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epigenetisches Prinzip

    Das epigenetische Prinzip in der Entwicklungspsychologie besagt, dass die Entwicklung eines Menschen nach einem Grundplan erfolgt, der für alle Menschen gleich ist. Dieser Grundplan ist in einzelne Stufen bzw. Entwicklungsaufgaben gegliedert, die das Ziel haben, ein funktionierendes Ganzes entstehen zu lassen. „Dieses Prinzip lässt sich dahin verallgemeinern, dass alles, was wächst, einen Grundplan hat, dem die einzelnen Teile folgen, wobei jeder Teil eine Zeit des Übergewichts durchmacht, bis alle Teil zu einem funktionierenden Ganzen herangewachsen sind“ (Erikson 1973, S.57). Erikson geht also davon aus, dass die gesamte Entwicklung des Menschen, von seiner Geburt bis zum Tod, einem Programm unterworfen ist, in dem in jedem Lebensabschnitt Krisen entstehen, die gelöst werden müssen. Psychische Defekte entstehen in diesem Modell dann, wenn eine dieser Krisen nicht gemeistert werden kann. Erikson hat Freuds Theorie der Entwicklungsstadien neu definiert und in acht Stadien erweitert. Das Fortschreiten von einem Stadium zum nächsten ist zum Teil durch den Erfolg oder durch  mangelnden Erfolg in allen vorangegangenen Stadien bestimmt, wobei jede Stufe bestimmte Entwicklungsaufgaben psychosozialer Natur umfasst. Obwohl Erikson Freuds Theorie darin folgt, indem er die Übergänge als Krisen bezeichnet, sind sie weniger spezifisch als der Begriff Krise nahe legt. Jede Stufe hat dabei ihre optimale Zeit und es ist daher nicht zweckmäßig, Kinder zu früh ins Erwachsenenalter zu treiben, andererseits ist es aber auch nicht möglich, das Entwicklungstempo zu drosseln, um Kinder vor den Anforderungen des Lebens zu schützen. Wurde eine Stufe erfolgreich abgeschlossen, behält man die damit verbundene psychologische Stärke, die durch die folgenden Stufen des Lebens begleitet. Schließt man hingegen eine Stufe nicht erfolgreich ab, kann es vorkommen, dass Fehlanpassungen (maladaptions) und Verhaltensstörungen (malignities) entwickelt werden und die weitere Entwicklung gefährdet ist. Dabei ist grundsätzlich eine Fehlanpassung problematischer, da zu wenig positive und zu viele negative Aspekte aus der jeweiligen Aufgabe gezogen wurden, während eine Verhaltensstörung sich oft nicht als so gravierend darstellt.

    Die Phasen in der Theorie des epigenetischen Prinzips wurden in der Rezeption Eriksons mit einem Motto verknüpft, das die Grundhaltung dieser Entwicklungsphase beschreibt:
    Vertrauen und Misstrauen: „Ich bin, was man mir gibt“ (1. Lebensjahr). Ein neugeborenes Kind ist ganz von der Mutter abhängig und muss lernen, dieser zu vertrauen und darauf zu hoffen, dass sie ihm gibt, was es braucht. Der bekannte Begriff „Urvertrauen“ geht auf Eriksons epigenetisches Prinzip zurück. Wird diese Krise nicht gelöst, ist das ganze Leben des Menschen durch Zurückgezogenheit und Misstrauen geprägt.
    Autonomie, Scham und Zweifel: „Ich bin, was ich will“ (2. und 3. Lebensjahr). Gefühle wie Liebe und Hass, Bereitwilligkeit und Trotz entwickeln sich nun. Das Kind kann jetzt festhalten und loslassen, sich als Schöpfer erleben oder zerstören. Es entwickelt sich auch das Gefühl von Scham und Zweifel. Eine Fehlentwicklung in dieser Phase entsteht, wenn diese negativen Gefühle auf den eigenen Willen bezogen werden. Eriksons epigenetisches Prinzip erklärt so die Entstehung von zwanghaften oder stark impulsiven Charakterzügen.
    Initiative und Schuld: „Ich bin, was ich mir zu werden vorstellen kann“ (4. bis 6. Lebensjahr). Neben der Mutter treten nun auch der Vater und andere Kinder in die Welt des Kindes. Das Kind entwickelt ein Gewissen und lernt, was gut und böse ist. Es muss lernen, Triebe zu kontrollieren und Verbote zu akzeptieren. Eine weiterer Aspekt dieser Phase ist die Entwicklung der Fantasie und von Fantasiewelten, in denen es alles kann, mutig und allmächtig ist. Fehlentwicklungen in dieser Phase führen entweder zu einer rücksichtslosen oder grausamen Moral oder einer stark gehemmten Persönlichkeit und Schuldkomplexen.
    Eifer, Leistung, Unterlegenheit oder Minderwertigkeit: „Ich bin, was ich lerne“ (6. Lebensjahr bis zur Pubertät). In dieser Phase beginnt das Kind die Welt durch Mitmachen, Nachmachen und Teilnehmen zu entdecken. Die Nachbarschaft und die Schule kommen als neue Umgebung hinzu. Das Kind erfährt Konkurrenz, Leistung und Wettkampf. Eriksons epigentisches Prinzip bezeichnet das Gefühl, etwas Nützliches zu tun als „Werksinn„. Wird dieser durch Unter- oder Überforderung überstrapaziert, können Minderwertigkeitsgefühle entstehen oder die Tendenz, sich Anerkennung vor allem durch Leistung zu holen.
    Ich-Identität und Rollenverwirrung: „Ich bin ich selbst“ (Pubertät und Adoleszenz). In dieser Phase muss der Jugendliche ein Selbstbild entwickeln und sich in der Gesellschaft verorten. Ist die Rolle zu stark fixiert, entsteht Intoleranz und Fanatismus. Findet der Jugendliche keine soziale Rolle, führt dies zu einem Rückzug aus der Gesellschaft. Wird der Konflikt erfolgreich bewältigt, entwickeln sich Treue und Solidarität.
    Intimität und Isolation: „Ich bin, was ich für andere Menschen bin“ (Frühes Erwachsenenalter). Ist der junge Erwachsene in seiner Rolle gefestigt, sucht er nach Intimität und Nähe. Partnerschaft und Freundschaft sind wichtig in dieser Zeit. Der junge Mensch wird fähig zur Liebe. Fehlentwicklungen führen zur Selbst-Bezogenheit, sozialer Isolierung oder zur Selbstaufopferung.
    Zeugung, Entwicklung und Stagnation: „Ich bin, was ich leiste und was ich bereit bin zu geben“ (Erwachsenenalter). In diesem Lebensabschnitt ist die Weitergabe von Wissen, Liebe und Leben zentral. Neben der Zeugung eigener Kinder wird es wichtig, sich um andere zu kümmern und Dinge zu tun, die auch in der nächsten Generation Bedeutung haben. Im Idealfall erlangt der Mensch die Fähigkeit zur Fürsorge, ohne sich selbst zu verlieren. Gelingt dies nicht, empfindet der Mensch Stagnation. Isolation und Ablehnung der Gesellschaft sind die Folge.
    Integrität und Verzweiflung: „Ich bin, was ich als sinnhaft empfinde“ (spätes Erwachsenenalter). Zum Ende des Lebens hin blickt der Mensch auf sein Leben zurück. Dieses anzunehmen und den Tod nicht fürchten zu müssen, ist das Ziel dieser Krise. Kann man nicht zufrieden auf sein Leben zurückblicken, sind Ängste und Verzweiflung die Folge. Wird die Krise erfolgreich gemeistert, erlangt der Mensch nach Erikson Weisheit und kann ohne Furcht dem Tod entgegen sehen.

    Erik Erikson (eigentlich Erik Salomonsen, später Erik Homburger) war amerikanischer Psychologe deutscher Herkunft, *Frankfurt am Main 15. Juni 1902, Harwich (Massachusetts) 12. Mai 1994; emigrierte 1933 in die USA, Professor in Berkeley (Kalifornien), in Pittsburgh (Pennsylvania) und an der Harvard University; einer der führenden Vertreter der Jugendpsychologie. Hauptwerke: Kindheit und Gesellschaft (1950); Jugend und Krise (1968).
    Biografische Anmerkung: Die Entwicklung der Identität war eine der zentralen Fragen in Eriksons Leben, denn während seiner Kindheit und im frühen Erwachsenen hielten seine Eltern die Details seiner Geburt geheim (er war das uneheliches Kind der Jüdin Karla Abrahamsen, die Eriks Kinderarzt Theodor Homberger heiratete, der ihn adoptierte), denn er war ein großer blonder, blauäugiger jüdischer Junge, der in der Synagoge wegen seines nordischen Aussehens gehänselt wurde, während er im Gymnasium verspottet wurde, weil er Jude war.
    Erik wollte Künstler werden, bereiste Europa und lebte das Leben eines Bohemiens. Ein Freund machte ihn mit der Psychoanalyse bekannt, wobei er ein Zertifikat der Wiener Psychoanalytischen Gesellschaft erhielt und sich einer Psychoanalyse durch Anna Freud unterzog. Gemeinsam mit einer kanadischen Tanzlehrerin, die drei Kinder hatte, verließ verließ er nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten Wien und zog nach Kopenhagen und später nach Boston, wo ihm eine Stelle an der Harvard Medical  School  angeboten worden war. Dabei traf er unter anderen Kurt Lewin, Margaret Mead und Gregory Bateson. Erikson unterrichtete in Yale und in Berkeley, und änderte, als er 1939 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt, seinen Namen offiziell in Erik Erikson, wohl aus Skandinavischer Tradition heraus, den Namen des Vaters weiter zu tragen.

    Literatur
    Erikson, Erik H. (1973). Identität und Lebenszyklus. Frankfurt: Suhrkamp.
    Stangl, W. (2003). Phasen der psychosozialen Entwicklung nach Erik Homburger Erikson. [werner stangl]s arbeitsblätter.
    WWW: https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/PSYCHOLOGIEENTWICKLUNG/EntwicklungErikson.shtml (07-11-21)
    http://www.nndb.com/people/151/000097857/ (12-03-04)


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