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Tip-of-the-Tongue-Phänomen

    Als Tip-of-the-Tongue-Phänomen, oder Zungenspitzen-Phänomen oder Wort-auf-der-Zunge-Phänomen, manchmal auch Presque vu, bezeichnen Psychologen jenes Erlebnis, dass ein Wort oder ein Name auf der Zunge liegt, aber nicht erinnert werden kann. Studien deuten auf zwei mögliche Erklärungen hin: In manchen Fällen zeigt die Gehirnaktivität, dass es sich um ein Abrufproblem handelt und das Gedächtnis kurzzeitig blockiert ist, in anderen Fällen liegt das Problem in der Art, wie das Gehirn Sprache verarbeitet, denn dann wird ein anderes, ähnlich klingendes Wort aktiviert und blockiert den Zugriff auf den eigentlich gesuchten Begriff. Meist ist dies ein gerade und häufig benutztes Wort, das den eher selteneren Begriff überlagert.

    Gelegentlich wird dieses Phänomen auch linguale Hemmung genannt. Man hat das Wort oder den Begriff nicht vergessen, sondern kann im Moment einfach nicht darauf zugreifen. Manchmal kann man sogar einige Angaben machen, wie zum Betonungsmuster, zum grammatischen Geschlecht, zur Silbenanzahl oder zum Anfangslaut des Zielwortes, aber es liegen nicht ausreichend viele Teilaktivierungen vor, um den Begriff als Ganzes auch hervorzubringen. Es kommt auch häufig vor, dass die erinnerten lautlichen Informationen ein vom Reim passendes, aber falsches Wort aktivieren, was die Aktivierung des Zielwortes zusätzlich erschwert. Menschen haben zwischen 20.000 und 60.000 Wörter im „mentalen Lexikon“ gespeichert, und nahezu immer gelingt es ihnen, daraus die aktuell benötigten Begriffe herauszulösen.

    Es kommt gelegentlich auch vor, dass ein Wort fehlt, weil im Gedächtnisspeicher der entsprechende Eintrag nie angelegt worden ist. Übrigens ist jedes Wort ist im mentalen Lexikon im Gehirn eines Menschen mehrfach codiert, denn neben der Bedeutung sind unter anderem auch klangliche und grammatische Einzelmerkmale eingetragen. Damit man den gewünschten Begriff tatsächlich parat hat, muss ein Mindestmaß dieser Merkmale aktiviert werden, d. h., wenn die Aktivierung nicht ausreicht, bleibt das Wort auf halbem Weg stecken. Oft drängen sich Alternativen zum gesuchten Begriff auf, gelegentlich führen diese sogar in die Irre. Eigennamen von Personen oder Orten sind besonders anfällig für die gedankliche Ladehemmung, denn Namen sind im Gehirn deutlich weniger vernetzt als konzeptuelle Begriffe wie Tisch, Auto oder Buch. Wörter, die nur selten benutzt werden, sind ebenfalls gefährdet, blockiert zu werden. In der Angewandten Psychologie finden sich dazu Experimente, in denen Menschen zwei dem gesuchten Begriff ähnlich klingende Wort genannt werden, bevor dann nach dem eigentlich Begriff gefragt wird.

    Übrigens findet sich dieses Phänomen in allen Sprachen, kommt bei Jugendlichen ebenso vor wie bei älteren Menschen, doch passiert es älteren Menschen häufiger als jüngeren, wobei mehr Eigennamen als sonstige Wörter betroffen sind.

    Die Ursache liegt darain, dass im semantische System sowohl die Bedeutungen von Begriffen als auch deren Klang abgebildet sind. Man hat auch untersucht, welche Region im Gehirn bei der Erinnerung eine Rolle spielt, und festgestellt, dass es sich um ein vorderes Areal der Schläfenregion handelt, die dafür verantwortlich ist, dass jene Informationen, die in unserem Gehirn gespeichert sind, auch abgerufen bzw. ausgesprochen werden können. Eine elektrische Stimulation in dieser Region konnte in Experimenten die Fähigkeit verbessern, sich wieder zu erinnern.

    Beim Wort-auf-der-Zunge-Phänomen wird zwar die lexikalische Bedeutung des gesuchten Begriffs aktiviert, was dieses intensive Gefühl auslöst, dass man diesen zwar sicher kennt, die phonologische Information aber, also der Klang des Wortes, wird nicht oder nur unvollständig abgerufen. So kommt es, dass oft die erste Silbe des gesuchten Wortes anklingt, die man dann mit weiteren zu ergänzen versucht. Man erlebt dieses Phänomen vor allem dann, wenn man nach Begriffen oder Wörtern gefragt wird, die man nur selten benutzt, denn das Gedächtnis arbeitet pragmatisch, denn die Verbindungen zwischen den Nervenzellen werden je nach Übung trainiert oder vernachlässigt, und können daher dementsprechend gut oder schlecht Signale übertragen. Begriffe, die man häufig braucht, lassen sich deshalb leicht abrufen, während was nicht so häufig gebraucht wird, allmählich gelöscht wird. Häufig benutzte Wörter haben eine stärker vernetzte, konzeptuelle Bedeutung, d. h., diese können im mentalen Lexikon von mehreren Netzknoten aus aktiviert werden und sind somit robuster abgesichert.


    Praktischer Tipp: Im Alltag findet sich dieses Phänomen häufig dann, wenn man knapp zuvor einen Begriff oder einen Namen gehört hat, der dem gesuchten war sehr ähnlich ist. Das Beste ist in diesem Fall, einige Zeit nicht daran zu denken, denn zwanghaftes Weitersuchen nach dem Begriff führt dazu, dass noch mehr damit verbundene Assoziationen als Hindernisse in den Weg gelegt werden. Wenn man sich an einen Namen nicht erinnern kann, kann man dem Gehirn auf die Sprünge helfen, indem man das Alphabet durchzugeht.


    Siehe dazu auch „Warum sich ältere Menschen bei der Wortfindung schwerer tun als junge„.

    Literatur

    Brown, Roger & McNeill, David (1966). The “tip of the tongue” phenomenon. Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior, 5, 325-337.
    Perfect, Timothy J. & Hanley, J.Richard (1992). The tip-of-the-tongue phenomenon: Do experimenter-presented interlopers have any effect? Cognition, 45, 55-75.


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