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Rekonsolidierung

    Das Konzept der Rekonsolidierung in der Gedächtnispsychologie besagt, dass jedes Aufrufen einer Erinnerung diese kurzzeitig in einen labilen Zustand versetzt, d. h., beim Abruf eine Erinnerung wird diese für kurze Zeit instabil, sodass dadurch das Gedächtnis aktualisiert werden kann, wodurch diese Erinnerung aber gleichzeitig auch manipulierbar ist. Daher trifft die Annahme, dass eine für einen Menschen bedeutsame Erinnerung über die Zeit nicht mehr verändert wird, nicht in allen Fällen zu.

    Demnach erlaubt es die Rekonsolidierung, das ursprüngliche Gedächtnis mit aktuellen Informationen auf den neuesten Stand zu bringen und auf diese Weise dazuzulernen. Daher lassen sich die Erinnerungen von Menschen durch das wiederholte Abrufen beeinflussen.

    Das Prinzip der Veränderbarkeit von Erinnerungen belegt auch, dass sich keine Erinnerung ganz in ihrer originalen Form abrufen lässt, da sie beim Versuch dabei durch die aktuellen Umstände beim Sicherinnern stets beeinflusst wird. Die Fähigkeit des menschlichen Gehirns, neue Informationen nach und nach zu integrieren, beruht daher letztlich auf der dem Gedächtnis inhärenten Unschärfe.

    Diese Rekonsolidierung ist auch die Basis für die Entwicklung kategorialer Gedächtnisinhalte, auch wenn im Gehirn alles ständig in Bewegung ist, kann man dennoch klare Gedanken fassen, was durch das Löschen bestimmter Gedächtnisinhalte erfolgt. Nur dadurch kann man prinzipielle, d. h., kategorische Erinnerungen aufbauen, denn wenn man etwa an seinen Vater denkt, an die erste Liebe oder auch an seine erste Wohnung, dann bildet man prinzipielle Erinnerungen in Form von Kategorien. Man speichert nicht die tausenden Variationen im Gesicht der Mutter ab, auch nicht das Licht, das jeden Tag anders in das Wohnzimmer gefallen ist, oder den Stuhl, der nie genau am gleichen Platz stand, all das bleibt nicht in der Erinnerung, sondern es wird an einer prinzipiellen Erinnerung an diese Sachverhalte geschrieben. Ohne solche Kategorien bilden zu können, würden Menschen in einer Flut von Déjà-vus ertrinken, würden ständig den Stuhl im Wohnzimmer sehen und sich jedes Mal sagen, dass man diesen Stuhl doch schon einmal gesehen hat.

    Diese Phase der Rekonsolidierung versucht man in jüngster Zeit bei Traumaopfern zu nutzen, um Flashbacks langsam zu verändern. Ein amerikanisches Forscherteam hat in Versuchen mit künstlich traumatisierten Mäusen eine Methode gefunden, die Symptome von Flashbacks in den Griff zu bekommen, indem das Einatmen von Xenongas die Erinnerung an traumatische Erlebnisse vorübergehend löscht. Xenongases blockiert die Andockpunkte der NMDA-Rezeptoren, die im menschlichen Gehirn Prozesse wie Lernen und Gedächtnis steuern. Gerade bei der Rekonsolidierung von angstvollen Gedächtnisinhalten spielen diese Rezeptoren eine Schlüsselrolle, sodass zumindest bei Mäusen die Erinnerungen an einen Schmerzreiz durch das Einatmen von Xenon manipuliert und anschließend in milderer Form wieder abgespeichert werden.

    Die Gedächtnis-Rekonsolidierung ist eine psychotherapeutische Methode, bei der man versucht, ein traumatische Erlebnis abzurufen und dann beim angeleiteten Wiedererleben in die Erinnerung therapeutisch einzugreifen. Diese Methode ist mit der Expositions- bzw. der kognitiven Verhaltenstherapie verwandt, wobei es mit dieser Methode der Gedächtnis-Rekonsolidierung gelingen kann, das Erlebte tolerierbar zu machen, indem man jedes Mal wenn der Gedächtnisinhalt abgerufen wird, die Möglichkeit nutzt, den Inhalt in positiver Weise zu verändern.


    Lifanov et al. (2021) haben in einer Untersuchung Assoziationen zwischen Verben und Objektbildern, und zwar unmittelbar nach der Exposition und nach einer zweitägigen Verzögerung, erfasst, wobei die Probanden und Probandinnen sich wie erwartet von Befragung zu Befragung an immer weniger Details erinnern konnten, d. h., je öfter sich die Teilnehmenden erinnern sollten, desto schneller wurden nebensächliche Aspekte wie etwa Farben vergessen. Schließlich konnten sie zuletzt nur noch den zentralen Kern eines Bildes wiedergeben. Die Reaktionszeiten beim sofortigen Abruf zeigten dabei, dass auf konzeptuelle Merkmale schneller zugegriffen wird als auf perzeptuelle Merkmale. In Übereinstimmung mit dem Semantisierungsprozess vergrößert sich also diese perzeptuell-konzeptuelle Lücke signifikant über die Verzögerung der Erinnerung. Eine signifikant kleinere perzeptuell-konzeptuelle Lücke fand sich auch in den verzögerten Abrufdaten einer Kontrollgruppe, die die Verb-Objekt-Paarungen am ersten Tag wiederholt studiert hatte, anstatt diese aktiv abzurufen. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Abruf und die Konsolidierung zusammenwirken, um Erinnerungen im Laufe der Zeit zu verändern, wobei bedeutungsvolle semantische Informationen gegenüber wahrnehmungsbezogenen Details gestärkt werden. Offenbar werden vom menschlichen Gedächtnis vor allem wirklich zentrale Informationen gespeichert, die später in ähnlichen Situationen noch einmal wichtig werden könnten.

    Literatur

    Lifanov, Julia, Linde-Domingo, Juan & Wimber, Maria (2021). Feature-specific reaction times reveal a semanticisation of memories over time and with repeated remembering. Nature Communications, 12, doi:10.1038/s41467-021-23288-5.


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