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Chronästhesie

    Wie töricht ist es, Pläne für das ganze Leben zu machen,
    da wir doch nicht einmal Herren des morgigen Tages sind.
    Lucius Annaeus Seneca

    Der kanadische Psychologe Endel Tulving bezeichnet als Chronästhesie bzw. als mentale Zeitreise die Fähigkeit des Menschen, ein Ereignis des Zeitpunkts A zum Zeitpunkt B wiederzuerleben, und vermutete dahinter einen von der Natur erfundenen Möglichkeit, um das Gesetz von der Unumkehrbarkeit der Zeit zu umgehen, denn Zeit verläuft bekanntlich nur immer in eine Richtung, außer zu dem Zeitpunkt, an dem ein Mensch versucht, sich an Ereignisse der Vergangenheit zu erinnern oder die Zukunft zu antizipieren. Man konnte in Experimenten mit drei- bis sechsjährigen Kindern zeigen, dass die Entwicklung des Bewusstseinskontinuums, also das Erleben einer kontinuierlich fließenden Zeit, mit der Ausbildung des episodischen Gedächtnisses verzahnt ist.
    Mentale Zeitreisen bezeichnen daher auch jene Gedanken, wenn Menschen die Zukunft antizipieren und sich über diese Gedanken machen, was evolutionär betrachtet durchaus sinnvoll ist, machen sie es doch möglich, auf eventuelle Gefahren in der Zukunft vorbereitet zu sein oder auch aus Erfahrungen in der Vergangenheit zu lernen.

    Mentale Zeitreisen setzen sich aus verschiedenen Komponenten zusammen, einerseits aus Erinnerungsspuren aus dem episodischen Gedächtnis, also den Repräsentationen von persönlich erlebten Ereignissen, andererseits der Fähigkeit, geistig Szenarien zu konstruieren, indem Repräsentationen von vergangenen oder erwarteten Situationen in größere Kontexte eingebunden und reflektiert werden. Verlegt man etwa seinen Schlüssel, geht man in Gedanken Orte und Situationen ab, in denen man den Schlüssel noch hatte, d. h., die vergangene Situation kann gedanklich mit anderen Erfahrungen und Informationen verknüpft werden, sodass mental ein neues Szenario entsteht.

    Diese Eigenschaft ist vermutlich alleine dem Menschen gegeben, denn es gibt trotz ähnlich erscheinender Verhaltensweisen bei manchen Tieren keine Hinweise darauf, dass diese in der Lage wären, verschiedene Zukunftsszenarien zu konstruieren, zu reflektieren und miteinander zu vergleichen. So ist etwa die Fähigkeit von einigen Tieren, bereits im Herbst Futtervorräte für den Winter anzulegen, nicht als vorausschauendes Handeln zu interpretieren, sondern als eine angeborene bzw. instinktive Verhaltensform, denn das Tier würde auch dann Futter sammeln, wenn es sein Leben lang im Winter gefüttert worden wäre.
    In der Biologie bezeichnet Chronästhesie übrigens die rhythmische und somit voraussagbare Änderung in der Empfindlichkeit einer Zelle oder eines Organismus für einen äußeren Einfluß, z.B. eine applizierte Chemikalie, wobei die Ursache der Chronästhesie eine temporäre Änderung der Rezeptoren, der Membranpermeabilität oder einer Enzymaktivität sein kann.

    Literatur

    Cheng, S., Werning, M.. & Suddendorf, T. (2016). Dissociating Memory Traces and Scenario Construction in Mental Time Travel. Neurosci. Biobehav. Rev., doi: 10.1016/j.neubiorev.2015.11.011.
    Tulving, E. (1983). Elements of episodic memory. Oxford: Clarendon Press.
    Tulving, E. & Markowitsch, H.J. (1998). Episodic and declarative memory: Role of the hippocampus. Hippocampus, 8, 198-204.


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