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Neuromarketing

    In den nächsten Jahren werden sich sicherlich die meisten dieser „Erkenntnisse“ in Luft auflösen, da sie einer kritischen Überprüfung kaum dauerhaft standhalten. Doch selbst wenn die Wissenschaft die euphorischen Übertreibungen und Missverständnisse längst ad acta gelegt hat, dürfte so manche Scheingewissheit noch jahrzehntelang ihr Unwesen in den Köpfen der Menschen treiben. Schon heute gibt es einige Neuro-Mythen, die sich insbesondere in der Personalarbeit und Weiterbildung großer Beliebtheit erfreuen.
    Uwe P. Kanning

    Neuromarketing ist ein relativ neues und vor allem aus ethischen Gründen kontrovers diskutiertes Teilgebiet des Marketing, in dem psychologische und neuro-physiologische Erkenntnisse für das Marketing untersucht und interpretiert werden, ähnlich wie in den neuen Entwicklungen Neuroökonomie und Neurokommunikation. Ziel des Neuromarketings ist es, bislang unsichtbaren Zustände und Prozesse, die die Entscheidung eines potenziellen Konsumenten für oder gegen ein Produkt steuern, zu erforschen und sie in Beziehung zu sichtbarem Verhalten zu setzen. Es wird sogar beobachtet, welche Gehirnareale durch verschiedene Produktstimuli aktiviert werden. Mit Hilfe der „funktionellen Magnetresonanz-Tomographie“ (fMRT) wollen Forscher bis in die letzte Hirnwindung blicken, um herauszufinden, warum ein Käufer sich für welches Produkt entscheidet. Man möchte damit ein besseres Verständnis der Kognitionen und der affektiven Zustände und Prozesse im menschlichen Gehirn gewinnen, um dadurch den wahren Bedürfnissen und Wünschen von Konsumenten auf die Spur zu kommen. So ist innerhalb weniger Jahre weltweit ein neuer Forschungszweig entstanden: Neuro-Marketing, die Wissenschaft der Entstehung und Beeinflussung von Kaufentscheidungen. Interdisziplinäre Universitätsinstitute arbeiten etwa in Münster, Bonn, Berlin, Ulm oder München. Neuro-Marketing soll helfen, zu identifizieren, was Kunden gefällt: Erstmals können Wissenschaftler zeigen, welche Gehirnareale durch welche Markenreize wie stark aktiviert werden. Hilfe bei der Positionierung: Die Hirnforschung gibt Hinweise, wie Werber bestimmte Idealtypen ansprechen sollten. Bei „Hedonisten“ ist es wichtig, den innovativen Charakter eines Produkts und dessen Individualität zu betonen. Für „Bewahrer“ spielen Werte wie Sicherheit und Qualität eine größere Rolle. Mit dieser Typologie lassen sich Marken auf Zielgruppen hin ausrichten. Eingang finden ins relevant Set: Menschen legen reine Fakten über Marken im „semantischen Gedächtnis“ ab. Wichtiger noch ist die Verortung im „episodischen Gedächtnis“. Dort wird gespeichert, was aufgrund persönlicher Erfahrungen individuell relevant ist. Empfehlungen für die Gestaltung: Die Akzeptanz von Verpackungen, Produktdesign und Werbemotiven lässt sich „im Labor“ überprüfen. Marketer hoffen, so die Floprate bei Neueinführungen zu senken und Hinweise auf die bestmögliche Form der Werbung zu erhalten.

    Nach jüngsten Presseberichten soll sich eine Bank mittels des Neuromarketing und der Erstellung psychologischer Profile ihrer Kunden diese bewusst manipuliert haben. Um den Verkauf von Versicherungen und Aktien anzukurbeln, bediente man sich Typisierungen wie „Bewahrer“, „Genießer“, „Hedonisten“ oder „Abenteurer“, um je nach Typ in Wort- und Themenwahl der Gespräche mehr Einfluss auf die Kunden nehmen zu können, Siehe hierzu im Detail Kundentypologie des Neuromarketing.

    Neuromarketing ist nach ihren Protagonisten also eine Verbindung von Marketing und Wissenschaft, stellt ein ,Fenster’ zum menschlichen Gehirn dar und ist der Schlüssel zu dem, was den Kaufauslöser im Gehirn bewirkt: die unbewussten Gedanken, Gefühle und Wünsche, die alle Kaufentscheidungen bestimmen, die wir treffen.
    Heiko Ernst schreibt im Editorial von Psychologie Heute (2010/11) unter dem Titel “Sie wollen doch nur unser Bestes!” zum Marketing: “Die Sprache von Ad verrät, dass dabei jedes Mittel recht ist: Guerrilla-Marketing, virales Marketing, Ambush- Marketing, Targeted Marketing, Content-Marketing, Neuromarketing. Es geht also um Auflauern, Anschleichen, Infizieren, Überfallen, product placement, die Hirnforschung nutzen. Alles, um sich noch besser in unsere Wünsche, Lüste und Träume einnisten zu können und die ohnehin schwache Abwehr der Vernunft zu überwältigen. Diese ist durch das Ich repräsentiert, also jene psychische Instanz, die uns zu Mäßigung und Verzicht, zu Sparen und Aufschieben, zu Arbeit und Leistung anhält. Marketing, so könnte man definieren, hat das Ziel, das Ich nach Kräften auszutricksen.”

    In den Heilsversprechen des Neuromarketing für eine noch effektivere Werbung heißt es dann auch vollmundig: „Durch die Messung von Gehirnwellen können wir Aufmerksamkeit, Emotionen und Erinnerung messen. Wir kalkulieren also die Reaktion des Unterbewusstseins auf Reize“. Wirtschaftlich rechnen sich solche überzogenen und durch nichts belegte Behauptungen, denn mittlerweile arbeiten angeblich immer mehr Marktforschungsunternehmen mit solchen Methoden. Dabei ist der Ansatz von unterbewusster Werbung überhaupt nicht neu, denn schon vor mehr als fünfzig Jahren gab es erste Kritiker, die vor manipulativen Werbemethoden warnten, auch wenn damals diese Versuche ebenfalls in den meisten Fällen pure Behauptungen waren und in Experimenten wiederlegt wurden (Stichwort subliminale Wahrnehmung). Neuromarketing ist hier lediglich die aktuellste Ausformung, denn es war schon immer das Ziel jeder Werbung, den Menschen unter die Haut zu gehen.

     

    Roland Albrecht, Geschäftsführer der Heidelberger Markenberatung GoYa, beschreibt in der Zeitung HORIZONT vom 11. Januar 2016 Neuromarketing als eines von vielen Buzzwörtern in der Branche und hält ein Plädoyer gegen vermeintliche Wahrheiten und gegen die Neuro-Mythologie. Er versteht dabei unter Neuromarketing die Nutzung der Erkenntnisse der Hirnforschung, Psychologie, Ökonomie und anderer Disziplinen für das Marketing, wobei noch nie zuvor das Gehirn so viel Interesse gefunden hat. Da das Gehirn das zentrale Organ von Kauf- und Konsumentscheidungen ist, versprechen sich Neuromarketer bessere Einflussmöglichkeiten auf den Konsumenten. Neuromarketing ist dabei ein Produkt dieses Neurobooms und verspricht, mit der bisherigen Unschärfe des Marketings dank der Exaktheit der Naturwissenschaft aufzuräumen. Allerdings lassen sich all die Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften der letzten Jahre nur bedingt für das praktische Marketing nutzen, denn es handelt sich weitestgehend noch um Grundlagenforschung und damit um vorläufige Erkenntnisse. Das Wort Neuro ist selbst zu einer Marke geworden, die Naturwissenschaftlichkeit und damit Seriösität verströmt. Albrecht schreibt: „Aber die Neuromarketer agieren in einem ähnlichen Bezugsrahmen wie ein Arzt mit der Liste der Laborbefunde in der Hand. Sie vermarkten sich als Überbringer von scheinbar wissenschaftlichen Befunden und als Ratgeber, um die Dinge im Marketing-Lot zu halten oder wieder ins Lot zu bringen. So behaupten sie ex ante sagen zu können, ob eine Kampagne funktioniert, oder nicht. De facto kann das bis dato keiner. (…) Die Parole der angewandten Neurowissenschaften „Lass mich in den Kopf deiner Kunden schauen und ich sage dir, wie Werbung auf deine Kunden wirkt.“ hat sich bis dato weitestgehend als leeres Versprechen offenbart. So hat sich z.B. der berühmte sog. Buy-Button als Wunschdenken erwiesen – wir wissen heute, dass er nicht existiert. Aussagen wie „Wir können mit 85- bis 95-prozentiger Trefferqoute vorhersagen, ob Werbemaßnahmen erfolgreich sein werden oder nicht.“ Er resümiert, dass die Wahrheit, die die Neurowissenschaften und das Neuromarketing produzieren, eine sehr begrenzte ist und dass die Wahrheit, die außerhalb der Mauern des Neuromarketings existiert, eine andere ist, die (noch) ebenso gültig ist.

    Neuroleadership

    In letzter Zeit wird sogar von Neuroleadership gesprochen und versteht darunter einen Versuch, aus den Erkenntnissen der Hirnforschung einen umfassenden Führungsansatz für Manager abzuleiten. Dabei sind die Grundlagen von Neuroleadership nach Michael Hirt, einem Managementexperten, bloß ein Sammelsurium von unbewiesenen Thesen, teilweise bereits seit über hundert Jahren bekannten neuen Erkenntnissen, Binsenweisheiten und Selbstverständlichkeiten, die seit Jahrzehnten in diesem Bereich Best-Practice sind. Nicht zuletzt widersprechen die verschiedenen „wissenschaftlichen“ Ansätze des Neuroleadership wie auch zahlreiche Erkenntnisse der Neurobiologie einander und tragen damit mehr zur Verwirrung als zur Klärung bei. Man sollte sich daher nach Ansicht von Experten von solchen Modeerscheinungen wie etwa der Neuroleadership nicht hinters Licht führen lassen.

    Quellen
    https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/news/85/neuromarketing (10-09-06)
    http://www.psychologie-heute.de/editorials/heft1011.html (10-10-05)
    werben & verkaufen Nr. 18 | 2005
    http://www.haufe.de/personal/hr-management/wirtschaftspsychologie-neuro-mythen-in-der-personalarbeit_80_200922.html (13-12-21)


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