwang-wird-a-986974.html (14-08-20)
    OÖN vom 12. März 2022


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