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Ritual

    Kurzdefinition: Ein Ritual ist eine nach vorgegebenen Regeln ablaufende, meist formelle und oft feierlich-festliche Handlung mit Symbolgehalt, und wird häufig von bestimmten Wortformeln und festgelegten Gesten begleitet. Ein Ritual kann religiöser oder weltlicher Art sein wie ein Gottesdienst, eine Begrüßung, eine Hochzeit oder eine Aufnahmefeier.

    Vorbemerkung: Der Begriff Ritual wird in den letzten Jahren inflationär verwendet und ist zu einem Modebegriff verkommen, da nach Ansicht von oft selbst ernannten Experten Rituale alle Lebensbereiche der Menschen durchziehen. Daher ist es als Wissenschaftler äußerst schwierig geworden, eine klare Unterscheidung zwischen Ritual und bloßer Gewohnheit zu treffen.

    *** Hier KLICKEN: Das BUCH dazu! *** Rituale begleiten das menschliche Leben und gehören zur Natur des Menschen. Rituale gibt es in allen Kulturen und in den verschiedensten Lebensbereichen, begleiten und strukturieren das Leben. Rituale sind nach Ansicht von Experten der Klebstoff für Gruppen, aber auch mögliche Konfliktursache zwischen Gruppen, denn sie spiegeln die Evolution der sozialen Komplexität wider. Teil des Erfolgs der Spezies Mensch ist bekanntlich die Kooperation, wobei Rituale als deren Werkzeuge fungieren. Rituale haben meist eine tiefe psychologische Bedeutung, haben ihren festen Platz in den verschiedensten Lebensbereichen und stellen für viele Menschen wichtige Ereignisse dar, die eine herausragende Bedeutung für jene haben, die sie regelmäßig ausüben oder auf besondere Art zelebrieren. So gibt es etwa Rituale der Körperpflege, im Sport, aber auch in der Arbeit und im Beruf. Mit Ritualisierungen werden Bedeutungen assoziiert wie etwa Bewusstheit, Leistung, Kreativität, Entwicklung oder Ehrgeiz.

    Rituale sind Handlungen, d. h., es reicht nicht, an die zu denken, sondern Rituale müssen körperlich getan werden. Rituale sind darüber in der Regel öffentliche Handlungen, haben einen gewissen Aufführungscharakter, denn es gibt nicht nur Akteure sondern auch ein Publikum wie bei Paraden, bei Trauerfeiern oder Hochzeiten. Nach Bourdieu bilden Rituale ein Vertrauenskapital, dessen Wert in der Stabilisierung sozialer Beziehungen begründet liegt, wobei solche Bindungen in der Folge Sicherheit geben und bis zu einem gewissen Grad Willkür und Beliebigkeit verhindern und zentrale Sinnfragen weniger wichtig erscheinen lassen. Die Beziehung zwischen Menschen und Gruppen wird dabei zur Gewohnheit, muss nicht bei jedem Kontakt neu ausverhandelt werden.

    Ritualforscher unterscheiden zwischen Ritualen innerhalb und außerhalb des Alltags, wobei etwa das tägliche Zähneputzen oder das Kaffeekochen zu solchen Alltagsritualen gehören, die keine Überhöhung oder Transformation enthalten. Echte Rituale weisen vier Merkmale auf:

    • Der Körper ist Teil des Rituals, d. h., oft wird er geschmückt, manchmal gequält, ist in Bewegung.
    • Ritualhandlungen weisen oft standardisierte, stereotype Muster auf, d. h., sie sind leicht zu übernehmen und können auch ohne Nachzudenken nachgeahmt werden.
    • Überhöhte Handlungen spielen in Ritualen häufig eine große Rolle, wobei Essen und Trinken dabei transzendiert werden.
    • Schließlich geht es bei Ritualen häufig um eine Transformation, denn nach der Firmung ist der Bub, das Mädchen erwachsen, nach der Eheschließung wird aus der Frau eine Ehefrau, aus dem Mann ein Ehemann.

    Ritualhandlungen folgen immer einer bestimmten Form, sei es vom zeitlichen Ablauf her oder aber auch von der Ordnung. Auch verhält man sich während eines Rituals anders als im Alltag, wobei mitunter die dazugehörigen Handlungen und Bewegungen stilisiert erfolgen, oft besonders langsam und bedächtig. In diesem Sinne hebt sich ein Ritual als besondere Handlungsform vom Alltag ab, hat einen klaren Anfang und ein klares Ende. Wichtig für Rituale ist auch deren Wiederholbarkeit, was etwa im kleinen Rahmen die Wiederholung einzelner Handlungen sein kann, wie etwa immer wieder gesprochene Mantren oder Ave Marias. Viele Rituale treten in größeren Zeitabständen auf, etwa regelmäßig wie Gottesdienste am Sonntag oder das Weihnachtsfest, oder aber auch selten im Lebenszyklus wie Taufen, Hochzeiten oder Begräbnisse. Durch ihren formalen Charakter aber auch die Wiederholung sind Rituale daher meist klar erkennbar bzw. wiedererkennbar. Ein wesentliches Merkmal von Ritualen ist die Verwendung von Symbolen, die sehr unterschiedlicher Natur sein können, wie die Verbeugung als Symbol der Unterwerfung oder das Streuen von Reis als Zeichen von guten Wünschen für ein Brautpaar. Bei Ritualen werden Gegenstände mit Symbolcharakter genutzt, wie das christliche Kreuz, Kronen, Kerzen oder das weiße Brautkleid. Rituale sind in diesem Sinne immer auch auf die Zukunft gerichtet und markieren nicht nur das Ende eines Abschnitts, sondern auch einen neuen Anfang, helfen Menschen, sich mit einer neuen Situation zu arrangieren und sich in ihr zurecht zu finden.

    Rituale haben auch zahlreiche Funktionen auf sozialer Ebene, denn sie können soziale Strukturen anzeigen, etwa verdeutlichen, wer zu einer Familie, einem Verein oder einer Firma gehört und wer nicht. Von vielen Personen zeitgleich ausgeführt, können Rituale so zu einem Mittel sozialer Bindung werden. Rituale verdeutlichen aber auch die relative soziale Stellung, denn in Japan etwa gilt, je tiefer die Verbeugung ist, desto höher angesehen ist das Gegenüber. In bestimmten patriarchalen Gesellschaften dürfen oft nur männliche Jugendliche an Initiationsritualen teilnehmen, womit eine bestimmte soziale Ordnung nicht nur symbolisiert sondern auch verfestigt wird. In manchen Kulturen müssen männliche Jugendliche oft Schmerzen ertragen und Gefahren überstehen, um in den Kreis der Männer aufgenommen zu werden. Heute drückt sich dieses Bedürfnis, ein richtiger Mann zu sein, manchmal in gefährlichen Mutproben wie S-Bahn-Surfen oder Autorennen aus. Stein et al. (in press) haben an Ritualen in verschiedenen Kontexten, etwa Aufnahmsprüfungen zu Studentenverbindungen, Feiertage in den USA, jüdische sowie muslimische Zeremonien bei der Genitalbeschneidung, gezeigt, dass minimal veränderte Details an solchen Ritualen Menschen vor allem dann erregt, wenn es Rituale betrifft, die für sie selbst und ihre Gemeinschaft besonders wichtig sind. Mit Empörung reagieren dabei vor allem jene, die besonders fest glauben oder für die die Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft besonders wichtig ist – oft als Fundamentalisen bezeichnet. Vermutlich ist das auch der Grund dafür, dass Rituale oft über sehr lange Zeit unverändert bleiben, denn Änderungen an gruppenspezifischen Ritualen werden von den Anhängern als moralische Verwerflichkeit betrachtet und mit entsprechender Ablehnung begegnet. Manche Gruppenrituale repräsentieren zentrale Werte eine Gemeinschaft, wobei sich diesen zu unterwerfen und sie auch nach außen hin deutlich zu zeigen, auch die Bedeutung betont, die ein Mitglied dieser Gemeinschaft beimisst. In der Studie zeigten sich Hinweise, dass die Festigkeit eines Glaubens sowie der Grad der Ritualisierung mit der Heftigkeit der Empörung über eine mögliche Änderung an den Zeremonien korreliert. So erregten sich Befragte heftig über die Möglichkeit, dass der Ablauf von Festen zu Weihnachten, Neujahr oder Thanksgiving geändert werden könnte, während Modifikationen am Ablauf des Mutter- oder Vatertages als wenig störend empfunden wurden. Beim Vergleich jüdischer und muslimischer Beschneidungsrituale stieß man auf einen ähnlichen Zusammenhang, denn der Ablauf entsprechender Zeremonien ist im Judentum im Vergleich zum muslimischen Glauben wesentlich genauer ritualisiert, sodass eine mögliche Änderung unter jüdischen Probanden auf deutlich mehr Ablehnung stieß als bei Muslimen. Dabei spielte der Grund für mögliche Änderungen keine wesentliche Rolle, denn selbst wenn diese als grundsätzlich sinnvoll bewertet wurden, lehnten sie eine Änderung dennoch ab.

    Eine weitere wichtige Funktion von Ritualen ist die Reduktion von Unsicherheit, denn im Rahmen des Skripts eines Rituals ist klar vorgegeben, wer was dabei zu tun hat. In Ritualen wird auch kollektives Wissen weitergetragen, werden Werte vermittelt, also etwa was in einer Gemeinschaft wichtig oder was heilig ist. Viele Rituale machen dabei auch übersinnliche, metaphysische oder abstrakte Konzepte konkret körperlich erfahrbar und sind somit Träger des kulturellen Gedächtnisses.

    Rituale sind einerseits sehr kulturspezifisch, da verschiedene Religionen, Kulturen oder Staatssysteme verschiedene Rituale hervorbringen, andererseits gibt es auch sehr viele Gemeinsamkeiten, da sich Rituale in vielen Merkmalen ähnlich sind. So findet man in vielen Kulturen Rituale, die den Übergang vom Kindes- zum Erwachsenenalter markieren oder auch Rituale der Verehelichung und der Trauer. Eine weitere wichtige Funktion von Ritualen ist die Kanalisierung von Emotionen, denn so geben Trauerrituale eine Hilfestellung beim Umgang mit Tod, Verlust, Trauer oder Angst. Positive Emotionen bilden etwa einen wesentlichen Rahmen im Karneval, der für einen begrenzten Zeitraum erlaubt, gewisse Grenzen zu überschreiten, letztlich jedoch wieder mit klaren Regeln.

    Nebeneffekt von Ritualen ist die Energieersparnis für das Gehirn, denn es muss nicht über jeden Schritt nachdenken, die akzeptierte rituelle Regeldichte trägt durch unsichere Situationen und verhindert zumindest teilweise im Falle von Konflikten oder Krisen unnötigen Aufwand, oft auch auf Kosten der Individualität. Im Gehirn finden sich ebenfalls Effekte von Ritualtechniken, denn mit Ritualen verbundene Musik und Formen des Tanzes erhöhen die Neurotransmitterausschüttung etwa von Noradrenalin, sodass dabei Gehirnareale aktiviert werden, die die Aufmerksamkeit steigern, die Stimmung verbessern oder ein Gemeinschaftsgefühl erzeugen, wobei Wiederholungen diese neuronalen Verschaltungen verstärken.

    Kulturanthropologische Bedeutung von Ritualen

    Rituale können unter diesem Aspekt als symbolisch codierte Körperprozesse begriffen werden, die soziale Realitäten erzeugen, deuten, erhalten oder verändern. Rituale beziehen sich ihrer Form daher nach nicht nur auf die soziale Alltagspraxis, sondern auch auf andere, bereits vollzogene Rituale. So kann die gleiche rituelle Ordnung, etwa die Eröffnungsfeier Olympischer Spiele, von den Handelnden immer wieder neu umgesetzt und mit eigenen Inhalten gefüllt werden. Es ist dieser Mechanismus der Wiederkehr des Fast-aber-doch-nicht-völlig-Gleichen, der den Zauber und Reiz von Ritualen mit bedingt.

    Rituale vollziehen sich in Raum und Zeit, werden in Gruppen ausgeführt, sind normativ bestimmt und weisen den Beteiligten bestimmte Positionen innerhalb der Ordnung des Rituals zu. Als mehr oder minder stark standardisierte Handlungszusammenhänge ermöglichen sie Wiederholungen gegebener sozialer oder ritueller Strukturen, aber auch Abweichungen und Neudeutungen. Wie anderen Aufführungsformen verkörpern und organisieren sie symbolische Inhalte an festgelegten Orten zu bestimmten Zeitpunkten in tradierten Formen und Verhaltensweisen. Aber es gibt auch Unterschiede, denn so zeichnen sich Rituale im Vergleich zu anderen kulturellen Aufführungen vor allem durch ihre Selbstbezüglichkeit aus, also dadurch, dass die Handlungen von den und für die am Ritual beteiligten Menschen durchgeführt werden: Akteure und Adressaten, Aufführende und Publikum sind identisch, während etwa beim Theater die Rollen von Darstellern und Zuschauern, Bühnen- und Zuschauerraum deutlich getrennt sind.

    Individuen werden in den Ritualen zu Subjekten des Gemeinschaftshandelns heruntergestuft, können aber gleichzeitig physisch und psychisch an der Macht des Ganzen, des sich gemeinsam bewegenden Kollektivs, teilhaben und sich so als Glieder einer starken Gemeinschaft fühlen, in der sie neue, ungeahnte Fähigkeiten und Kräfte entwickeln. Dieser Mechanismus kann im Dienste einer bestehenden Ordnung inszeniert werden, wie etwa in den Massenveranstaltungen zu nationalen Feiertagen, er kann aber auch das Medium einer Gegenmacht sein, die sich in Gegenritualen als Gegenkultur oder Gegenordnung etabliert, also etwa in Demonstrationen gegen Regierende. Solche Kollektivrituale schließen sich gegen den interaktiven Austausch einzelner Handlungspartner ab, löschen in der Gemeinschaftsaktion die Unterschiede zwischen den Gesellschaftsmitgliedern und binden die Akteure an gemeinsame Handlungsgitter, an einen gemeinsamen Handlungstakt und Rhythmus. Sie werden damit zu bevorzugten Ausdrucks- und Bindemitteln sowohl für geschlossene Gesellschaften als auch für Arrangements, in denen Volksmengen in einem situativ erzeugten Gemeinschaftsgefühl zu einem Kollektivkörper verschmelzen. In diesen Schließungsprozessen ergänzen Uniformierung und Anonymisierung des Handelns einander.

    Über institutionalisiertes rituelles Handeln können soziale Normen und äußere Anforderungen direkt, ohne Umweg über das reflektierende Bewusstsein, in die Körper der Beteiligten eingeschrieben werden, so dass es zur Inkorporierung von Sozial- und Machtverhältnissen durch die Subjekte kommt.

    Rituale können auch Ordnungsfunktionen erfüllen und einen Beitrag zur Konfliktregulierung leisten, indem sie verborgene gesellschaftliche Konfliktpotentiale nicht nur ans Licht, sondern zugleich in die formale Ordnung des Rituals bringen und auf diese Weise kanalisieren und bändigen.

    Grundsätzlich scheinen Rituale immer mit Ordnung und Abgrenzung zu tun zu haben, besitzen daher Definitionsmacht, markieren feste Haltepunkte im Kontinuum des fließenden Geschehens, sei es in der Gestaltung eines Jahres, des gemeinsamen Lebens oder der Umgangsformen der Menschen miteinander, sei es beim Vollzug von Übergängen in der Biographie, in der Auseinandersetzung zwischen Kulturen und ihren Sub- und Gegenkulturen, oder sei es schließlich in den zahlreichen symbolischen Formen der Kommunikation, in denen sich eine Menge vom Menschen als Gemeinschaft konstituiert, indem sie sich ihrer gemeinsamen Werte versichert, Stärke demonstriert und verbindende Gefühle hervorruft.

    Rituale und Ritualisierungen generieren Sinn und Bedeutung, denn sie sind eine praktische Interpretation des Sozialen in Aufführungen, vergleichbar dem Theater oder Sportveranstaltungen. Sie vermitteln dabei den Organisationen und Institutionen, in denen sie vollzogen werden, den Anschein von Gewissheit und Unveränderbarkeit, der erst in Krisensituationen erschüttert werden kann, und in diesem Sinne ideologische und mythisierende Funktionen übernehmen, beherbergen aber auch ein Erneuerungs- und Veränderungspotential.

    Rituale sind mithin stets ambivalent, d. h., sie können Ordnung und Gemeinschaft konstituieren, Orientierung, Sicherheit und Stärke geben und Kommunikation stiften, aber ihr Inhalt und Zweck sind so offen und wandelbar, dass eine allgemeine Bewertung von Ritualen unmöglich erscheint. Rituale können der (Re-)Produktion von Macht und Herrschaft ebenso dienen wie der Produktivität von Arbeitsleistungen, der emotionalen Vertiefung von sub- bzw. gegenkulturellem Widerstand oder als Zeremonien der Solidarität der Festigung sozialer oder politischer Bewegungen. Rituale bewegen sich dabei zwischen Offenheit und Geschlossenheit, d. h., sie eröffnen den Individuen unterschiedlich große Spielräume für eigenes Handeln, Beständigkeit und Vergänglichkeit, affirmativer Wiederholung und kritischer Reflexivität, fragloser kollektiver Gültigkeit und individueller Veränderbarkeit, Überwältigung und Desorientierung, Unverstehbarkeit und Einsehbarkeit, Erlebnis und Erkenntnis, emotional-mimetischer und kognitiver Kraft, Gemeinschaft und Individuum, kollektiver und persönlicher Identität. Um die jeweilige Bedeutung von Ritualen für Gesellschaft und Individuum überhaupt beurteilen zu können, müssen daher ihr konkreter Ablauf und ihre besondere praktische Ausgestaltung ebenso beachtet werden wie ihr kultureller und gesellschaftlicher Kontext. All dies zusammen entscheidet darüber, ob die in Ritualen grundsätzlich angelegten Ambivalenzen produktiv entfaltet oder zugunsten der jeweils einen Seite von außen, etwa durch übergeordnete Mächte, zurückgedrängt werden.

    Zusammengefasst nach Alkemeyer (2000).

    Pädagogische Rituale

    Auch in der Geschichte der Schule spielten und spielen Rituale eine wichtige Rolle, denn Schulen waren und sind in hohem Maße rituell organisierte Institutionen. So wurden ungehorsamen und leistungsschwachen Schülern bis ins 18. Jahrhundert hinein Kappen mit Eselsohren aufgesetzt, in manchen deutschen Schulen um 1800 wurden herausragende Leistungen mit dem Einschlagen eines goldenen Nagels in eine Meritentafel gewürdigt. Im 19. Jahrhundert, in dem sich die Jahrgangsklasse, der Frontalunterricht und im höheren Schulwesen das Fachlehrerprinzip durchsetzten, wurden weitere Rituale wie der morgendliche Fahnenappell oder das klassenweise Aufstellen vor Unterrichtsbeginn und am Ende der großen Pause eingeführt. Am Beginn des 20. Jahrhunderts kritisierten Vertreter der Reformpädagogik viele dieser Rituale wegen ihres Formalismus und autoritären Charakters und führten an ihrer Stelle neue ein, so den Morgen- und Abschlusskreis, die Stilleübung in der Montessori-Pädagogik, den Klassenrat in der Freinet-Pädagogik, den Wochenplan bei Petersen und Freinet usw. Einige der genannten Rituale existieren heute nicht mehr, andere haben sich in modifizierter Form bis in die gegenwärtige Zeit erhalten und manche von ihnen werden bis heute fast unverändert praktiziert. Dabei reicht die Vielfalt der aktuellen schulischen Rituale von sich wiederholenden Makroritualen wie den Einschulungs- und Schulabschlussfeiern, Sommerfesten und Weihnachtsfeiern bis hin zu den zahlreichen Mikroritualen, die die Lern- und Arbeitsprozesse strukturieren, etwa den Montag-Morgen-Kreis, Rituale der Stille und Konzentration, Rückgaberituale bei Schularbeiten usw. Neben diesen überwiegend von LehrerInnen initiierten institutionellen Ritualen existieren aber auch eine ganze Reihe weiterer ritueller Praktiken, die von Seiten der Schüler innerhalb des schulischen Zusammenhanges herausgebildet wurden. So ist die Einnahme der Sitzposition auf den Stühlen im Klassenraum eine zentrale ritualisierte Handlung der Schüler im Übergang von der Pause zum Unterricht, denn sie führt Unterrichtsbereitschaft vor, wirkt an der Durchsetzung des Organisationssystems Unterricht mit und signalisiert das Ende der liminalen Phase. Rituale spielen demnach auch in der Pädagogik eine wichtige Rolle, wobei nur einige Merkmale von pädagogischen Ritualen erwähnt werden sollen:

    • Rituale bestehen in erster Linie aus Handlungen, die in bestimmter Art und Weise von einer, mehreren oder allen Personen einer Gruppe ausgeführt werden.
    • Diese Handlungsabläufe können erst dann als Rituale erlebt werden, wenn sie in Wiederholungen erlebt und durchgeführt werden.
    • Rituale werden insbesondere wirksam durch Symbole und/oder symbolische Handlungen.
    • Symbolische Gegenstände und Handlungen haben für die teilnehmenden Personen eine über das Augenscheinliche hinausgehende Bedeutung (die Nichteingeweihten ohne weitere Erklärungen verborgen bleibt).
    • Damit verbunden sind die besonderen Umstände eines Rituals: Ort, Zeit, Kleidung, Worte, Verhalten und Gegenstände zeigen an, dass es sich hier um eine spezielle Situation handelt.
    • Die Wirkung dieser besonderen Umstände wird zudem unterstützt durch eine Inszenierung, die durch Farb- und Formkompositionen, besondere musikalische Untermalung, angenehme Geruchseindrücke usw. erreicht wird.
    • Rituale werden bewusst anhand eines (zumindest teilweise gemeinsam erstellten) Handlungsplanes durchgeführt. Grob kann man vorbereitende, durchführende und nachbereitende Handlungen unterscheiden.

    Der gemeinsame Einsatz solcher Elemente bewirkt ein intensives Erleben von Ritualen.


    Der KURIER Herausgeber Helmut Brandstätter schreibt anlässlich des 1. Mai zum Thema Rituale: „Viele von uns sind mit Ritualen aufgewachsen, in der Familie, einer Organisation, einer Kirche oder einer Partei. Eigene Rituale sind uns vertraut geworden, fremde vielleicht be-fremdlich. Gruppen, die mit roten Fahnen aus einem Wiener Außenbezirk auf den Rathausplatz marschieren, kann man komisch finden, wer das sein Leben lang gemacht hat, würde etwas vermissen.“


    Literatur

    Alkemeyer, T. (2000). Zeichen, Körper und Bewegung. Aufführungen von Gesellschaft im Sport. Habilitationsschrift. Berlin.
    Schulz-Gade, G & Schulz-Gade, H. (2012). Rituale in der Ganztagsschule – Wege zur Orientierung und Gemeinschaftsidentifikation (S. 19-32). In Appel, S. & Rother, U.(Hrsg.), Schulatmosphäre – Lernlandschaft – Lebenswelt. Schwalbach, Taunus: Wochenschau Verlag.
    Stein, D., Schroeder, J., Hobson, N., Gino, F., & Norton, M. I. (In press). When Alterations are Violations: Moral Outrage and Punishment in Response to (Even Minor) Alterations to Rituals. Journal of Personality and Social Psychology, doi:10.1037/pspi0000352.supp.
    Wulf, Christoph (2008). Rituale im Grundschulalter: Performativität, Mimesis und Interkulturalität. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 11, 67-83.
    http://www.report-psychologie.de/ (15-11-21)
    http://www.fzpsa.de/paedpsych/Fachartikel/erziehung/rituale/paedrituale (15-11-21)
    OÖN vom 1. Dezember 2018


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