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Mittelschichtbias

    Als Mittelschichtbias bezeichnet man in der Erziehungswissenschaft die Erwartung der Bildungseinrichtungen an SchülerInnen hinsichtlich sowohl inhaltlicher Kenntnisse als auch sozialer Verhaltensweisen, die in der Mittelschichtkultur gewohnt und normal sind, aber nicht in anderen Schichtkulturen. Dadurch werden Kinder in Bildungseinrichtungen aus der Mittelschicht bevorzugt, wobei sich der Mittelschichtbias zunächst in scheinbar harmlosen, alltäglichen schulischen Aufgabenstellungen realisiert, etwa im Besitz von Lexika, Computern oder Sportgeräten.

    Im Unterricht geht es letztlich immer wieder um Konkurrenz, denn welche Schülerin oder welcher Schüler kann das von einem Mittelschichtkind oder Mitelschichtjugendlichen Erwartete gut, besser, schlechter oder gar nicht. Damit wird mit schienbar neutralen inhaltlichen Vorgaben eine bestimmte Form des konkurrenzförmig organisierten Sozialverhaltens abgerufen, wobei auch die soziale Verhaltensweise mitgelernt wird, sich in einer Konkurrenzsituation durchzusetzen. Mittelschichteltern organisieren etwa die Freizeit ihrer Kinder so, dass die Fähigkeit zur Konkurrenz ausgebildet wird, also z.B. in Sportvereinen, in der Musikschule oder durch den Besuch kultureller Institutionen wie Theater, Oper oder Konzerten. Unterschichtkinder hingegen lernen in ihrer Freizeitgruppe eher das Befolgen von Gruppennormen und körperbetonte Konkurrenztechniken, sodass manche scheinbar harmlose Aufgabenstellungen im Unterricht einen doppelten Vorteil für Mittelschichtkinder erzeugen.

    LehrerInnen orientieren sich – ohne sich dessen bewusst zu sein – in ihrer Unterrichtsplanung und Unterrichtsgestaltung oft an imaginierten idealtypischen SchülerInnen. Hinzu kommt, dass dass die Unterrichtenden in der Regel selber aus der Mittelschicht stammen, sodass sie ihre ideale Normschülerin bzw. ihren Normschüler mit typischen Mittelschichteigenschaften ausstatten, etwa Bravheit, Frustrationstoleranz, Aufmerksamkeit gegenüber dem Unterricht, angemessener Kleidung, angemessener Sprache oder Gepflegtheit. SchülerInnen, die so auftreten, sind den Unterrichtenden unwillkürlich sympathischer als SchülerInnen aus unterprivilegierten Schichten, die auch einmal ungepflegt, ohne Frühstück, mit provozierender Kleidung, ordinärer oder sexualisierter Sprache, mit Drohgebärden, von familiären Belastungen erschöpft oder von häuslichen Geldnöten bedrückt in die Schule kommen. Diese SchülerInnnen sind der Lehrerin oder dem Lehrer bald unsympathisch. Diese habitusbedingte Sympathie für die Mittelschicht geht meist auch unbemerkt in die Leistungsbeurteilung ein, insbesondere dort, wo das Arbeits- und Sozialverhalten in die Note einfließt und die Persönlichkeit des Kindes indirekt zum Thema wird, etwa in einem Aufsatz zu den letzten Ferien oder einem Bericht von einem kulturellen Ereignis.

    Der Mittelschichtbias zeigt sich auch darin, inwieweit der soziale Hintergrund eines Kindes oder Jugendlichen von der Lehrerin bzw. dem Lehrer im Kontakt mit den Eltern wahrgenommen wird. Die Benachteiligung der Kinder aus bildungsfernem Elternhaus verschärft sich dadurch, dass LehrerInnen auf gebildete Eltern stärker eingehen als auf andere, entweder durch Titel, Berufsprestige, souveränes Auftreten, Eloquenz oder auch Macht. In der Regel sind Mittelschichteltern für die LehrerInnen angenehme Gesprächspartner, denn sie sind meist interessiert an ihrem Kind und an der Meinung der LehrerInnen, sie sind lösungsorientiert, bereit zur Kooperation in Lernförderungsfragen. Nicht umsonst beklagen LehrerInnen immer wieder, dass bildungsferne Eltern sich selten zeigen, obwohl diese es am nötigsten hätten, sich zu wenig für ihre Kinder interessieren oder sogar falsch erziehen, wobei sich auch die Gespräche mit ihnen etwa auch sprachlichen Gründen stockend und schwierig gestalten. Siehe dazu Was Schulen von Eltern erwarten …

    In der Umfrageforschung verwendet man den Begriff Mittelschichtbias oder middle class bias für die Tatsache, dass in Befragungen oft die unteren oder die oberen sozialen Schichten in Stichproben unterrepräsentiert sind, wobei in der Regel in der Unterschicht auch eine höhere Panelmortalität zu erwarten ist.

    Literatur

    Langer, R. (2014). Ungewollt unfairer Unterricht. Wie Lehrer/innen im schulischen Arbeitsalltag soziale Ungleichheit reproduzieren, ohne es zu bemerken. Erziehung und Unterricht,  166,  301-312.


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